1. Kapitel *ü*

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Inzwischen waren über 3 Jahre vergangen seit diesem Sommertag, der, so schön er schien, das ganze Leben von Jane verändert hatte. Nun war sie 17 Jahre alt und besuchte die 12. Klasse. Sie würde noch dieses Schuljahr ihr Abitur machen und damit die Schule beenden. Von Natur aus war sie sehr fleißig und ehrgeizig, denn seit vielen Jahren hat sie nur einen einzigen Traum: Eines Tages einmal als Chirurgin im OP zu stehen. Doch dafür gab es nun einmal diesen verzwickten Numerus Clausus, der in den letzten Jahren einen Abiturschnitt von 1,0 erforderte oder - bei annehmbarer Wartezeit - noch 1,1. Darüber dachte sie immer und immer wieder nach. Ihre Noten waren in den meisten Fächern auch ausreichend gut, nur teils hatte sie Schwachpunkte. Besonders in Deutsch musste sie sich sehr anstrengen, um ihre hervorragenden Noten halten zu können. All das schwirrte ihr auch gerade durch den Kopf, als sie mal wieder wie jeden Tag vom Waisenhaus zur Schule ging. Sie schritt langsam über den Schulhof, als sie an der Eingangstür auf ein Schild aufmerksam wurde. Sie traute ihren Augen kaum, als sie folgende Worte las: „Französisch LK Klasse 12 wird vorübergehend von Frau Davis übernommen."

Verwundert und auch leicht besorgt betrat sie das Schulgebäude. Was war denn mit Frau Genser passiert, dass sie den Französisch LK nicht weiterführen konnte? Jane konnte sich nicht erinnern, dass die Lehrerin jemals eine Klasse so mitten im Schuljahr oder während der drei Oberstufenjahre abgegeben hatte, außer damals, als sie mit Leukämie im Krankenhaus lag. Schnellen Schrittes machte sich das Mädchen auf den Weg zu ihren Mitschülern. Unterwegs kam ihr ein Siebtklässler entgegen, den Jane aus dem Schulchor kannte, wo sie bis vor den letzten Sommerferien noch eifrig dabei gewesen war. Sie wusste, dass der Junge in Frau Gensers Klasse war und sprach ihn in der Hoffnung an, dass er etwas über diesen Vorfall wusste. Der Siebtklässler mit dem Namen Jakob erwiderte, dass die Lehrerin wohl ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. Mehr könnte er Jane aber auch nicht darüber sagen. Das Mädchen bedankte sich bei ihm und führte ihren Weg gedankenversunken fort. Frau Genser war also wieder im Krankenhaus! Die Lehrerin war vor einigen Jahren an Leukämie erkrankt und behandelt worden, anscheinend auch geheilt, doch womöglich hatte sie einen Rückfall. Weshalb sollte sie auch sonst wieder in die Klinik eingeliefert worden sein. All diese schlimmen Gedanken schwirrten der 17-Jährigen durch den Kopf und ließen ihre Miene immer sorgenvoller wirken. Als Melina, die immer noch ihre beste Freundin war, kam, diskutierten die beiden über die verschiedenen Möglichkeiten und versuchten dabei, nicht gleich das Schlimmste zu befürchten. Doch weder sie noch der Rest der Klasse konnten sich den plötzlichen Krankenhausaufenthalt der beliebten Lehrerin erklären.

Gemeinsam gingen sie zu Raum 203, wo kurz darauf die erste Stunde begann. Glücklicherweise war es Französisch LK bei Frau Davis, denn so konnten die Schüler die Vertretungslehrerin nach dem aktuellen Stand der Dinge fragen und brauchten nicht mehr zu spekulieren. Nach der Begrüßung sprach diese: „Wie ihr sicher wisst, übernehme ich für eine Zeit - wie lange ist noch ungewiss - den Kurs von Frau Genser! Sie wurde am Freitagnachmittag mit erneuten Symptomen von Leukämie ins Rheinkrankenhaus eingeliefert. Natürlich hoffen wir alle, dass sie so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommt, aber auch dieser Zeitraum muss überbrückt werden. Vor allem, weil ihr ja dieses Schuljahr noch Abi macht." Die Klasse nickte verständnisvoll, aber auch sehr geschockt über diese schrecklichen Nachrichten, denn die schlimmsten Befürchtungen aller waren wahr geworden. Damit war ihnen die beginnende Schulwoche gründlich verdorben. Unkonzentriert fing Frau Davis mit dem Thema an. Auch die Gedanken der Lehrerin schienen nicht recht bei der Sache zu sein. Zwei quälende Schulstunden waren vorübergegangen und der Französisch LK konnte sich nun endlich wieder mit dem Rest der Stufe in der großen Pause über die Neuigkeiten austauschen.

Jane war im Gegensatz zu den anderen, die alle eifrig diskutierten, wie lange Frau Genser wohl ausfallen würde, auffällig still. Ihr tat Frau Genser aufrichtig leid, sie mochte die Lehrerin, diese war immer für sie da gewesen und hatte sie bisher sehr unterstützt. Sie kannte die Französischlehrerin schon seit der 5. Klasse. Da fasste das Mädchen den Entschluss, noch heute nach der 8. Stunde nicht sofort ins Waisenhaus, sondern erstmal ins RKH zu gehen, um ihre Lehrerin zu besuchen. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt ertönte auch schon die Schulklingel und kündigte die nächste Unterrichtsstunde an. Der Unterricht schien ewig zu dauern, wie Kaugummi zog er sich dahin und ließ Jane gelangweilt aus dem Fenster schauen. Sie war mit ihren Gedanken überhaupt nicht mehr bei der Sache. Die Klassenräume waren mit einer leichten Herbstschwüle gefüllt und kaum jemand konnte sich ernsthaft konzentrieren. Doch da ertönte endlich die erlösende Klingel, die das Ende der 8. Stunde verkündete. Jane warf ihr Mäppchen in die Tasche, schnappte sich die Jacke und ihren Ordner und mit einem hastig in Melinas Richtung gemurmelten „Tschüss" war sie verschwunden. Sie verließ das Gebäude im Eilschritt und rannte die Straße entlang, bis nach wenigen Minuten das RKH mit der großen Wiesenanlage und dem eindrucksvollen Blick auf den Rhein vor ihr auftauchte. An der Pforte erkundigte sie sich nach der Zimmernummer. „3008", erklärte die Empfangsdame ihr und deutete auf das Schild, auf dem „3. Stock" zu lesen war. Jane hastete durch das Gebäude, in dem sie sich schon sehr gut auskannte, denn sie hatte schon öfter ihre Lehrerin besucht, als diese erstmals wegen Leukämie dort lag. Vor der Tür mit dem Plastikschildchen „3008" blieb sie stehen. Ihr Herz pochte, als sie langsam ihre Hand zu einer Faust formte, sie in Richtung der Tür bewegte und sich endlich dazu durchringen konnte, anzuklopfen. „Herein!", erklang es aufmunternd.

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