Es verging wieder eine Woche, in der Jane sehnsüchtig das Wochenende erwartete, an dem sie genügend Zeit für Besuche im Krankenhaus und Unternehmungen mit ihrer Adoptivmutter hatte. Dann war das Wochenende endlich da. Am Samstagmorgen wachte Jane von den Sonennstrahlen auf, die ihr ins Gesicht schienen. Sie blickte verschlafen auf ihren Wecker und rieb sich die Augen. Schon fast halb zehn. Für ihre Verhältnisse hatte sie sehr lange geschlafen. Da sie am gestrigen Abend alle Hausaufgaben erledigt hatte, wollte sie heute einmal länger Frau Genser besuchen. Jane sprang bei dem Gedanken aus dem Bett und machte sich fertig. Sie aß eine Schale mit Müsli zum Frühstück und gegen elf Uhr vormittags ging sie los in Richtung Krankenhaus. Es versprach ein guter Tag zu werden, als sie vor die Haustür trat. Eine kleine Melodie vor sich hinpfeifend ging sie die Gassen entlang und stoppte vor der Eingangstür des Krankenhauses. Mit dem Aufzug fuhr sie in den dritten Stock und lief zum Zimmer°3008°. Sie klopfte an. Einmal, dann ein zweites Mal. Doch heute erklang hinter der Tür kein mehr oder weniger fröhliches "Herein".Sanft drückte Jane die Klinke runter und öffnete die Zimmertür einen Spalt. Gerade so weit, dass sie hinein sehen konnte. Sie hatte sich nicht getäuscht. Das Krankenzimmer war leer. Was nun? Sie rannte zum Schwesternzimmer und pochte an die Glastür.
Eine junge Krankenschwester kam hinaus. "Wie kann ich dir helfen, Jane?""Ich möchte zu Frau Genser, aber sie ist nicht in ihremZimmer.",erwiderte die Angesprochene mit aufgeregter Stimme. "Estut mir leid dir dies sagen zu müssen, aber Frau Genser wurde verlegt. In das Hospiz hier in der Stadt. Sie hat womöglich nur noch wenige Tage zu leben." "WAS? Das ist doch nicht wahr, oder?",schrie Jane aus. Tränen liefen über ihre Wangen und sie rannte blind vor Schmerz aus der Klinik. Die Straße runter, die nächste rauf und da tauchte auch schon das Johannes-Hospiz vor ihren Augen auf. Angstvoll schritt sie durch die Eingangstür zum Empfang und sprach die etwas rundliche Frau an. "Entschuldigung, wo kann ich Frau Genser finden?" Diese antwortete ihr:"In Wohnung 5, das ist die erste links im zweiten Stockwerk." Ein hastig gemurmeltes Dankeschön und Jane war verschwunden. Sie hastete dieTreppe hinauf und fand sich plötzlich im zweiten Stockwerk wieder. "Die erste links",murmelte sie vor sich hin und sie stoppte vor einer altmodischen Holztür. Ihre Hände umschlossen die Türklinke. Nach einem kurzem Moment des Zögerns drückte sie sie feste runter und öffnete die Tür gerade so weit, dass sie problemlos hindurchschlüpfen konnte. Ihre Augen sahen sich in dem freundlichen, mit Wintersonne beleuchteten Zimmer um. Das große, bis zum Boden reichende Fenster gegenüber der Tür war gekippt und ließ die kalte Luft hinein. Schnell schloss Jane die Türe hinter sich, ihre Lehrerin sollte auf ihre letzten Tage nicht noch eine Grippe bekommen.
"Hallo Jane, ich dachte mir, dass du hier auftauchen würdest!",erklang es von dem Sessel, der zum Fenster gewandt stand. Die Schülerin war ein wenig erstaunt und fragte auch sogleich, woher Frau Genser denn weiß, dass sie es ist. "Dasist so ein Gefühl. Na und weil du jeden Tag kommst, dachte ich, dass du garantiert der erste Besucher hier sein wirst." "Ach so"Jane war immer noch ein bisschen verwirrt, ließ sich aber auf einemStuhl vor dem Fenster nieder. Leicht geschockt war sie, als sie nun in das Gesicht der Kranken blickte. Es war seit dem gestrigen Besuch aschfahl geworden, die Wangen waren eingefallen und die Knochen traten heraus. "Wieso sind Sie hier? Gibt es keine Lösung mehr?",meinte Jane aufgeregt. "Nein, Kleine, die Ärztesagen, wenn bis innerhalb 72 Stunden kein passender Spender gefunden ist, dann ist keine Fünkchen Hoffnung mehr. Auch Medikamente können den Tod nicht länger als ein paar Tage herauszögern, wenn ich schon so schwach bin",erklärte ihr die Lehrerin mit leiser Stimme. Bei dem Wort "Tod" zuckte Jane merklich zusammen. Frau Genser spürte es und nahm ihren Arm. Sie zog das Mädchen auf ihren Schoß und hielt sie ganz, ganz fest. Jane schloss die Augen und lauschte dem Pochen des Herzens, es schlug, aber wenn kein Wunder passierte nur noch wenige Tage. Sie seufzte laut auf. "Es wird alles gut meine Kleine",sprach die Lehrerin beruhigend auf sie ein. "Gut? GUT?",schrie Jane nun aufgebracht. "Nichts wird gut und das wissen Sie auch ganz genau." Die 17-Jährigesprang auf und rannte zur Tür hinaus, welche mit einem ohrenbetäubenden Knall zu fiel. Sie lief und lief. Die Treppe hinunter, am Empfang vorbei. Hinaus in die kühle Abendluft. Langsam beschwichtigte diese ihr erhitztes Gemüt und sie machte sich auf denWeg zum Krankenhaus. Als sie dort angekommen war sprach sie den erstbesten Arzt an, der ihr über den Weg lief. Seit dem letztenGespräch und der Untersuchung ihres Blutes war nun über eine Wochevergangen. Seit drei Tagen nahm sie bereits Hormonspritzen und wurde gründlich auf die Spende vorbereitet. Übermorgen würde ihr großer Tag sein. Sie hatte endlich ihren 18. Geburtstag.
Sie begegnete auf dem Krankenhausflur Dr. Kleie. "Fräulein Fränkhausen, wieso ist es keine Überraschung, Sie hier zu sehen?", lächelte er etwas gezwungen. "Dr. Kleie, ich wollte mich erkundigen, ob ich denn übermorgen spenden kann? Das ist mein 18. Geburtstag und FrauGenser braucht diese Spende doch so dringend." "Ich habe selber auch schon darüber nachgedacht, ja. Ich denke, wir werden keinerlei Probleme haben. Sie sind dann erwachsen und ihre Therapie auch schon fast 6 Tage am Laufen, das müsste definitiv reichen. Kommen Sie morgen Abend nochmals mit Ihrer Mutter vorbei und lassen Sie uns das weitere Vorgehen besprechen. Jane machte einen Freundensprung. Sie bedankte sich und wünschte ihm noch einen schönen Abend. Mit etwas Erleichterung auf dem Gesicht machte sie noch einen kurzen Abstecher zu Frau Genser, um ihr die Neuigkeiten persönlich mitzuteilen. Diese war sehr erfreut über die Mühen ihrer Schülerin. Gegen sechs Uhr abends war Jane wieder im Waisenhaus. Sie rief Frau Gress an und bat sie vorbeizukommen. Die beiden sprachen noch bis spät in die Nacht miteinander. Dann verabschiedete sich Frau Gress von ihr mit einer leichten Umarmung und fuhr davon. Jane winkte ihr noch und ging dann nachdenklichzurück ins Haus. Trotz aller Erwartungen schlief sie fast sofort ein, der Tag war wohl doch sehr anstregend gewesen, musste sie im Nachhinein feststellen.
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Home Is A Person *wird überarbeitet*
Ficção AdolescenteAls Jane vor einigen Jahren ihre Eltern bei einem Autounfall verlor, wurde ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Nach einer langen Phase des Trauerns fand sie zwar ihre Lebenslust wieder, aber eine Familie blieb ihr seitdem dennoch verwehrt. Doch...