KAPITEL 2
Der erste Dezembertag brach an. Es war der Freitag, der das erste Adventswochenende einläutete. Susan hatte die letzte Nacht kaum geschlafen. Die Geschehnisse des vorangegangenen Tages hatten ihr einfach keine Ruhe gelassen und ihr somit den Schlaf geraubt. Trotzdem war sie hellwach, als sie an jenem Morgen aus dem Bett stieg, um sich für den letzten Schultag der Woche fertig zu machen. Zu ihrer großen Freude hatte sie freitags nur vier Unterrichtsstunden zu halten und konnte dann schon wieder nach Hause fahren. An diesem Tag hatte sich Susan jedoch etwas Anderes für die Zeit nach dem Unterricht vorgenommen. Sie konnte es kaum noch erwarten, Andrea den genauen Verlauf des Gesprächs mit der Heimleiterin und Jane zu erzählen. Nach Beendigung der vierten Unterrichtsstunde machte sie sich sofort auf den Weg ins Krankenhaus zu ihrer Kollegin. Aufgeregt klopfte sie an die Tür zum Krankenzimmer und drückte die Klinke hinunter, ohne auf ein „Herein" von drinnen zu warten. Andrea Genser erholte sich gerade von ihrer vormittäglichen Chemotherapie, als Susan ins Zimmer stürmte. „Guten Morgen, Susan", begrüßte Frau Genser ihren Besuch mit matter Stimme. Susan antwortete daraufhin: „Hallo Andrea, ich hoffe, es geht dir einigermaßen gut. Hast du die Chemo heute Morgen gut vertragen?" „Es geht so. Mir ist immer noch ziemlich übel, aber ich bin voller Zuversicht, dass das bald wieder vorbeigeht. Spätestens, wenn die nächste Runde bevorsteht, ist es wahrscheinlich deutlich besser.", versuchte sie die Situation humorvoll zu nehmen. „Aber nun zu dir, Susan. Du siehst aus, als hättest du spannende Neuigkeiten zu erzählen." „Oh, die habe ich wirklich. Ich hatte gestern ein Gespräch mit Jane und ihrer Heimleiterin, aber das weißt du sicher schon." „Ja, in der Tat. Jane hat es mir bei ihrem gestrigen Besuch erzählt. Es tat ihr leid, dass sie aus diesem Grund so schnell wegmusste. Ist es denn gut gelaufen?" „Oh, es war ganz wunderbar. Wir konnten schon einige Formalitäten für die Adoption regeln und die Heimleiterin hat versprochen, dass sie sich bereits heute mit dem Jugendamt in Verbindung setzen wird. Es fehlt leider noch deren Einschätzung. Wir hoffen natürlich, dass die uns keine Steine in den Weg legen." „Das hoffe ich für euch auch. Ich habe eine gute Freundin, die beim zuständigen Jugendamt arbeitet. Wenn du möchtest, kann ich mal mit ihr reden und ein gutes Wort für euch einlegen. Dann wird sich die Sache sicher schnell regeln lassen." „Das wäre wirklich lieb von dir. Kontakte sind immer gut bei solchen Angelegenheiten. Aber mach dir bitte keine Umstände, schließlich bist du krank und musst dich von deiner Chemo ausruhen. Auch wenn der nächste Termin für die Chemo erst wieder in zwei Wochen ist, du brauchst all deine Kräfte", erwiderte Susan mit leichter Besorgnis. „Mach dir darüber keine Gedanken. Ich helfe euch wirklich gern und Maria kommt mich sowieso ab und an besuchen. Ich rufe sie einfach später mal an und frage sie, ob sie nicht morgen mal spontan vorbeikommen möchte. Ihr letzter Besuch ist auch schon fast drei Wochen her, da wird sie gerne kommen. Ich rede mit ihr darüber und gebe dir dann Bescheid, wenn du das nächste Mal da bist." „Danke, Andrea, das ist wirklich sehr lieb von dir." „Aber nun erzähl mal, was sagt Martin eigentlich zu der ganzen Sache? Du hast doch hoffentlich mit ihm darüber gesprochen, dass er bald eine Schwester bekommt." „Wenn ich ehrlich sein soll, das ging jetzt alles so überstürzt innerhalb von zwei Tagen, da hatte ich einfach noch keine Zeit, mit ihm zu reden. Ich muss sogar zugeben, dass ich an Martin gar nicht gedacht habe. Aber natürlich hast du recht, er muss es erfahren." „Du solltest nicht allzu lange damit warten, Susan. Ich weiß zwar, dass du Jane auf jeden Fall adoptieren wirst, egal, was Martins Meinung dazu ist, aber er hat ein Recht darauf, es so früh wie möglich zu wissen. Immerhin ist er dein leiblicher Sohn, auch wenn er so weit entfernt lebt." „Ja, das stimmt. Ich möchte es ihm jedoch am liebsten persönlich mitteilen. Am besten rede ich mit ihm darüber, wenn er am dritten Adventswochenende zu Besuch kommt." „Susan, das ist erst in zwei Wochen. Willst du wirklich so lange damit warten? Ruf ihn doch schon mal an. Dann kann er sich darauf vorbereiten und du kannst ihm an dem Wochenende Jane vorstellen, ohne dass er gleich einen Schock bekommt." Susan schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ich wüsste nicht, wie ich ihm das am Telefon sagen sollte. Ich kann schlecht hingehen und sagen, hey, du kriegst übrigens eine Adoptivschwester." Andrea zuckte verständnislos mit den Schultern. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter auf Susan einzureden. Ihre Freundin würde es nicht verstehen und auf ihrer Meinung beharren. Für solche Diskussionen fehlte ihr im Moment einfach die Kraft. Susan merkte, dass ihre Kollegin kapitulierte und fügte noch schnell hinzu: „Ich weiß, dass du mir am liebsten sagen würdest, dass es mir bei einem persönlichen Treffen mit Martin auch nicht leichter fallen wird, von Jane zu erzählen, aber ich kann es jetzt einfach noch nicht. Ich habe Angst, dass ich mich von ihm oder Jonathan umstimmen lasse, wenn es einem von ihnen nicht in den Kram passt. Aber die Sache mit Jane ist ganz allein meine Entscheidung und ich möchte auch, dass das so bleibt. Da hat weder mein Sohn noch mein Exmann mitzureden, besonders, da Martin sowieso nur selten bei mir ist und Jonathan alles tut, um ihn für sich zu beanspruchen. Soll der Junge bei seinem Vater bleiben, das ist mir egal. Aber ich möchte meine kleine Jane haben." Andrea nickte schweigend und lehnte sich tiefer in ihr Kissen. Die Übelkeit war unerträglich geworden. Sie hasste die Nebenwirkungen der Chemotherapie und hoffte, dass sie bald ein bisschen schlafen konnte, um so wenig wie möglich davon mitzubekommen. Susan bemerkte ihre Erschöpfung und sprach: „Es tut mir leid, ich wollte dich gar nicht so lange aufhalten. Das ist wahrscheinlich wahnsinnig anstrengend für dich gewesen. Du hast einen harten Vormittag hinter dir und dann komme ich und muss diskutieren. Ich werde dich jetzt in Ruhe lassen, Jane kommt nachher auch noch zu Besuch, da solltest du ein bisschen fitter sein. Ich hoffe, das ist nicht zu viel für dich, wenn du so eine Menge Besuch heute hast." Andrea verneinte und ihre Augen leuchteten bei dem Gedanken an das Mädchen auf. Janes Besuche waren ihr persönliches Highlight und würden es auch immer bleiben. „Nun gut, ich wünsche dir einen geruhsamen Tag und hoffe, dass die Nebenwirkungen bald wieder nachlassen werden. Wir sehen uns bestimmt in den nächsten Tagen wieder. Und vielen Dank, dass du mit der Frau vom Jugendamt sprechen möchtest." Kein Problem. Ich rufe dich an, wenn ich etwas von Maria gehört habe. Bis bald, Susan." Andrea Genser blickte ihrer Kollegin nach, wie sie aus dem Raum huschte. Die Tür schloss sich mit einem leisen Knacken. Frau Genser seufzte hörbar erleichtert auf. Nicht nur die Übelkeit hatte ihr in den letzten Minuten des Gesprächs deutlich zu schaffen gemacht, auch das Thema Jane war für sie ein wunder Punkt. So sehr sie sich auch für ihre Freundin freuen wollte, dass Jane nun ihre Tochter würde, sie schaffte es einfach nicht. Sie liebte Jane abgöttisch, doch das konnte sie dem Mädchen nicht sagen und Susan schon gar nicht. Die beiden waren so glücklich, sich gefunden zu haben und passten offenbar perfekt zueinander. Sie waren die perfekte Familie. Außerdem würde Jane auch keine kranke Mutter wollen, die womöglich bald sterben musste. Andrea wusste, dass sie dem Mädchen nicht das Zuhause bieten konnte wie Susan und auch wenn Jane sie gerne täglich besuchte und sich liebevoll kümmerte, sie brauchte ein Heim voller Geborgenheit. Ungewissheit wäre da fehl am Platz. Verärgert wischte sich die Lehrerin eine Träne aus dem Gesicht, die sich ihren Weg über die Wange gebahnt hatte. Sie drehte sich im Bett um und starrte aus dem Fenster. Mit aller Kraft verwarf sie jeglichen Gedanken an Jane und Susan und zog die Bettdecke bis zum Hals, um endlich ins Reich der Träume abzudriften. Stunden später erst wurde sie wieder wachgerüttelt durch ein Geräusch vor der Tür. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sie die ihr so vertraute Stimme ihrer Schülerin hörte, die sich auf dem Gang mit einer der Schwestern zu unterhalten schien. Glockenhelles Lachen trat an ihre Ohren, was dann überging in ein Klopfen an ihrer Zimmertür. Jane betrat den Raum mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Hallo Frau Genser, wie geht es Ihnen?", fragte sie freudestrahlend und ließ sich auf einem Stuhl am Fenster nieder. Erwartungsvoll blickte sie ihre Lehrerin an. „Jane, wie schön, dass du da bist. Mir geht es jetzt schon viel besser. Die Chemo heute Morgen hat mich erstmal ganz schön mitgenommen, aber ich konnte ein bisschen schlafen bis eben und mich dadurch zumindest teilweise davon erholen. Gerade geht tatsächlich auch die Übelkeit deutlich besser." „Das ist toll. Ich bewundere Sie dafür, wie Sie das hier durchstehen. Ich würde wahnsinnig werden, insbesondere, wenn mir nahezu die ganze Zeit so übel wäre." „Ach, was will man denn machen. Wenn ich jetzt anfangen würde, alles nur noch pessimistisch zu betrachten, kann ich auch direkt meine Beerdigung planen." Schulterzuckend gab Jane ihr recht. „Trotzdem, ich weiß nicht, ob ich das so könnte. Sie haben schon wirklich sehr viel Optimismus und Kampfeswillen." „Danke für das Kompliment. Aber nun erzähl mal von gestern. Susan war zwar heute schon hier und hat mir ein bisschen was aus ihrer Perspektive erzählt, aber ich will natürlich auch deine Sicht dazu hören." Janes Augen begannen zu strahlend, als sie in ihrem Kopf den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren ließ und dann zum Reden ansetzte: „Gestern war für mich irgendwie der schönste und traurigste Tag zugleich. Einerseits hat sich mein größter Wunsch begonnen, zu erfüllen, aber andererseits musste ich feststellen, wie schwer es mir fallen wird, das Heim zu verlassen und ein neues Zuhause zu akzeptieren. Trotzdem bin ich mir sicher, es ist die absolut richtige Entscheidung und ich freue mich so unbändig auf das, was kommt und ganz besonders darauf, Frau Gress besser kennenzulernen und privat mit ihr Zeit zu verbringen. Das Gespräch mit der Heimleiterin hat wirklich Vieles bereits in Gang gebracht und ich hoffe sehr, die Adoption wird reibungslos verlaufen können. Ich bin so aufgeregt, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Es ist wie Weihnachten und Geburtstag und Ostern an einem Tag. Nur noch schöner!" Frau Gensers Gesichtszüge erhellten sich, als sie die ehrliche Freude des Mädchens aus ihren Worten heraushören konnte. „Das ist so wunderbar. Ich freue mich so sehr mit dir und ich habe schon zu Susan gesagt, ich habe eine Freundin beim Jugendamt. Die werde ich darauf ansetzen, dass ihr möglichst freie Bahn habt ohne und große Probleme die Adoption durchführen könnt." „Das ist ja echt super! Vielen lieben Dank dafür. Übrigens werde ich mich gleich mit Frau Gress treffen. Das erste Mal so richtig privat und ohne Verpflichtung. Einfach nur wir beide zum besseren Kennenlernen. Das wird bestimmt klasse!", entgegnete Jane aufgeregt. „Na dann wünsche ich euch viel Spaß dabei. Du wirst es lieben, mit ihr Zeit zu verbringen, das weiß ich jetzt schon. Ihr passt wirklich zusammen wie die Faust aufs Auge. Absolut gesucht und gefunden, glaub mir." „Davon bin ich überzeugt. Ich weiß jetzt schon, dass sie der wunderbarste Mensch ist, den ich kenne und die beste Mutter sein wird, die man sich vorstellen kann." Jane blieb noch eine Weile, bevor sie sich um kurz vor halb sechs auf den Heimweg machte. Glücklicherweise war es vom Krankenhaus nur ein kurzer Fußmarsch, sodass sie pünktlich zur verabredeten Zeit ankam. Leicht außer Atem ließ sie ihren Blick über den Hof vor dem Haus schweifen, um zu sehen, ob Frau Gress' Auto bereits irgendwo zu sehen war. Das schien allerdings noch nicht der Fall zu sein, weshalb Jane in aller Ruhe ins Haus ging, um sich noch einmal frisch zu machen und ihre Schultasche wegzuräumen. Kaum waren die letzten Handgriffe erledigt, hörte sie wie die Heimleiterin nach ihr rief und ihren Besuch ankündigte. Jane öffnete die Tür und trat auf den Flur als Frau Gress auch schon die Treppe hochkam. „Jane, ich freue mich so, dass es endlich geklappt hat und wir uns mal ganz ungezwungen treffen können.", begrüßte sie die Schülerin. Jane strahlte sie an und nickte. „Ja, ich bin auch so froh, dass Sie jetzt hier sind. Kommen Sie doch herein, ich zeige Ihnen mein kleines Reich." Susan Gress betrat erwartungsvoll den Raum während Jane die Tür hinter ihr schloss. „Schön hast du es hier." „Ja, es ist wirklich ein toller Rückzugsort für mich. Ich habe hier alles, was ich brauche. Ich kann mir selbst etwas kochen und habe ein eigenes Bad. Wenn ich meine Ruhe haben möchte, kann ich hier ganz für mich sein und muss nicht mit all' den anderen hier aufeinandertreffen", entgegnete Jane zustimmend. „Ein echt toller Vorteil. Und du hast auch eine sehr schöne Aussicht. Mir war gar nicht bewusst, dass man hier ja schon so weit oben gelegen ist, dass man über die Häuser fast bis zum Rhein schauen kann. Wirklich toll!" Frau Gress war sichtlich begeistert, nachdem sie einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte. Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder und sah Jane liebevoll an. „Es ist so schön, endlich sehen zu dürfen, wie du lebst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich mir das schon gewünscht habe. Ich habe es mir immer versucht, vorzustellen, aber dass ich jetzt hier bin, das ist das Beste, was mir passieren konnte." „Ich freue mich auch wirklich sehr, dass mit Ihnen zu teilen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen mal ein paar Fotos von mir zeigen und Ihnen ein bisschen was über meine Vergangenheit und über mich erzählen." Frau Gress nickte enthusiastisch, woraufhin Jane zu ihrem Bücherregal trat und ein großes graues Fotoalbum herauszog. „Das Album habe ich angefertigt, als meine Eltern starben. Ich habe damals alle Fotos, die existierten sortiert und wollte sie gerne wertschätzen." „Das kann ich gut verstehen", meinte ihre Lehrerin mitfühlend und strich über den stoffüberzogenen Einband. Jane schlug die erste Seite auf. Dort waren ihre Eltern zu sehen. Sie machten einen Strandurlaub in Italien und bei der sehr schlanken Frau deutete sich bereits eine erste Wölbung des Bauches an. „Da war meine Mama schon schwanger. Es war der letzte Sommerurlaub, den die beiden zu zweit hatten." Jane schlug ein lpaar Seiten weiter. „Schauen Sie hier, das ist das Foto nach der Geburt. Da war ich wirklich noch sehr winzig und ich hatte kaum Haare." „Kann man jetzt nicht mehr behaupten", lachte Frau Gress mit einem Blick auf die dunklen Locken. „Nein, das ist wahr", stimmte Jane in das Lachen mit ein. Die beiden verbrachten die nächsten zwei Stunden damit, sich intensiv Fotos anzuschauen aus Janes Kindheit. Frau Gress schien die Informationen über ihre Schülerin aufzusaugen wie ein Schwamm und stellte zu fast allen Fotos interessierte Fragen. Den Abend beendeten sie mit einer gemeinsamen Kochaktion, wobei sie viel Spaß hatten. Zum Abschied nahm Jane ihre Lehrerin in den Arm. „Es war schön, dass Sie da waren. Ich hoffe, wir können das bald mal wiederholen." „Das hoffe ich auch. Mir hat es auch wirklich gut gefallen bei dir. Aber ich würde sagen, du musst dann demnächst auch unbedingt mal mich besuchen kommen. Was sagst du?" „Klar, gerne." Die beiden verabschiedeten sich voneinander und Susan Gress verschwand. Jane legte sich hundemüde ins Bett und lächelte beim Einschlafen vor sich hin.
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Home Is A Person *wird überarbeitet*
Teen FictionAls Jane vor einigen Jahren ihre Eltern bei einem Autounfall verlor, wurde ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Nach einer langen Phase des Trauerns fand sie zwar ihre Lebenslust wieder, aber eine Familie blieb ihr seitdem dennoch verwehrt. Doch...