"Es tut mir leid, Jane. Die Verletzungen waren schwer und die Sanitäter kamen ganz knapp zu spät. Sie ist schon am Unfallort gestorben"Das Mädchen stieß einen Schrei aus, dann schlug sie um sich. "Nein,nein! Das ist nicht wahr!" Jane ergriff das erstbeste was sie fand, eine alte Spritze und versuchte auf Frau Genser loszugehen."Lügnerin!",schrie sie aus vollem Hals. Jane hyperventilierte. Eine Schwester erkannte die Situation und schnallte Jane ans Bett. Ein kleiner Pieks und das Mädchen verfiel erneut ins Reich der Träume. Die Lehrerin saß reglos da. Stumme Tränen liefen ihr übers Gesicht. Nach einigen Stunden wachte Jane auf. Frau Genser hatte sich nicht von der Stelle gerührt und auf ihren Wangen konnteJane immer noch die Spuren der vergossenen Tränen erkennen. Die erste Verwirrung legte sich und das Mädchen setzte sich auf. Langsam fügten sich in ihrem Kopf die Szenen wie einzelne Puzzleteile Stück für Stück zusammen. Durch die Nachwirkung der Beruhigungsspritze war sie zu schwach, um sich erneut gegen die Tatsachen zu wehren. Frau Genser, die inzwischen mitbekommen hatte, dass das Mädchen aufgewacht war, legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Arm. Jane zuckte unter der Berührung und zog ihren Arm blitzschnell weg. "Jane, Liebes, bitte hör mir zu",versuchte die Lehrerin an die angehende Studentin heranzukommen. Doch diese schaltete ab und starrte regungslos auf einen Punkt an der Wand. Frau Genser seufzte und spürte, wie die Tränen wieder in ihre Augen stiegen. "Deiner Mutter geht es nun viel besser. Sie hat keine Schmerzen mehr. Sie würde nicht wollen, dass du dich nun so schlecht fühlst." Jane wusste, das ihre Lehrerin mit diesen Worten recht hatte, aber sie wollte es sich nicht eingestehen. Die beiden schwiegen eine Weile, dann durchbrach Jane die Stille. "Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Ich wollte Sie nicht anschreien, ich wollte Sie nicht dafür verantwortlich machen. Es ist mir einfach so herausgerutscht.Es tut mir wirklich aufrichtig leid." Frau Genser nickte und der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht. "Ich weiß, meine Kleine, ich weiß. Es ist okay!" Als Jane ihren geliebten Kosenamen hörte, warf sie sich in die Arme ihrer ehemaligen Lehrerin und weinte bittterlich. "Shhh, alles wird gut. Ich bin da. Alles wird gut, Kleines.",flüsterte Frau Genser. So saßen sie noch eine Weile, und als Jane sich wieder beruhigt hatte, sagte sie: "Was soll denn nun werden. Ich kann doch so nicht weiterstudieren. Ich werde mein Studium abbrechen beziehungsweise gar nicht richtig beginnen." "Jane, jetzt hör mir mal gut zu. Das kommt überhaupt nicht in die Tüte." "Ich kann und will jetzt nicht alleine in eine fremde Stadt, wo ich niemanden außer Daniel kenne, den ich auch erst gestern zum ersten Mal gesehen habe.Ich brauche meine vertraute Umgebung, vertraute Personen. Ich brauche Sie." Frau Genser presste das Mädchen fest an sich. Dann sprach sie: "Ich werde eine Lösung finden. Ich glaube, ich habe sogar schon eine. Lass dich überraschen, ich komme bald wieder. Bis dahin schläfst du noch ein bisschen oder du ruhst dich wenigstens aus."Sie drückte das Mädchen noch einmal feste und strich ihr übers Haar, dann verschwand sie aus dem Zimmer. Nach einer Dreiviertelstunde kam sie wieder mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. Jane war aufgeregt. "Und? Haben Sie eine Lösung?" Frau Genser nickte. "Es ist Folgendes: Ich habe gerade mit deiner Uni telefoniert. Du wirst solange hierbleiben, bis die Beerdigung vorbei ist. Dann wirst du dein Studium beginnen. Damit du nicht alleine in Göttingen bist, werde ich umziehen. Ich habe heute Mittag von meinem Arzt gesagt bekommen, dass ich in Göttingen in die Uniklinik müsse. Für Nachuntersuchungen. Und das regelmäßig.Daher habe ich so oder so schon mit dem Gedanken eines Umzugs in deine Nähe gespielt. Du kannst dir dann aussuchen, ob du weiter bei Daniel oder lieber bei mir wohnen möchtest. Oder beides. Für dich wird auf jeden Fall immer ein Zimmer bei mir frei sein. An den Wochenendenkönnen wir regelmäßig hierherfahren, sofern du Zeit hast neben deinem Studium, und das Grab von Susan besuchen. Was hältst du von meinem Vorschlag?" Jane hatte die ganze Zeit still dagesessen, ihre Augen leuchteten wie funkelnde Sterne. Das Einzige, was sie hervorbrachte war: "Danke!" Frau Genser lächelte sie an und streichelte vorsichtig ihre Wange. "Du bist also einverstanden?",fragte sie das Mädchen. Jane nickte. "Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich zumindest in der ersten Zeit lieber bei Ihnen wohnen, als bei Daniel." "Ich freue mich sehr." Es entstand eine kleine Pause. "Jane, Kleines, da ist noch etwas. Ich habe eben auf dem Gang den Pathologen getroffen. Er sagte, dass du deine Mutter sehen könntest und dich verabschieden kannst, wenn du das möchtest."Jane sah sie aus großen dunklen Augen an. Dann flüsterte sie leise:"Ja, das will ich" "Komm",meinte Frau Genser und half ihrer ehemaligen Schülerin von der Liege. Jane hakte sie unter und sie verließen das Zimmer. Gemeinsam wanderten sie über den kahlen, weißen Flur. Sie fragten sich durch, bis sie schließlich an einer Eisentür mit dem Schild: "Pathologie" angekommen waren. Frau Genser klopfte. Ein Mann im weißen Kittel öffnete ihnen. "Ah, Sie wollen zu Frau Gress nehme ich an. Kommen Sie." Er führte sie durch einige Zimmer, bis zu einer blau-weißgestreiften Tür. Vorsichtig öffnete er diese und vor ihnen lag ein Raum in freundlichen Farben. In der Mitte des Raumes war Susan Gressaufgebahrt, umringt von flackernden Kerzen und Blumenkränzen. Sie war wunderschön hergerichtet worden. Der Arzt ließ sie alleine und schloss die Tür hinter sich. Nun standen Jane und ihre Lehrerin zitternd im Raum. Frau Genser machte den ersten Schritt nach vorne und zog Jane vorsichtig mit sich. Gemeinsam setzten sie sich schweigend auf zwei Stühle, die neben der Toten bereitstanden. Jane betrachtete das Gesicht ihrer Adoptivmutter. Es war weiß, genau wie ihre Hände. Aber eigentlich konnte man ansonsten keinen Unterschied zum lebendigen Körper finden, außer natürlich der kleinen Platzwunde an der Stirn. Die restlichen Verletzungen wurden gut kaschiert. Susan sah aus, als ob sie schliefe. Tränen liefen dem Mädchen übers Gesicht. Sie wandte sich an Frau Genser."Kann ich bitte einen Moment alleine sein?" Die Angesprochene nickte verständnisvoll und strich dem Mädchen noch einmal übers Haar. Dann stand sie auf und ging zur Tür. Jane blieb regungslos sitzen, bis sie hinter sich das Geräusch der zufallendenTür hörte. Nun stand sie auf und ergriff die Hände ihrer Mutter."Susan! Mama! Mami! Geliebte Mama! Warum ausgerechnet du?",schluchzte sie. Dann besann sie sich auf das, was Frau Genser vorher zu ihr gesagt hatte: "Sie würde nicht wollen,dass es uns so schlecht geht mit ihrem Tod." Also biss sich Jane auf die Lippe und sprach: "Liebste Mama, auch wenn wir nicht viel Zeit miteinander hatten, ich habe sie genossen. Jede Sekunde mit dir. Ich weiß, dass du dich freuen würdest, dass ich nun Frau Genser habe, die auf mich aufpasst und dass du nicht wollen würdest, dass ich mich gräme wegen deines Todes. Ich möchte nur, dass du weißt, wie sehr ich dich liebe und dass ich dich nie in meinem Leben vergessen werde. Ich werde dich immer als meine Mama in Erinnerung behalten. Egal wie sehr ich Frau Genser in mein Herz schließen werde, egal wie sehr ich irgendwen in mein Herz schließen werde, du wirst immer den größten Platz einnehmen und ich werde nie jemanden so sehr liebhaben, wie dich. Nun schlafe gut, Mama, Susan." Mit diesen Worten plazierte Jane einen Kuss auf die Stirn und je einen auf die Wangen ihrer Mutter. Dann fuhr sie durch die braunen Locken,die sie immer so sehr geliebt hatte. Sie fühlten sich seidenweich an. "Ich komme dich besuchen an deinem Grab, Mama!",flüsterte sie und drehte sich auf dem Absatz um, ohne einen Blick zurückzuwerfen, schritt sie durch die Tür in ihr neues Leben. Draußen wartete Frau Genser. Sie lächelte das Mädchen wohlwollend an. "Hast du dich verabschiedet?" Jane nickte. "Ich werde auch noch einmal zu Susan gehen. Wartest du auf mich?",fragte die Lehrerin. Jane bejahte. Frau Genser verschwand im Zimmer. Auch sie ging nun, wo sie allein mit der Toten war, ganz nah zu ihr hinund nahm ihre Hände. "Susan!",sprach sie. "Du warst immer eine tolle Kollegin, eine wunderbare Freundin. Ich werde dich sehr vermissen. Ich möchte, dass du weißt, dass Jane bei mir in guten Händen ist. Ich werde alles tun, damit sie wieder glücklich und unbeschwert wird. Ich würde alles für sie geben. Ich habe sie genau wie du immer geliebt und ich werde sie beschützen. Ich werde sie lieben, aber ich werde nie vergessen, dass sie deine Tochter ist.Und ich weiß, dass sie das auch nicht tun wird. Ich verstehe, dass sie sich für dich entschieden hat und ich respektiere es. Ich werde nie versuchen, mich an deinen Platz in ihrem Herzen zu drängen. Auf Wiedersehen, Susan!",sprach Frau Genser leise. Sie strich über das Haar ihrer Kollegin. Eine Träne fiel hinunter auf die kalten Wangen. Frau Genser wandte sich zum um und machte einige Schritte auf die Tür zu. Bevor sie diese aufmachte, blickte sie noch ein letztes Mal über ihre Schulter zurück. Dann verließ sie den Raum.
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Home Is A Person *wird überarbeitet*
Teen FictionAls Jane vor einigen Jahren ihre Eltern bei einem Autounfall verlor, wurde ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Nach einer langen Phase des Trauerns fand sie zwar ihre Lebenslust wieder, aber eine Familie blieb ihr seitdem dennoch verwehrt. Doch...