25 Verlassen

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SamanthaSnape PoV. 

Mit schlechtem Gewissen ließ ich die Haustür ins Schloss fallen. Es tat mir leid Lily so unsanft abwimmeln zu müssen, sie sah sehr mitgenommen aus, aber ich konnte mich im Moment unmöglich um sie kümmern. Ich hatte meine eigenen Probleme. In den wenigen Stunden, die mein Bruder und ich wieder zu Hause waren, hatten es meine Eltern schon wieder geschafft sich in die Haare zu bekommen. Auch wenn mein Vater schon etwas getrunken hatte, war mir der genaue Grund für seinen Tobsuchtsanfall schleierhaft. Er war noch weit davon entfernt richtig betrunken zu sein. Jedoch brauchte mein Vater nicht wirklich einen Grund um auszuflippen. Oft mal reichte es schon ihn mit dem falschen Gesichtsausdruck anzusehen, um das Fass zum überlaufen zu bringen. Über die Jahre hatte ich unterschiedliche Verhaltensweisen ausprobiert, um seinen Beleidigungen zu entgehen, jedoch erfolglos. Wenn mein Vater Streit suchte, dann fand er einen Grund, da konnte man so vorsichtig sein wie man will. Am besten man ließ die Beschimpfungen tonlos über sich ergehen und versuchte sich die Kommentare nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen. Das war leichter gesagt, als getan. Es war eine Sache von Mitschülern beleidigt zu werden. Vom eigenen Vater beschimpft zu werden, war eine ganz andere. Keines von Blacks Kommentare hatte mich jemals so getroffen, wie die meines Vaters. Im Gegensatz zu meinem Bruder, belastete mich das Verhalten meines Vaters sehr. Ich bewunderte Sev dafür, wie spurlos die Schimpftiraden an ihm abprallen zu schienen. Während ich meist schon nach wenigen Minuten weinte, vergoss Sev keine einzige Träne. Früher kam er mir immer zur Hilfe und lenkte so Vaters Aufmerksamkeit von mir ab, sodass ich nicht mehr im Fokus seines Hasses stand. Doch eigentlich reichte schon seine pure Anwesenheit um mich zu beruhigen. Dafür war ich ihm unendlich dankbar, denn mir war bewusst, dass ein solches Verhalten nicht selbstverständlich war. Wer ließ sich schon freiwillig anschreien? Dafür liebte ich ihn. Zusammen gingen wir durch dick und dünn. Zwar gab es bei uns auch manchmal Streit, aber der hielt meist nicht lange an. Spätestens nach dem nächsten Ausraster meines Vaters, war alles vergeben und vergessen. Vielleicht war es also gar nicht mal so schlecht, dass wir wieder zu Hause waren. Vielleicht schafften wir so, die letzten Monate zu vergessen.

„Hörst du schlecht?", polterte es mir entgegen, als ich mich unsicher von der Eingangstür entfernte um zu meinem Zimmer zu gelangen. „Wer war da an der Tür?"

„Lily", antworte ich kurz angebunden und blickte zu Boden. Im Nebenraum hörte ich meine Mutter weinen.

„Was will die denn hier?", hakte er nach. „Hat die nichts Besseres zu tun. Ihr seid doch gerade erst von der Schule nach Hause gekommen!"

Unschlüssig stand ich vor ihm und entgegnete zögerlich. „Sie wollte übernachten. Ich habe ihr aber gesagt, dass ich keine Zeit habe."

„Das wäre ja noch schöner. Noch so eine Hexe vertrage ich in diesem Haus nicht mehr. Mir reicht es schon, dass ich euch hier habe. Noch so eine eingebildete Gore brauche ich nicht in meinem Haus.", zornig schrie er mich an, „Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Oder bin ich es nicht mal wert, dass du mir in die Augen siehst. Du glaubst wohl, weil du zaubern kannst bist du was Besseres als ich? Ich bin es der für dich aufkommen muss und deine teuren Bücher bezahlt, nicht deine Mutter. Die faule Kuh sitzt den ganzen Tag zu Hause und pflegt ihre Wehwehchen, während ich mich am Fließband abrackere. Du undankbare Göre kannst es wohl auch nicht abwarten endlich von hier zu verschwinden, wie dein Nichtsnutz von Bruder!"

Hellhörig blickte ich auf und stammelte verwirrt: „Was meinst du mit verschwinden? Sev ist doch in seinem Zimmer!"

Ein böses grinsen huschte über sein Gesicht. „Ach denkst du das? Dann schau mal in das Zimmer deines Bruders. Einfach aus dem Staub gemacht, hat er sich. Ohne sich zu verabschieden. Ausgerechnet jetzt wo er endlich mit der Schule fertig ist und auch endlich mal Geld nach Hause bringen könnte. Aber an Andere denkt ihr ja nie. Ihr denkt immer nur an euch und seid mit nichts zu frieden. Immerhin hat er noch den Anstand besessen seine Schulbücher hier zu lassen. Immerhin die muss ich nicht mehr für dich bezahlen."

Ungläubig sah ich ihn an. Das konnte nicht wahr sein. Würde mich Sev hier einfach zurücklassen? Ohne jedes Wort? Nein, das kann einfach nicht sein. Ich rannte an meinem Vater vorbei und stürmte in das Zimmer meines Bruders. Mit Tränen in den Augen sah ich mich in dem verlassenen Raum um. Das Zimmer war bis auf die Möbel und ein paar Schulbücher komplett leergeräumt. Niedergeschlagen setzte ich mich auf das Bett. Wie konnte er einfach gehen? Wo war er nur? Vielleicht hatte er mir einen Brief zurückgelassen. Eilig untersuchte ich den Schreibtisch, fand jedoch keinen Umschlag. Ich hastete in mein Zimmer, doch auch auf meinen Schreibtisch befand sich keine Nachricht.

Ein Schatten in der Tür ließ mich herumfahren. Mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt stand mein Vater breit grinsend in der Tür. „Schau mal einer an, er hat dir nicht gesagt, dass er von hier verschwindet oder?"

Mein tränenüberströmtes Gesicht war ihm Antwort genug. „Schau dich doch nur an. Weinst, weil dein Bruder dich verlassen hat. Wie alt bist du, fünf? Einfach erbärmlich, wie deine Mutter. Willkommen Prinzessin, in der Wirklichkeit. Warum sollte es dir besser ergehen als mir. Das Leben ist nicht fair, also heul hier nicht so rum!"

Geschockt sah ich ihm nach, als er sich kichernd abwandte und in die Küche zugehen. Bewegungslos hörte ich wie er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank nahm und sich im Wohnzimmer vor den Fernseher setzte.

Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so einsam und verlassen gefühlt. Mit Grauen dachte ich daran, dass die Ferien heute erst begonnen hatten. Ich konnte erst im September der Hölle meines Elternhauses entkommen. Das Wimmern meiner Mutter schallte erneut durch das Haus. Als Antwort darauf, erhöhte mein Vater die Lautstärke des Fernsehers.

Nach kurzen zögern, tapste ich zum Schlafzimmer meiner Eltern und klopfte an. „Mama, alles in Ordnung?" Innerlich ohrfeigte ich mich für diese dumme Frage. Natürlich war nicht alles in Ordnung. Ich klopfte erneut an, nachdem ich auch nach wiederholten Rufen keine Antwort bekam. Schließlich öffnete ich die Tür und trat ein. Das Bild das sich mir bot, zerriss mir beinah das Herz. Mutter saß zusammen gekauert auf dem Bett und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Ihre Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und hingen ihr unordentlich ins Gesicht. Von der gepflegten Frau, die mich noch vor wenigen Stunden am Bahnhof abgeholt hatte, war nichts mehr zu sehen.  

„Mama?" Mit ausgestreckten Hand lief ich auf sie zu und wollte sie trösten. Mit einem Rück fuhr ihr Kopf nach oben, als hätte sie mich gerade erst bemerkt und funkelt mich böse an.

„Was willst du hier? Habe ich dir erlaubt rein zu kommen? Verschwinde von hier. Am besten du gehst erst mal zu Lily. Du störst hier im Moment nur."

Bedrückt schluckte ich. Mit einem Kloß im Hals sprach ich; „Aber Mama ich kann nicht zu Lily!"

„Dann geh eben wo anders hin. Verschwinde zu deinem Bruder! Du wirst ja schon wissen wohin er verschwunden ist. Mir egal was du machst, Hauptsache du bist erstmal aus dem Haus. Ich habe jetzt echt keine Nerven mich auch noch um deine Probleme zu kümmern. Geh schon."

Widerwillig verließ ich den Raum und zog die Tür hinter mir zu, bevor ich erneut in Tränen ausbrach.

Wohin sollte ich jetzt nur gehen. Ratlos ging ich in mein Zimmer und dachte fieberhaft über eine Lösung nach. Lily ist bestimmt schon längst bei James und wo Sev war wusste ich nicht. Ich hatte auch nicht genug Geld um mir ein Zimmer im Tropfenden Kessel zu mieten. Hilflos saß ich in meinem Zuhause, das für mich nie ein richtiges Zuhause war und fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben komplett verlassen, während die letzten Worte meines Vaters durch meinen Kopf hallten. Das Leben ist wirklich nicht fair.

Das leise Picken eines Vogels gegen die Fensterscheibe riss mich aus meinen Gedanken. Ich stand auf und öffnete das Fenster. Eine schwarze Eule flog in das Zimmer, ließ einen Brief auf meinem Schreibtisch fallen und machte es sich auf meinem Bett bequem. Irritiert öffnete ich den Brief und setzte mich neben die Eule, die mich aufmerksam beäugte. Ein schmales Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als ich Regulus Handschrift erkannte.

„Du kommst wie gerufen!", schmunzelte ich und streichelte vorsichtig den Kopf der Eule, die zufrieden gurrte. Vielleicht war ich ja doch nicht ganz verlassen.

NiemalsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt