Kapitel 22

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Mittlerweile war ich im vierten Monat schwanger. Ich konnte mich kaum noch richtig bewegen, geschweige denn alleine aufstehen. Bei allem brauchte ich Hilfe und musste angefasst werden. Durch den ständigen Körperkontakt hatte ich mich mittlerweile mehr damit abfinden und sogar ein bisschen wieder anfreunden können. 

Flynn dagegen war schrecklich. Ich liebte ihn, aber als werdender Vater war er einfach nur anstrengend. Nichts ließ er mich alleine machen und auch nirgendwo alleine hingehen. Mittlerweile war mein einziges Tagesziel meinem übertrieben aufdringlichen Gefährten zu entfliehen. Riccardo war es jetzt gewöhnt. Oft genug hatte er mir folgen müssen, als ich mich wie ein Ninja aus meinem eigenen Haus schlich. Ich korrigiere, wie ein Sumoringer aus dem Haus schlich. Er schüttelte nur den Kopf und folgte mir seufzend.

Ricardo sprach nicht viel. Seine Antworten waren meistens einsilbig und unspezifisch, was zur Folge hatte, das ich die meiste Zeit erzählte. Über alles! Ich denke, Ricardo wusste mittlerweile mehr über mich als ich selbst über mich. Ich erzählte ihm auch von Theo und allem was er mit mir angestellt hatte. Auch Flynn wusste es schon. Beide hatten unterschiedliche, aber im großen und ganzen die gleiche Reaktion. Ricardo knurrte und konnte seinen Wolf kaum im Zaum halten, weil dieser die Ehre seiner Luna verteidigen wollte, auch Flynn knurrte, wurde aber immer wütender, weil es nicht nur um die Luna, sondern auch um seine Gefährtin ging. Flynn hatte sich irgendwann entschuldigt und war raus gerannt. Noch direkt vor unserer Tür brach sein Wolf durch und rannte wütend in den Wald, um sich abzureagieren. Abends kam er voll Dreck und Laub zurück und fiel erschöpft in unser Bett.

Das ich überhaupt über alles reden konnte, war Vera zuzuschreiben. Ich war nachdem ersten Abend bei ihr täglich vorbeigekommen und hatte mit ihr immer ein Stückchen mehr aufgearbeitet. Sie hörte sich immer alles geduldig an und gab mir am Ende Ratschläge. Sie war eine wichtige Verbündete für mich geworden. Es war als würde meine verstorbene Großmutter in ihr weiter leben. 

Allerdings wurde mir bei der Aufarbeitung meiner Probleme durch die Vergewaltigung und Folter durch Theo auch meine anderen Probleme bewusst. Meine tief verwurzelten Selbstzweifel, die ich durch Aaron, Liam und meinen Onkel davon getragen hatte. Aber auch das ich trotz allem meinen Bruder immer noch liebte und ihn gerne zurück in meinem Leben haben wollte. Er hatte sich verändert, das hatte der Besuch bei meinem alten Rudel bewiesen, aber ich hatte Angst. Angst davor zurückgewiesen zu werden. Angst, das er mich nicht mehr in seiner Familie wollte. Angst, das er kein Onkel für mein Kind sein wollte und damit auch meinen ungeborenen Sohn verstoßen würde. Mit Aaron hatte ich abgeschlossen, er hatte seine Rache und gerechte Strafe bekommen. Ich konnte für ihn nur hoffen, das er eines Tages doch noch seine zweite Chance erhalten würde.

"Na, an was denkst du schon wieder?", unterbrach Flynn meine Gedankengänge.

"An meine Familie. Also besser gesagt meinen Bruder. Ich weiß nicht genau, aber irgendwie hätte ich ihn doch gerne wieder in meiner - unserer Familie. Ich hätte gerne einen Onkel für unseren Kleinen."

Sanft legte Flynn seine Hand auf meinen angeschwollenen Bauch. Fürsorglich strich er über ihn. Er war so liebevoll, aber auf der anderen Seite auch so anstrengend. Flynn wollte, wie für jeden Vater üblich nur das beste für sein Kind, aber dabei vergaß er manchmal, das sein Kind noch in mir drin war und auch ich Bedürfnisse hatte und nicht bloß ein Brutkasten war. 

"Bist du dir damit sicher?", hakte Flynn nach.

"Nein, eigentlich überhaupt nicht und genau das ist ja das Problem. Es tut noch immer so weh, was er mir alles angetan hat, aber trotzdem habe ich gesehen, wie sehr er sich verändert hat, als wir dort waren. Er bereut es selbst und hasst sich dafür, was er mir angetan hat. Und wie ich schon gesagt habe, ich hätte gerne einen Onkel für mein Kind. Einen biologischen Onkel."

"Ich verstehe dich ja, aber ich habe auch Angst um dich, was ist, wenn er dich wieder verletzt oder unser Kind verstößt, das würde dich vielleicht wieder um Jahre zurückwerfen", erklärte Flynn mir besorgt seine Sichtweise.

Umständlich hievte ich mich aus meiner liegenden Position auf der Couch nach oben in eine sitzende Position. Flynn wusste sofort, das ich seine Hilfe zum vollständigen Aufstehen brauchen würde. Schnell stand mein Gefährte auf und half mir beim Aufstehen. Ich fühlte mich mehr und mehr, wie ein Pottwal. Nichts konnte ich mehr alleine erledigen. Ich sah ja nicht mal mehr meine Füße, die meistens geschwollen waren und gefühlt immer schmerzten.

"Wie wärs ich rufe Maya und Zoe und dann kannst du mit denen darüber reden, während ich dir was zu essen mache? Was hältst du davon?", fragte er liebevoll und neigte sich dann zu meinem Bauch, "Immerhin muss mein kleiner Wolf doch groß und stark werden."

Eifrig nickte ich wie ein Kind, das Eis wollte. 

"Aber erst muss ich wirklich dringend auf die Toilette!", meinte ich und watschelte davon.

"Brauchst du Hilfe?", fragte Flynn sofort und war drauf und dran mir hinterherzulaufen.

"Nein!", keifte ich ihn an, "Ich habe deine Hilfe die letzten Male nicht gebraucht und brauche sie auch die nächsten Male nicht!"

"Ist ja gut!", meinte Flynn grinsend, "Ich wollte es dir ja nur anbieten." Abwehrend hielt er die Hände in die Höhe. Lachend lief er dann in die Küche und fing an etwas fürs Abendessen zu machen. 

Seit dem ich mich kaum noch bewegen konnte, hatte er das Kochen übernommen und ich wusste gar nicht mehr wieso ich jemals für ihn gekocht hatte, denn er war ein fantastischer Koch! Ich war mir noch nicht sicher, ob ich jemals wieder mit dem Kochen anfangen wollte. Es war einfach so viel angenehmer sich zu bekochen zu lassen.

Erschöpft ließ ich mich auf einen der Küchenstühle fallen. Lächelnd beobachtete ich Flynn, wie er Gemüse schnippelte. Er stand leicht nach vorne gebückt an der großen Kücheninsel, die mitten im Raum stand. Hinter ihm brutzelte schon das Fleisch in einer Pfanne auf dem Herd. An der Kücheninsel standen mehrere Barhocker, an denen mindestens acht Leute Platz hatten. Auch am Tisch, an dem ich gerade saß, fanden mindestens acht, wenn nicht sogar zehn Leute platz. 

"Deine Mädels sind in einer viertel Stunde hier. Dann gehe ich rüber zu Robby, aber Ricardo bleibt hier und passt auf euch auf. Ich mache etwas mehr Essen, damit ihr alle davon satt werdet", sagte Flynn und grinste mich dabei an, während er das Gemüse zum Fleisch in die Pfanne schob.

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