Jeder weitere Tag, den ich meinen Sohn in mir herum trug war für mich mehr und mehr eine Qual. Ich wollte den Kleinen lieber endlich in meinen Armen halten.
Ich hatte mich gestern zwar wieder mit Vera getroffen und geredet, aber nicht über meinen Bruder Liam. Im Moment saß ich vor unserem Haustelefon. Ich hielt es in der Hand und saß in der Küche an der Kochinsel. Eigentlich war ich mir sicher gewesen, das ich wieder Kontakt mit meinem Bruder wollte, aber jetzt wo ich kurz davor war mit ihm zu reden, scheiterte es schon daran, das ich mich nicht traute auf den verdammten grünen Knopf zu drücken. Ich starrte so lange auf die Telefonnummer, bis der Bildschirm schwarz wurde und die Nummer verschwand, wodurch ich sie wieder eintippen musste.
"Das ist ja nicht mitanzusehen", murmelte es plötzlich hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um und sah Ricardo, der im Türrahmen lehnte und mich beobachtete. Zielstrebig kam er auf mich zu und entwand mir das Telefon aus meinen klammen Händen. Entschlossen tippte er eine Nummer ein drückte auf den grünen Knopf und hielt mir das Telefon ans Ohr. Verwirrung und Entsetzen mischte sich in meinem Blick. Gerade wollte ich nachfragen, was das denn alles sollte, als ich eine sehr bekannte Stimme aus dem Hörer hörte.
"Hallo? Hier ist Liam vom Firestone Rudel. ... Hallo? ...... Wer ist da?"
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich fühlte mich als würde ich keine Luft mehr bekommen. Auffordernd stieß Ricardo mich an und ließ mich dann mit meinem Schicksal alleine.
"Hallo?!!! ...... Wer ist denn da?!"
"Hey", krächzte ich hervor.
"Lia?", fragte Liam vorsichtig.
"Ja, ich bins."
"Wie geht es dir? Nach deiner Befreiung haben wir nichts mehr von dir gehört."
"Mir geht es mittlerweile schon besser, aber ich habe meine Narben davon getragen. Psychische wie physische."
"Das tut mir leid zu hören", flüsterte mein Bruder.
Es war seltsam wir sprachen so vorsichtig miteinander als könnte alles, was noch zwischen uns war, mit einem einzigen lauten Wort wie ein Glas in hundert Scherben zerspringen. Wir waren es einfach nicht mehr gewohnt auf einer normalen Basis miteinander zu reden.
"Wie läuft es bei euch im Rudel? Habt ihr richtige Strukturen gefunden?", wollte ich wissen, da ich nicht wirklich wusste, über was ich mit Liam reden sollte. Ich wollte auch nicht direkt damit anfangen und ihm sagen, wieso ich wirklich angerufen hatte.
"Aaron tut sich noch schwer damit, aber wir haben Regeln aufgestellt und diese werden jetzt auch eingehalten. Solche Situationen, wie damals mit dir kommen nie wieder vor, auch wenn ich eher derjenige bin, der dafür sorgt, das sie wirklich durchgesetzt werden. Das Rudel ist sehr gespalten momentan. Die älteren und auch viele junge vertrauen nicht mehr auf Aaron. Schon gar nicht, da er ohne Luna keine Zukunft für das Rudel bieten kann. Er leidet sehr darunter, weil er selbst weiß, was er alles falsch gemacht hat, aber er kann es nicht mehr ändern. Du bist die Luna eines anderen. Die einzige Hoffnung, die ihm noch bleibt, ist das die Mondgöttin gnädig mit ihm ist und ihm eine andere Luna gibt."
"Was wird passieren, wenn er keine andere Luna findet?"
"Die meisten im Rudel werden das Angebot von deinem Gefährten annehmen und sich seinem oder anderen Rudeln anschließen. Das Firestone Rudel wird dann untergehen, so wie du es prophezeit hast."
Aaron hatte seine Strafe verdient, aber das wegen ihm ein gesamtes Rudel untergehen sollte, war nie was ich im Sinn hatte, als ich mir gewünscht hatte er möge für all seine Untaten leiden.
"Was habt ihr mit Theo vor? Ich habe gehört der Werwolfrat hat Flynn zugesprochen Theo zu bestrafen und anschließend zu töten."
"Der Tag an dem unser Sohn auf die Welt kommt, soll der Tag sein an dem unser Feind stirbt. Denn unser Kind soll in keiner Welt groß werden, in der es Wölfe wie Theo gibt."
"Ich bekomme also einen kleinen Neffen", ich hörte Liam förmlich breit Grinsen. Er wollte also doch ein Onkel sein. Jetzt musste auch ich breit Lächeln. Mein Sohn und all meine zukünftigen Kinder würden einen biologischen Onkel haben.
"Also das heißt natürlich, wenn du mich für deinen Sohn als Onkel haben willst", schob Liam schnell etwas bedrückt hinterher.
"Natürlich möchte ich dich für ihn da haben! Du bist sein einziger echter Onkel. Er hat zwar Ben, Robby und Ricardo, aber das ist etwas anderes."
"Aber nach allem was ich dir angetan habe-", fing mein Bruder an.
"- ist es an der Zeit wieder eine Familie zu werden und alles aufzuarbeiten, was vorgefallen ist. Flynns Eltern sind tot und er hat keine Geschwister. Du bist der einzige echte Verwandte, den meine Kinder noch haben werden."
"Darf ich bei der Geburt dabei sein?", fragte Liam und brachte mich damit komplett aus dem Konzept. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Etwas sprachlos hielt ich einfach nur das Telefon weiter an mein Ohr gedrückt und brachte kein Wort hervor.
"Das war zu früh oder? Ich hätte nicht fragen sollen. Tut mir leid, ich habe nicht nachgedacht. Ich war nur so froh, das ich meinen Neffen und alle weiteren Neffen und Nichten kennenlernen würde, das ich einfach ohne zu denken geredet habe. Ich kann verstehen, dass du das nicht willst", fing er an los zu reden ohne Punkt und Komma.
"Doch ich hätte dich gerne dabei. Der Kleine soll in spätestens zwei Wochen auf die Welt kommen. Du solltest deswegen vielleicht schon in einer Woche da sein, um die Geburt auch wirklich nicht zu verpassen."
"Danke", schluchzte mein komplett aufgelöster Bruder ins Telefon, "Ich muss wieder arbeiten. Wir reden morgen wieder. Ok?"
"Ja, machen wir. Tschau!", lachte ich ins Telefon. Es war so gelaufen, wie ich es mir nur hätte träumen können.
"Na siehst du. War doch gar nicht so schwer", brummte Ricardo aus dem Türrahmen. Ich verdrehte nur die Augen und sah ihn böse an. Mein Bewacher dagegen zuckte nur mit den breiten Schultern und verließ das Haus. Er würde sich wahrscheinlich wieder vor der Haustür postieren, bis Flynn zurückkommen würde. Lange würde mein Gefährte sicher nicht mehr brauchen, dafür war sein Wolf zu übertrieben beschützerisch, was unser Kind betraf.
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Second chance
WerewolfMein ganzes Leben geächtet, gehasst, gemobbt und trotzdem an das Gute geglaubt oder mehr gehofft. Aber als dann auch noch mein Gefährte mich ablehnte und nicht haben wollte, war es vorbei. Ich lief nach all den Jahren der seelischen Folter weg. Auf...