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"Mein Vater" Ich schließe die Tür meines Spindes und sehe in ein wunderschönes Paar Augen, das mich von oben bis unten mustert. "Was?", frage ich verwirrt und versuche den schnellen Herzschlag zu beruhigen, den Raphaels Nähe verursacht. Er lehnt neben meinen Spind, die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt und ein Lächeln auf den Lippen. "Dein Tattoo. Die Schwalben. Sie erinnern mich an meinen Vater" Für einen kurzen Moment verschwindet sein wacher, aufmerksamer Blick und Sehnsucht schleicht sich in das Strahlen seiner Augen. "Was ist passiert?", frage ich ihn vorsichtig. Raphael seufzt und stoßt sich mit dem Fuß vom Schließfach ab. Er setzt sich in Bewegung und ich folge mir. "Er war ein guter Mann. Der beste Vater, den man sich vorstellen kann. Er hat mich zu dem gemacht, der ich jetzt bin" Ich nicke, um ihm zu zeigen, dass ich die tiefe Vater.- Sohn- Beziehung verstanden habe und ihm seine Worte glaube. Er bleibt stehen und presst den Mund zu einer schmalen Linie. Kurz räuspert er sich. "Er hat Fehler gemacht. Und für jeden Fehler, den er gemacht hat, hat er sich eine kleine Schwalbe am Oberarm tätowiert" Ich fasse reflexartig mit der Hand nach hinten und lege sie auf mein eigenes Schwalbentattoo. Ich habe mir mein Tattoo stechen lassen, weil es für mich Bedeutung hat. Weil es für mich an meinen Leben Gewicht trägt. Ob die Fehler, die Raphaels Vater gemacht hat, für ihn auch von Bedeutung waren. Einen tiefen Schnitt in seinem Leben hinterlassen haben? "Es hat mir als kleiner Junge immer Spaß gemacht, die Schwalben zu zählen" Ein trauriges Lächeln zieht an seinen Mundwinkeln. Nur mit Mühe kann ich mich zurückhalten, ihn nicht zu umarmen. "Eines Tages ist er nach Hause gekommen, den linken Arm voller Schwalben. Vom Oberarm, bis zum Handgelenk nach vorne. Ich habe ihn gefragt, warum er sich so viele auf einmal tätowieren lassen hat. Er meinte, weil er sein Leben verloren hat."  Raphael sieht über meine Schulter hinweg auf einen Punkt in der Ferne, den nur er sehen kann. Traurigkeit flackert in seinen Augen und ich spüre, dass er nicht vielen diese Geschichte erzählt hat. "Ich habe seine Worte nicht verstanden, ich meine ich war sieben Jahre alt. Eine Stunde später ist die Polizei zu uns nach Hause gekommen und hat meinen Vater abgeführt. Mein Vater hat nichts abgestritten und gestanden. Er hat bei irgendeinem schwerwiegenden Drogendeal mitgemacht und das über Jahre hinweg. Jetzt sitzt er seitdem im Gefängnis. " Raphaels Stimme bricht am Ende und er schluckt. "Und die Schwalben haben ihm die Freiheit gegeben, die ihm die Drogen genommen haben", sage ich und lege eine Hand auf Raphaels Schulter. "Dein Vater hat seine Fehler eingesehen. Und das ist es, worauf es ankommt. Nicht die Augen zu verschließen, sondern Verantwortung für seine Fehler zu machen. Nicht einfach wegzurennen. Du kannst stolz auf ihn sein, Raphael" Raphaels trauriger Blick zerreißt mir das Herz und ich weiß nicht warum. Ich kenne diesen Jungen nicht. Und auch seinen Vater nicht. Warum erzählt er mir das? Und warum kann mein verdammtes Herz nicht normal schlagen?Ich nicke ihm zu, drehe mich um und gehe so schnell ich kann, den Flur entlang, bevor ich noch auf die dumme Idee komme, ihm um den Hals zu fallen. Sobald ich aus seinem Sichtfeld bin, lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Wand und vergrabe mein Gesicht in den Handflächen. Wie kann ich jetzt Liebe spüren? Nach allem, was passiert ist, wie kann ich glücklich sein? Wie soll ich je ohne mein Mutter an meiner Seite glücklich sein?

So sehr ich es auch versucht habe, ich konnte Raphael nicht aus dem Kopf verbannen. Er beherrscht alle meine Gedanken. Die vertrauensvolle Geschichte über seinen Vater und sein trauriger Anblick gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Es ist, als haben sie Wurzeln in meinem Unterbewusstsein geschlagen, und sich fest an meine Gedanken gefesselt. Es ist auch keine große Hilfe, dass meine letzten Schulstunden Sport sind. Mit letzter Kraft zwänge ich mich in meine Sportklamotten und schleppe mich auf den Sportplatz zu den anderen Mädchen. Gerade, als sich Raphaels mandelbraune Augen wieder in meine Gedanken schleichen, tippt mich ein Mädchen an der Schulter an. "Was zum?", fluche ich und springe erschrocken ein Stück zurück. Ich drehe mich zu dem Mädchen, das die Hand vor den Mund hält und leise kichert. Das blonde Haar fällt ihr in sanften Locken über die Schulter und mit ihren katzenhaften, grünen Augen mustert sie mich langsam von oben bis unten. "Hi, ich bin Chloe" Das Mädchen streckt mir ihr zierliche, perfekt manikürte Hand entgegen. "Amber", stelle ich mich vor und reiche ihr die Hand. "Ich weiß, wer du bist. So ziemlich jede hier weiß wer du bist, seit du mit Raphael im Gang geredet hast" Chloe zeigt auf die Mädchen hinter sich und erst jetzt fällt mir auf, dass jedes einzelne von ihnen mich immer wieder verstohlen ansieht. Chloe beginnt mich wie eine Katze ihre Beute zu umkreisen und lässt mich nicht aus den Augen. "Du musst wissen, dass Raphael hier zu den beliebten Jungen zählt. Zu den Jungen, die einzig und allein Cheerleaderinnen zustehen" Das süßliche Lächeln verschwindet schlagartig von ihrem Gesicht und ich weiche zurück, als sie einen Schritt auf mich zumacht. "Die Regeln dieser Highschool. Lerne sie Amber, oder spüre die Konsequenzen, die wir ziehen, wenn du sie brichst" Ohne ein weiteres Wort wendet sie mir den Rücken zu und stolziert zu einer Gruppe Mädchen, die mich böse anfunkeln. Wunderbar, ich habe gerade den Teufel in Person kennengelernt. 


Mindless - Eine Party.  Eine falsche Entscheidung. Eine ewige SchuldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt