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"Du bist also neu hier?" Mr. Johnson mustert mich von oben bis unten und reicht mir ein Buch. Er ist ein älterer Mann, mit tiefen Falten um die Augen herum, aber das Blau in ihnen leuchtet und strahlt Energie und gleichzeitig eine innere Ruhe aus. Ich fixiere mich komplett auf ihn, um den 22 anderen Augenpaaren in diesem Raum zu entgehen. Ich spüre die Blicke selbst, als ich mich mit gesenktem Kopf auf den Weg zum einzig freien Platz ganz hinten am Fenster mache. Ab und zu höre ich jemanden tuscheln, aber das ist nichts neues. Sie reden über meinen Kleidungsstil, diskutieren, ob ich wohl zu den Coolen gehöre, oder eher eine stille Streberin bin. Nachdem ich mich allerdings geweigert habe, mich der Klasse vorzustellen, gehe ich eher von letzterem ab. Ein schüchternes, schwarzhaariges Mädchen mit guten Noten, von dem man die Hausaufgaben umsonst abschreiben kann. Zum Glück bin ich zuhause nie eine gewesen, die ausgenutzt wurde.

Seufzend lasse ich mich auf den Stuhl fallen und schlage das Buch auf. Mr.Johnson hat bereits seinen Unterricht fortgesetzt und redet irgendetwas über Symbole und ihre Bedeutung. Ich kenne das Buch, ich habe es schon öfters gelesen. "Schwalben und ihr Weg". Eigentlich für eine Schullektüre ziemlich untypisch. Das Buch behandelt den Wert des Lebens und setzt sich mit dem Tod auseinander. Und die Schwalben verkörpern dabei sowohl das Leben als auch den Tod. Wenn Mr.Johnson wüsste, dass ich mir nach dem Tod meiner Mom Schwalben auf den Rücken tättowiert habe, gäbe er mir bestimmt eine gute Mitarbeit.

Ich zucke zusammen, als das Mädchen vor mir sich umdreht und einen zusammengefalteten Zettel auf die Tischplatte vor mir fallen lässt. "Nicht von mir", murmelt sie, dreht sich wieder um und fängt wieder an mit ihrem blonden Haar zu spielen. "Amber, wofür stehen Schwalben in deinen Augen?" Die Frage von Mr.Johnson trifft mich völlig unerwartet und schnell lege ich das Buch auf den Zettel. "Ähmm Schwalben. Gute Frage", sage ich und lächle dümmlich. Bescheuerte Frage. Schwalben bedeuten alles für mich, sonst hätte ich sie mir ja nicht auf den Rücken verewigen lassen. Schwalben bedeuten für mich Freiheit. Schwalben stehen für mich für die Freiheit, die uns das Leben gewährt. Und gleichzeitig sind sie eine Erinnerung daran, dass das Leben jeden Moment zu Ende gehen kann. Schwalben sind für mich ein Zeichen dafür, dass alles möglich ist, wenn man sich nur traut. Wenn man seine Flügel ausspannt und das sichere Nest verlässt. Doch stattdessen sage ich einfach nur:"Sie sind schön." Leicht untertrieben, Amber. Aber nur leicht. Mr.Johnson sieht mich für eine Weile mit schräg gelegtem Kopf an. "Wer stimmt Ambers Aussage zu?", wendet er sich an die ganze Klasse. Ein Junge etwas weiter vorne hebt seine Hand. Seine dunkelbraunen Locken fallen ihm in sein Gesicht, sodass ich es nicht richtig sehen kann. "Ja, Raphael?" "Ich finde", setzt der Junge an, dreht seinen Oberkörper in meine Richtung und streicht sich die Locken aus seinem Gesicht. Der Blick seiner wunderschönen, mandelfarbenen Augen trifft mich völlig unerwartet und ich schnappe nach Luft. Sein Gesicht ist geformt von atemberaubenden Konturen und diese kissenweichen Lippen sind Tagträume wert. "Schwalben sind schön. Aber sie zeigen einem auch, dass es die Liebe ist, die einen Menschen von innen heraus strahlen lässt. Schwalben sind meist zu zweit. Man lässt sie sich meist auch zu zweit tättowieren. Sie stehen für Liebe und engen Zusammenhalt. Oft auch für Seelenverwandte. Und ist es nicht das, was jeder erstrebt? Seinen Seelenverwandten zu finden? Manchmal stehen sie aber auch für den Verlust einer nahe stehenden Person. Sie stehen aber auch für Freiheit. Für die Möglichkeit zu ziehen, indem sie ihre Flügel ausstrecken und sich aus dem sicheren Nest wagen. Schwalben sind nicht ein einziges Symbol. Ihre Bedeutung liegt im Auge des Betrachters."  Ich verkrampfe die Hände bei den Worten aus Raphales Mund. Es ist als würde er mir aus meiner Seele lesen. Als wäre meine Seele ein Buch in einer Sprache, die nur er versteht. Er zwinkert mir zu und dreht sich wieder nach vorne. Schnell senke ich den Kopf und atme tief ein und aus. Ich spüre, wie eine Träne aus meinem Auge rinnt und sich einen Weg über meine gerötete Wange sucht. Es ist, als hätte er den Grund für mein Tattoo erraten. Als hätte er nur durch diese Worte einblick in mein Leben aus Scherben erhalten. Zum Glück redet Mr.Johnson schon wieder wie ein Wasserfall und die anderen Schüler um mich herum schreiben seine Worte mit. Vorsichtig strecke ich die Hand nach dem Zettel aus, falte ihn auf und lese die gekrizelten Worte.

Schönes Tattoo. Es erinnert mich an jemanden

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ein ärmelloses Oberteil trage. Ich fasse mit einer Hand über meine Schulter und lege sie auf mein Tattoo. Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen. Von wem ist dieser Zettel? Mein Blick bleibt an Raphael hängen, der mich über die Schulter hinweg anlächelt. Schnell sehe ich aus dem Fenster und versuche mein rasendes Herz zu beruhigen. Doch ohne Erfolg. Das Bild von diesem Lächeln und diesen strahlenden Augen verschwindet die ganze Stunde über nicht mehr vor meinen geistigen Augen.

Mindless - Eine Party.  Eine falsche Entscheidung. Eine ewige SchuldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt