Nach dem Auftritt von Chloe haben mich sämtlich Augenpaare den ganzen Tag über nicht mehr aus den Augen gelassen. Als wären sie Spione, die Chloe jeden einzelnen Schritt von mir mitteilen und sich auf mich werfen würden, sobald ich auch nur in die Nähe von Raphael komme. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich hinter einem Spind versteckt habe, als ich ihn am Gang gesehen habe. Was soll ich sagen. Sicher ist nun einmal sicher.
Dad hat mir in der letzten Stunde eine SMS geschickt, dass er länger arbeiten muss und mich deshalb nicht von der Schule abholen kann. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als meine Beine zu benutzen und in der glühenden Julisonne nach Hause zu gehen. Erleichtert atme ich aus, als ich das Schulgebäude verlasse. Keine Chloe. Kein Raphael. Einfach nur ich. Ich und meine Gedanken. Früher bin ich gerne stundenlang in ihnen versunken. Habe mir meine Zukunft ausgemalt. Mein Haus, das ich mir einmal bauen lasse, sobald ich reich bin. Meine 10 Katzen, die ich mir kaufe, damit ich nicht völlig allein bleibe. Ich war und bin nämlich schon immer der Meinung, dass ich als single sterbe. Weder Mom, noch sonst wer konnte mir diesen Gedanken ausreden. Und bis jetzt hat mich das auch nicht gestört. Bis zu dem Moment, als ich Raphael gesehen habe. Ich weiß nicht was er gemacht hat, aber er hat sich in meinem Kopf festgesetzt. Und scheint nicht die Absicht zu haben, dort so schnell auch wieder zu verschwinden. Und das nehme ich ihm übel. Irgendetwas zieht mich zu ihm hin. Ich weiß nicht, ob es seine Art ist, sein Lächeln oder auch nur seine Locken, die ich nur allzu gerne anfassen würde. Ich kann es einfach nicht beschreiben. Es ist ein Gefühl als würde ein warmer, angenehmer Sommwerwind durch dein Haar streichen, als würden tausende Schmetterlinge in deinem Magen wild umherfliegen und dich vom Boden abheben wollen, als würde alles plötzlich in den Hintergrund rücken und weniger wichtig werden. Auch Moms Tod.
Aber das darf ich nicht zulassen. Meine schlimmste Angst früher war jemanden zu verlieren. Jetzt, da ausgerechnet das passiert ist, ist meine schlimmste Angst zu vergessen. Die Erinnerungen an Mom zu verlieren. Den Klang ihrer Stimme nicht mehr zu wissen, den Geruch ihres Fliederparfüms zu vergessen oder alles, was ich mit ihr erlebt und durchgemacht habe. Das ist das Schrecklichste, das in meinem Leben passieren könnte.
Völlig in meiner Angst versunken, bemerke ich überhaupt nicht, wie sich ein Typ vor mich stellt, und ich krache mit ihm zusammen.
"Was zum?", fluche ich, stolpere zwei Schritte zurück und funkle meinen Gegenüber böse an, als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden habe.
Der Typ hebt abwehrend die Hände: "Ganz ruhig, Kätzchen"
Kätzchen? Hat er gerade allen Ernstes Kätzchen gesagt? Was bildet sich dieser Vollidiot überhaupt ein?
"Für dich heiße ich ganz bestimmt nicht Kätzchen, und wenn du mir noch ein einziges Mal im Weg stehst, werden meine Krallen das letzte sein, an das du dich erinnern kannst", fahre ich ihn an und gehe auf ihn zu.
"Das glaube ich dir aufs Wort". Die Mundwinkel des Typen wandern nach oben und er verschränkt lässig die Arme vor der Brust. Da er sich so vor mir aufbaut, beschließe ich, ihn einfach von oben bis unten böse zu mustern. Er hat sich schließlich mir in den Weg gestellt. Der Typ ist das komplette Gegenteil von Raphael. Seine Haut ist unglaublich blass und man kann gar nicht anders, als in seine kristallklaren Augen zu sehen. Unter diesen wunderschönen Augen, haben sich dunkle Schatten gebildet, die zur weißen Haut einen unübersehbaren Kontrast bilden. Bis auf die grünen Schuhe ist er schwarz gekleidet. Schwarze Jeans, schwarzes T-shirt, schwarze Jacke. Die Kapuze hat er sich tief ins Gesicht gezogen, nur an der Seite stehen ein paar Haarsträhnen heraus, die seine blonde Haarfarbe verraten.
"Du siehst mitgenommen aus", bricht der Typ nach einer Weile das Schweigen. "Jase"
Er streckt mir eine dünne, knochige Hand entgegen. Als ich sie nicht ergreife und auch nichts sage, wandern seine Mundwinkel wieder etwas nach oben. "Und du bist?", fragt er.
"Am gehen. Aber du stehst mir im Weg, Jase. Dein Schatten würde woanders bestimmt besser aussehen als auf mir. Weißt du, es soll Menschen geben, die nichts gegen braune Haut haben" Nicht meine netteste Antwort, aber er hätte sich mir ja auch nicht in den Weg stellen müssen.
Jase tritt einen Schritt zur Seite, damit ich vorbei kann. "Schön dich getroffen zu haben, Kätzchen. Ich hoffe wir sehen uns bald wieder" Er deutet eine Verneigung vor mir an und mustert mich neugierig von oben bis unten.
"Glaub mir, Jase, ich werde dafür sorgen, dass wir uns frühestens wieder sehen, wenn deine Haut nicht aussieht, als wärst du gerade aus einer Gruft aufgestiegen. Also ungefähr in 20 Jahren" Ich schiebe mich an ihm vorbei und gehe mit hoch erhobenem Hauptes weiter.
"Ich dachte eigentlich, ich müsste nicht mehr so lange warten, dich wiederzusehen, Amber!", ruft er mir nach. Abrupt bleibe ich stehen und drehe mich um. "Woher kennst du meinen Namen?", frage ich ihn. "Tja, unter dem Namen Jase hast du mich noch nie gekannt, Amber, das hat sich nicht geändert wie ich sehe. Und deine aufbrausende, beleidigende Art hast du offenbar auch nicht abgelegt. Die hat mir schon damals gefallen, als du mir immer vorgeschrieben hast, was wir spielen" Was? Ich trete an den Jungen heran und mustere ihn noch etwas genauer. Und jetzt, als ich wieder in diese wunderschönen, blauen Augen schaue, erkenne ich ihn. "JJ!", rufe ich und falle Jase um den Hals. Jase Johnson. Der Nachbarjunge, mit dem ich zusammen gespielt habe, bis er zusammen mit seinen Eltern umgezogen ist als wir beide sieben waren. Der Nachbarsjunge, mit dem ich zusammen verstecken gespielt habe, und der mich immer Kätzchen genannt hat. Mit dem ich die ganzen Sommerferien verbracht habe. Dem ich bei seinem Umzug versprochen habe, dass ich ihn heiraten werde, sobald wir beide 18 sind. Er ist wirklich wieder in der Stadt. Und seine Augen tragen immer noch die gleiche Farbe, in die ich mich auch verliebt habe, als wir Kinder waren.
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Mindless - Eine Party. Eine falsche Entscheidung. Eine ewige Schuld
Genç KurguDer vierte Juli wird für Amber nie ein Unabhängigkeitstag sein. Sie wird nie wieder am vierten Juli feiern und sie wird dieses Datum auch nie wieder vergessen. Egal wie sehr sie es sich auch wünscht. Der vierte Juli erinnert sie daran, dass sie Sch...