- 2 Jahre zuvor
"Der Efeu hat das ganze Haus bewuchert" Ich nicke und staune nicht schlecht wie dicht der Efeu das Haus einnimmt. Wie Seepocken einen alten Schiffsrumpf hat er die Wände des Hauses meines Vaters eingenommen. Und wie ich Dad kenne, hat er wahrscheinlich nicht wirklich versucht das zu verhindern. Aber tatsächlich kenne ich Dad gar nicht so gut. Mom und er haben sich getrennt, als ich acht Jahre alt war, und seitdem habe ich nur jedes zweite Wochenende bei ihm verbracht. Und ab meinem 14.Geburtstag habe ich nicht mehr eingesehen, mein Wochenende in dieser langweiligen Stadt zu vergeuden. Zumindest bis jetzt. Nachdem, was passiert ist, wird sich mein komplettes Leben ändern.
Ich folge Dad hinauf auf die Veranda und hinein in das Haus. Es hat sich nicht viel verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Die Wände zieren noch immer dieselben Familienfotos, selbst die Fotos von Mom hat Dad trotz der Trennung nicht abgenommen, und die Möbel sind keinen Zentimeter verschoben worden. Ich sehe zu Dad, der nur mit den Achseln zuckt. "Du weißt, dass ich Veränderungen nicht mag." Ich lasse den Kopf sinken und starre auf die Marmorfließen am Boden. Veränderungen. Auch ich kann sie nicht leiden. Und trotzdem haben sie in den letzten Wochen mein ganzes Leben befallen wie ein Virus, der mich nicht mehr loslässt. Es ist unglaublich, wie schnell man einen Menschen verlieren kann. Und es ist unglaublich , wie dadurch etwas selbstverständliches nicht mehr selbstverständlich wird. Es war für mich immer selbstverständlich, spät abends unter der Woche heimzukommen und Mom mit verschränkten Armen vor der Brust in der Küche zu finden. Es war für mich selbstverständlich morgens aus dem Bad in die Küche zu kommen und Mom zeitunglesend am Frühstückstisch vorzufinden. Es war für mich selbstverständlich mich mit ihr über mein Verhalten zu streiten, nur um mich nach ein paar Minuten zu entschuldigen und sie in den Arm zu nehmen. Aber das alles war es nicht. Es war nicht selbstverständlich. Es war unersetzbares Glück. Glück, das nicht jedem gewährt wird.
"Amber, willst du darüber reden?", unterbricht Dad meine Gedanken. Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf und schaut an die Wand hinter mir. In seinen Augen kann ich sehen, dass Moms Tod ihn getroffen hat. Weil er sie immer noch geliebt hat. Er hat sie immer geliebt. Selbst, als sie einen neuen Freund gefunden hat und ihn verlassen hat. Selbst, als sie ihm vorgeworfen hat, sich zu wenig um mich zu kümmern und zu bemühen. Er hat sie selbst dann geliebt, als sie ihm das Herz gebrochen hat. "Ich will nur auf mein Zimmer und für eine Weile allein sein", sage ich und versuche die Tränen zurückzuhalten. Dad nickt, nimmt meinen Koffer und trägt ihn hinauf in den ersten Stock des Hauses. Ich folge ihm in mein altes Zimmer und setze mich vor das Fenster. Die Wände sind immer noch in einem zarten rosa Farbton gestrichen und auch das weiße Himmelbett ist geblieben. Und das obwohl ich Dad zwei Jahre lang nicht mehr besucht habe. Ich richte den Blick hinaus vom Fenster und betrachte die hoch gewachsene Trauerweide im Garten. Leise höre ich Dads Schritte auf dem Boden, als er zur Türe geht. Bevor er sie schließt, sieht er noch einmal zu mir und zwingt sich vergeblich ein Lächeln auf die Lippen. "Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen wiedergesehen" Mit diesen Worten schließt er die Tür hinter sich und lässt mich mit meinen Gedanken allein im Zimmer zurück.
Ich wünschte, alles wäre anders gekommen an diesem Abend. Ich wünschte, ich könnte die letzten Worte, die ich zu Mom gesagt habe zurücknehmen. Ich wünschte, sie wäre noch hier. Aber genau das ist es, was man lernt, wenn man Erwachsen wird. Man kann nichts festhalten. Und man kann das Schicksal nicht aufhalten. Und genau darauf bereitet einen niemand vor. Auf die Dinge im Leben, die unausweichlich sind. Aber wie soll man sich darauf auch schon vorbereiten? Kummer, Schmerz und Verlust sind Teil des Lebens. Eines Tages schlagen sie Wurzeln in unserer Seele und weichen nicht mehr von unserer Seite. Doch würden wir sie nicht spüren, wären wir nicht mehr am Leben.
Es muss wohl auch Schicksal sein, dass im Garten von Dad ausgerechnet eine Trauerweide steht. Ein Baum, der für verdrängtes Leid steht. Erst jetzt spüre ich die heißen Tränen, die über meine Wangen rinnen. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen angewinkelten Knien und balle die Hände zu Fäusten. Warum? Genau dieses Wort schwirrt mir immer wieder durch den Kopf und lässt mich nicht mehr los. Das Wort hat sich an mein Herz gehängt und scheint mich förmlich zu verspotten, weil es genau weiß, dass ich keine Antwort bekommen werde. Weil niemand auf dieser Welt die Antwort kennt. Niemand kennt die Regeln des Todes. Warum hat er ausgerechnet meiner Mutter die Hand gereicht? Warum ihr und nicht einer alten, einsamen Frau? Warum einer Frau, die Menschen aus ihrem Leben zurücklässt? Warum hat er sie mir genommen? Dachte er wirklich ich würde ohne sie zu Recht kommen? Diese ganze Ungewissheit lastet auf mir und scheint mich zu erdrücken. Es ist eine Last, die nur ich spüren kann und die mir niemand nehmen kann. Weil sie für niemanden so bedeutend ist wie für mich.
Ich weiß nicht, wo Mom jetzt ist. Aber ich weiß, dass ich jetzt im Moment allein bin, und ab jetzt mein Leben ohne sie führen muss. Und mit dem klarkommen muss, was passiert ist. Die Frage ist nur, ob ich das auch kann.
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Mindless - Eine Party. Eine falsche Entscheidung. Eine ewige Schuld
Genç KurguDer vierte Juli wird für Amber nie ein Unabhängigkeitstag sein. Sie wird nie wieder am vierten Juli feiern und sie wird dieses Datum auch nie wieder vergessen. Egal wie sehr sie es sich auch wünscht. Der vierte Juli erinnert sie daran, dass sie Sch...