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"Ich möchte, dass ihr mit eurem Partner über eure ehrlichen Gefühle bei den Fragen redet. Das Projekt baut auf Wahrheit und Vertrauen. Und denkt daran, es macht 40 Prozent eurer Abschlussnote aus. Mit wem ihr zusammenarbeitet, entscheide ich." Mr. Johnson klatscht nach seiner Rede zufrieden in die Hände und beginnt mit der Partnereinteilung. Er nennt das Projekt "Erkennen, verstehen, mitfühlen - eine Klasse, eine Gemeinschaft" Alleine bei diesem Titel könnte ich schon laut lachen. Glaubt er allen ernstes, ich erzähle irgendeiner fremden Person meine wahren Gefühle? 

"Amber, du wirst mit Raphael zusammenarbeiten" 

Was? Will er mich auf den Arm nehmen?  Wie soll ich bitte mit diesem Jungen an einem Schulprojekt arbeiten? Es fällt mir schon so schwer genug, ihn nicht mit meinem Blick zu fixieren. Und jetzt soll ich auch noch wochenlang mit ihm zusammenarbeiten!

"Hey, Partnerin!" Lässig zieht sich Raphael einen weiteren Stuhl an meinen Tisch und lässt sich darauf fallen. In den Händen hält er einen Briefumschlag, den ihn Mr.Johnson gegeben hat. 

"Ich würde sagen, Amber,  das Schicksal hat uns zusammengeführt", sagt er und ein Lächeln umspielt seine Lippen. Schnell wende ich den Blick von seinen tiefgründigen Augen, um darin nicht hilflos zu ertrinken. 

"Vielleicht", antworte ich ihm und kaue auf meiner Unterlippe herum. Raphael öffnet den Umschlag und holt einen Zettel heraus. 

"In diesem Umschlag sind verschiedene Fragen. Ihr werdet abwechselnd einen Zettel davon ziehen und beide die Frage nacheinander beantworten. Lügen sind verboten, ihr müsst ehrlich antworten. Habt ihr alle Fragen durch, bereitet ihr getrennt jeweils eine Präsentation über den anderen und seine Antworten vor und schreibt etwas über seine Persönlichkeit. Beobachtet euren gegenüber genau und schätzt ein, wie viel er euch erzählt oder wie viel er euch verschweigt", lest Raphael die Anleitung vor. Er streckt mir den Umschlag entgegen. Ich greife hinein und ziehe einen grünen Zettel heraus. 

"Grün ist die Farbe der Hoffnung. Wie sieht es mit deiner Hoffnung aus? Worauf hoffst du im Leben?" , lese ich die Frage vor und lege den Zettel beiseite.

Danke, Mr.Johnson. So tolle Fragen hab ich überhaupt nicht erwartet.

"Du willst darauf nicht antworten" Raphael zieht die Augenbrauen nach oben und lehnt sich nach vorne. Er hat die Hände auf dem Tisch abgestützt. Wunderschöne Hände.

"Anscheinend kennst du mich ja schon ziemlich gut.", sage ich und versuche dabei möglichst lässig zu klingen, um meine Nervosität zu verbergen. Ein Lächeln lässt seine Gesichtszüge erstrahlen, doch dann wird er plötzlich ernst.

"Amber, ich habe dich gestern mit ihm gesehen"

Verwirrt lege ich die Stirn in Falten. Wovon redet Raphael?

"Wen meinst du?"

"Jase"

"DU kennst ihn? Woher?", frage ich ihn verwundert.

"Er hat nicht den weißesten Ruf hier in der Schule. Man kommt zu ihm, wenn man etwas Stress abbauen will"

"Was? Was meinst du damit?"

"Er dealt mit Drogen, Amber. Deshalb hat er auch die Schule geschmissen."

Wie bitte? Das kann nicht sein. Jase hat mir gestern erzählt, er habe die Schule geschmissen, weil er einen Ausbildungsplatz erhalten hat.  Raphael muss ihn verwechseln"

"Das kann nicht sein, Raphael. Ich kenne Jase" 

"DU kanntest Jase, Amber", wirft er dazwischen. "Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen. Als ihr kleine Kinder wart? Er hat sich verändert" 

Wut steigt in mir auf und ballt sich zu einen großen Knoten in meinem Magen zusammen. Was bildet sich Raphael eigentlich ein? Wie kann er so über JJ reden? Sämtliche Sympathie, die ich noch vor wenigen Momenten für ihn übrig hatte, ist verschwunden. Zornerfüllt funkle ich ihn an und kralle die Finger in die Kanten des Tisches. 

"Hör auf damit Raphael. Jase würde sich nie im Leben auf so etwas einlassen!" 

Rapahel lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und erwidert mein böses Funkeln. Aber warum überhaupt? Er hat überhaupt keinen Grund sauer auf mich zu sein! Er ist derjenige, der diesen Mist erzählt! 

"Verdammt, Amber, sei doch nicht so naiv. Du hast ihn doch gesehen. Du hast gesehen, wie fertig er aussieht. Weil er abhängig ist" 

"Hör auf, Raphael! Halt die Klappe!"

Ich kämpfe mit den Tränen an, als die Gestalt von Jase vor meinem geistigen Auge erscheint. Erst der strahlende, junge Jase von früher und dann der magere, blasse Jase mit den ernsten Gesichtszügen und den tiefen, dunkeln Augenringe. Irgendetwas in mir, schenkt Raphaels Geschichte glauben und das macht mich nur noch wütender. 

"Ich hoffe, du triffst die richtigen Entscheidungen, Amber. Ich hoffe, du lässt dich nicht von ihm auf den Boden ziehen. Du bist schon verletzt genug, Amber, das sehe ich in deinen Augen. Bitte sei vorsichtig. Mach die Augen auf" 

Der Schulgong lässt die anderen um uns herum von ihren Plätzen aufspringen und ich schiele vorsichtig nach links und rechts, ob jemand etwas von unsere Unterhaltung mitbekommen hat, aber die anderen scheinen mit sich selbst beschäftigt. 

Ich stehe vom Stuhl auf, stütze mich mit den Handflächen am Tisch ab und beuge mich zu Raphael vor. 

"Es geht dich nichts an, was Jase in seiner Freizeit tut. Du kennst ihn nicht einmal. Er würde nie jemandem Drogen verkaufen und damit dessen Leben zerstören. Weißt du, Raphael, du warst mir von allen hier am sympathischsten. So sympathisch, dass ich von Chloe schon eine Ansage bekommen habe, die Finger von dir zu lassen. Ein paar Minuten zuvor war ich wirklich dabei diese Ansage einfach nicht zu beachten. Aber jetzt gebe ich dich freiwillig auf. Das Projekt Wahrheit und Vertrauen ist schon einmal zwischen uns zwei gescheitert" 

Meine Worte sind hart, dass ist mir bewusst. Aber ich kann und will einfach nicht, dass Raphael recht über Jase hat. Es geht einfach nicht. 

Mindless - Eine Party.  Eine falsche Entscheidung. Eine ewige SchuldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt