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Nicht mal in meinen schlimmsten Vorstellungen hatte ich gefühlt, was ich jetzt fühlte. Verena war von den Ärzten über meinen "Gesundheitszustand" und somit die Fehlgeburt aufgeklärt worden, Laura hatte ich es direkt an meinem zweiten Tag im Krankenhaus erzählt. Es fehlten nur noch meine Brüder, Bernd und vor allem Julian. Ich zog mir gerade eine Jogginghose an, weil Sven und Lars mich gleich mit nach Hause nehmen würden, und ich wusste, dass sie die Ärztin gleich fragen würden, was denn nun der Grund für meinen Zusammenbruch gewesen war. Und ich hatte ihr erlaubt, es den beiden zu sagen. Oder vielmehr war ich froh, dass Frau Dr. Dietrich angeboten hatte, es den beiden an meiner Stelle zu sagen. Ich atmete tief durch, als es an der Tür klopfte. "Herein." Meine Ärztin betrat mit meinen Brüdern im Schlepptau das Zimmer und lächelte mich freundlich an. "Wie ich sehe, sind Sie schon fertig, sehr schön. Einer Ihrer Brüder trägt mit Sicherheit Ihre Tasche. Sie sollten generell in der nächsten Zeit erstmal nichts schweres heben und Sie haben noch zweieinhalb Wochen Sportverbot." "Und in die Uni darf ich auch erst wieder in einer Woche, schon klar", vollendete ich ihren Satz und sie nickte. Lars räusperte sich. "Vielleicht wäre es langsam mal an der Zeit, dass Sven und ich erfahren, wie es überhaupt zu dem Zusammenbruch gekommen ist? Auf was müssen wir in nächster Zeit achten, damit das nicht wieder passiert?" Frau Dr. Dietrich wollte gerade antworten, als mein Herz mit einem Mal schneller schlug und ich einen Schritt zu den dreien machte. Ich wollte nicht, dass sie es erfuhren. Laura und Verena sollten für immer die einzigen bleiben. "Ich hatte zu viel Stress und hab mich im Training zu sehr verausgabt, also nichts dramatisches. Aber ab jetzt erwarte ich jeden Abend eine Entspannungsmassage von euch, nur dass das klar ist." Mit einem aufgesetzten Grinsen zwinkerte ich den beiden zu, die mir die Geschichte zum Glück abkauften. Mit einem Blick zu Frau Dr. Dietrich stellte ich fest, dass sie verstanden hatte, dass ich doch nicht mehr wollte, dass sie den beiden die Wahrheit sagte. "Und jetzt darf einer von euch schön meine Tasche tragen. Ich kann dieses Krankenhaus nicht mehr sehen." Schmunzelnd schnappte Lars sich meine Sachen und wir verabschiedeten uns von meiner Ärztin, die mich zuletzt durchdringend anschaute, als ob sie mich auffordern würde, es den beiden auf jeden Fall noch zu sagen. Aber ich schüttelte leicht den Kopf, drehte mich um und folgte den Zwillingen.

Die Fehlgeburt für mich zu behalten, war schwerer als gedacht. Laura war den Großteil der Woche wegen irgendwelchen Familiensachen weg, ins Training durfte ich nicht und in die Uni durfte ich auch nicht. Na gut, an letzteres hielt ich mich sowieso nicht. Eine halbe Woche Pause hatte ich mir erlauben können, aber seit gestern ging ich wieder hin, da die nächsten Klausuren nicht auf sich warten ließen. Sven und Lars hatten zum Glück die letzten zwei Tage früh morgens Termine wegen einer Werbung gehabt, aber für morgen musste ich mir eine Ausrede einfallen lassen, warum ich zur gewohnten Uni-Zeit die Wohnung verlassen wollte. Seufzend beugte ich mich wieder über meine Bücher. Dieses Kapitel musste ich unbedingt noch durcharbeiten, bevor die beiden zu Hause waren, damit sie nichts bemerkten. Aber mein Kopf dröhnte schon wieder und ich gab es auf. Verzweifelt rieb ich mir die Schläfen und schloss die Augen, weil mal wieder schwarze Punkte vor meinen Augen tanzten. Als ich sie wieder öffente, war mein Kopf gesenkt, und mein Blick fiel automatisch auf meinen Bauch. Noch immer konnte ich mich nicht mit mir selbst darauf einigen, ob ich traurig oder erleichtert sein sollte. Verwirrt traf es deshalb wohl am besten, aber ich konnte eben mit keinem darüber reden. Wie schon öfter in den letzten Tagen, traten mir Tränen in die Augen und ich ließ ihnen einfach freien Lauf, weil ich wusste, dass ich alleine war. In diesem Moment ertönte jedoch die Klingel und ich wischte mir sofort mit den Ärmeln über die Augen und stand auf, um unten die Tür zu öffnen. Wer das wohl war? Sven und Lars besaßen nämlich beide einen Schlüssel und in dieser Hinsicht waren sie auch sehr zuverlässig. Leise seufzend drückte ich den Knopf für die Freisprechanlage. "Bender?" "Emily? Hier ist- deine Mutter." Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Von allen Personen auf der Welt war sie gerade eine derjenigen, die ich nicht gebrauchen konnte. Ich riss mich jedoch zusammen und drückte den grünen Knopf, durch den unten an der Haustür das Surren ausgelöst wurde, damit man reingehen konnte. Es dauerte nicht lang, bis es auch nochmal an der Wohnungstür klingelte und ich mit einer ausdruckslosen Miene öffnete. "Hallo. Sven und Lars sind nicht da, soll ich was ausrichten?" Karin fühlte sich offensichtlich unwohl, riss sich aber zusammen und lächelte mich unsicher an. "Ich wollte eigentlich zu dir. Sven hat mir vorhin geschrieben, dass du vor kurzem einen Zusammenbruch hattest und heute alleine zu Hause bist." Ich zog eine Augenbraue hoch und bewahrte mich um das emotionslose Gesicht. "Du bist also nur hier, weil Sven meinte, dass ich einen Babysitter bräuchte." "Nein! Nein, er hat mir nicht gesagt, dass ich herkommen soll. Aber als ich das gehört habe, wollte ich unbedingt nach dir sehen. Wie es dir geht. Und generell mal mit dir reden." "Mir geht's gut und ich hab kein Interesse daran, mit dir zu reden." "Ach wirklich? Du siehst aber so aus, als ob du gerade erst geweint hättest. Und gesund bist du auch nicht wirklich, wenn ich dich so anschaue." Die Stimme meines Gegenübers war lauter und sicherer geworden und in diesem Moment wurde mir bewusst, woher Sven seine Hartnäckigkeit hatte. Ergeben, weil ich keine Lust auf eine Diskussion zwischen Tür und Angel hatte, nickte ich und machte einen Schritt zur Seite, damit Karin reinkommen konnte. Ich schloss hinter ihr die Tür und beobachtete, wie sie ihre Jacke an den Haken hängte, dann erwachte ich aus meiner kurzen Trance. "Möchtest du was trinken?" "Ja, gerne. Was habt ihr denn so da?" "Wasser, Kaffee und Tee." "Dann einen Tee, bitte." "Welche Sorte?" Ich versuchte nicht genervt zu klingen, aber musste man dieser Frau wirklich alles aus der Nase ziehen? In diesem Moment fiel mir auf, dass ich in dieser Hinsicht oft genauso war und zuckte kurz zusammen. Gerade so bekam ich Karins Antwort mit. "Kamillentee." Ich nickte einfach nur und wies sie an, im Wohnzimmer zu warten, woraufhin sie sofort den Kopf schüttelte. "Ich helfe dir." Sie lächelte bestimmend und ich nickte einfach nur, obwohl ich das absolut nicht wollte. In der Küche holte ich zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie auf die Ablage, dann suchte ich aus meinem großen Teesortiment zwei Beutel Kamillentee heraus. In der Zwischenzeit hatte Karin den Wasserkocher angestellt und jetzt standen wir schweigend da und lauschten dem Brodeln und Blubbern. Irgendwann räusperte Karin sich und nickte in Richtung der Tassen. "Ich war bisher immer die Einzige in der Familie, die Kamillentee getrunken hat. Meine Jungs finden den total ekelhaft." Ich seufzte innerlich, so konnte es nicht weitergehen. "Karin, bitte hör auf. Versuch' nicht, dich bei mir einzuschleimen, es wird nichts bringen. Du bist meine biologische Mutter, nicht mehr und nicht weniger. Und daran wird sich nichts ändern, auch wenn du jetzt nicht mehr die Einzige in der Familie bist, die Kamillentee trinkt." Für einen Moment wirkte mein Gegenüber wie ein verprügelter Hund, dann wurde ihre Miene flehend. "Bitte Emily, ich will doch nur die Möglichkeit haben, für dich da zu sein. Jetzt, wo deine Mutter tot und du hier-" "Stop! Du hast kein Recht meine Mutter auf ihren Tod zu reduzieren, der für dich zur Folge hatte, dass du mich kennengelernt hast! Du bist nicht mehr als eine Fremde für mich, die zufälligerweise dieselben Gene hat und die Mutter meiner Brüder ist, aber damit hört es auch schon auf! Und bevor du auch nur ein weiteres Wort sagst, bitte ich dich die Wohnung zu verlassen!" Wie erschlagen stand Karin vor mir, ihre Lippen zitterten leicht und ihre Augen glänzten. Aber ich schenkte dem keine Beachtung. Wie konnte sie es wagen, Mama im Nachhinein für sich auszunutzen? Wie konnte sie sich überhaupt trauen, Mamas Namen auszusprechen? Mein Blick wanderte auffordernd von meiner Erzeugerin zur Tür und unter meinem wütenden Blick zog sie sich wieder ihre Jacke an und verließ die Wohnung. Durch das Küchenfenster beobachtete ich, wie sie weinend in ihr Auto stieg und davonfuhr. Im nächsten Moment brach ich schluchzend auf dem Küchenboden zusammen.

Plötzlich zwei Brüder?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt