1 (Prolog)

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Es kam mir vor wie gestern, als ich mein ganzes Leben wie einen Scherbenhaufen vor mir hatte zusammenbrechen sehen. Der Tag hatte gut angefangen. Zum Frühstück hatte ich Pfannkuchen gemacht und es mir mal wieder so richtig gut gehen lassen, anschließend war ich zu meinem Freund Jan gefahren, um ihn zum Training zu begleiten. Als Nachwuchsspieler bei Eintracht Frankfurt war das für ihn das Wichtigste, aber ich begleitete ihn gerne und hatte mich auch ein wenig mit den Freundinnen der anderen Jungs angefreundet. An diesem Tag war Jan allerdings grottenschlecht gelaunt gewesen und hatte mich wegen jedem Müll angepöbelt. Da wir beide ziemlich temperamentvoll waren, war der Streit ausgeartet und zwar soweit, dass wir uns jeweils gegenseitig eine heftige Ohrfeige gaben und die Beziehung einstimmig beendeten. Es war nicht der erste Streit dieser Art gewesen und genau deswegen war mir im Nachhinein klar geworden, dass die Trennung richtig war. Heute war auch schon ein Bild aufgetaucht, wie Jan eine andere knutschte und bei mir war endgültig der Geduldsfaden gerissen. Der Typ war einfach ein verdammtes Arschloch und nur jämmerlich, weil er mir nämlich extra noch ein Foto von sich und seiner neuen geschickt hatte. Angeblich war ich nur aus Versehen im Verteiler gelandet, aber das konnte er seiner schwerhörigen Großmutter erzählen, ich glaubte ihm kein Wort. Tja, auf jeden Fall hatte ich mich wütend und verletzt auf den Weg ins Krankenhaus gemacht, wo meine Mutter nach einer Blinddarmoperation lag. Als ich dort ankam, hieß es zuerst, dass die Narbe sich entzündet hätte und die Ärzte das operativ wieder in den Griff bekommen würden. Zwei Stunden später war sie tot. Beim Gedanken daran, wie ich heulend zusammengebrochen war, breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Zitternd schüttelte ich mich und konzentrierte mich darauf, die letzten Sachen in meinen Rucksack zu packen. Das war nämlich sozusagen das Sahnehäubchen des ganzen Scheiß-Tags. Meine Mutter hatte mir einen Brief hinterlassen, in dem sie mir beichtete, dass mein Vater damals eine Affäre gehabt hatte und meine leibliche Mutter mich weggegeben hatte, um ihre Ehe nicht zu zerstören. Mama hatte mich dann adoptiert und meine Eltern hatten nie wieder darüber geredet. Im Brief hatte sie mir einen Namen und eine Adresse aufgeschrieben, die sie einige Wochen zuvor besorgt hatte. Und ich war fest entschlossen, meine leibliche Mutter zu finden und ihr ordentlich die Meinung zu sagen. Mit einem Ruck zog ich den Reißverschluss meines Rucksacks zu und schulterte ihn. Dann ließ ich meinen Blick durch mein Zimmer schweifen, das sich seit Mamas Tod schrecklich leer anfühlte. Seufzend drehte ich mich um und ging die Treppe nach unten. Noch einmal kontrollierte ich, ob alle Fenster geschlossen und alle Geräte ausgeschaltet waren, dann griff ich nach meinem Autoschlüssel und verließ das Haus. Die Fahrt nach Köln verlief gut, es war kaum Stau und schneller als erwartet, hatte ich mein Ziel erreicht. In Schrittgeschwindigkeit fuhr ich durch die Straßen auf der Suche nach dem richtigen Haus. Und dann hatte ich es gefunden. Wie erstarrt trat ich auf die Bremse und musterte das Haus mit dem ordentlich angelegten Vorgarten. Zitternd lenkte ich meinen Wagen an den Straßenrand und parkte, dann stieg ich aus und näherte mich vorsichtig dem Haus. Zweifel kamen in mir auf. Was wollte ich meiner leiblichen Mutter überhaupt sagen? Oder wie sollte ich reagieren, wenn ihr Mann aufmachte? Wie sollte ich mich dann erklären? Meine Entschlossenheit war wie weggeblasen und dann haute mir das Schicksal mitten ins Gesicht, denn in diesem Moment würde die Haustür geöffnet und ein Mann, eine Frau und zwei junge Männer, die offensichtlich Zwillinge waren, kamen heraus. Die Ähnlichkeit ließ sich nicht leugnen und mir lief es kalt den Rücken hinunter. Aber ich konnte nichts tun. Ich fühlte mich wie zur Eissäule erstarrt und stand einfach nur mitten auf der Straße und musterte diese Familie. Ich hätte ein Teil davon sein können. Ich könnte jetzt zwischen den Zwillingen stehen und mit ihnen lachen. In diesem Moment entdeckte mich der rechte Junge und schaute mich verwirrt und fragend an. Aber ich registrierte es kaum, genauso wenig das Geräusch von quietschenden Reifen, das immer näher kam. Doch schließlich war es so ohrenbetäubend, dass ich erschrocken zusammenzuckte und nach rechts schaute. Direkt in die hellen Scheinwerfer eines Mercedes'. Bevor ich etwas tun konnte, wurde ich plötzlich zur Seite gerissen und nur den Bruchteil einer Sekunde später, raste das Auto an der Stelle entlang, an der ich gerade gestanden hatte. Erst jetzt realisierte ich, dass ich gerade fast von einem Auto angefahren worden wäre. Die Erkenntnis sorgte dafür, dass sich auf meinen Armen eine Gänsehaut bildete und ich zu zittern begann. Ich begann leise zu weinen und konnte einfach nichts dagegen tun. Aber dann waren da vier Arme, die sich um mich schlangen und mich festhielten. Ich wusste nicht genau, wie lange ich so da saß, aber irgendwann versiegten die Tränen und ich starrte nur noch auf den grauen Teer vor mir. Da fiel mir auf, dass ich immer noch umarmt wurde, weshalb ich mich peinlich berührt räusperte und sofort losgelassen wurde. Beschämt schaute ich nach rechts und links, wo die beiden Zwillinge saßen. "Alles gut?", fragte mich der eine und ich nickte schwach. "Danke, dass ihr mich weggezogen habt." "Keine Ursache. Wieso bist du nicht selbst weggelaufen?" Ich zuckte die Schultern. Die Jungs standen auf und hielten mir beide eine Hand hin, sodass ich mich daran hochziehen konnte. Mein Blick glitt zu dem Haus mit dem Vorgarten. Die Eltern der Zwillinge standen in der Tür und unterhielten sich, wobei die Frau flehend wirkte und der Mann wütend. Ich schluckte und überquerte zusammen mit den Zwillingen die Straße. Scheu blieb ich am Gartentor stehen. "Also dann, danke nochmal." "Wie gesagt, keine Ursache. Aber willst du nicht vielleicht noch kurz mit rein? Oder wo wolltest du hin?" Ich schluckte. "Eigentlich wollte ich wahrscheinlich zu euch." Verwirrte Blicke begegneten mir und ich seufzte, bevor ich mich aufrichtete und erhobenen Hauptes auf das streitende Ehepaar zuging. "Mein Name ist Emily Keil, hallo Frau Bender. Oder sollte ich lieber Mama sagen?"

Plötzlich zwei Brüder?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt