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In den nächsten Wochen lief alles nach Routine. Ich ging zur Uni, Sven und Lars gingen zum Training, ab und zu begleitete ich sie und das Wetter konnte sich einfach nicht für warm oder kalt entscheiden, sodass man nie wusste, was man morgens anziehen sollte. Nur eine einzige Sache veränderte sich. Jans Nachrichten. Sie wurden mehr, sie wurden drohender, sie nahmen mehr und mehr Platz in meinem Leben ein und die Angst war mittlerweile mein ständiger Begleiter. Irgendwie hatte ich es geschafft, dass Sven und Lars nichts davon mitbekommen hatten, denn Jan würde ihnen sonst etwas antun, daran zweifelte ich kein bisschen. Er war krank, ein Psychopath, und trotzdem wurde mein Herz von purer Panik ergriffen, wenn ich irgendwo allein war. Jetzt gerade war ich zum Glück in Sicherheit, denn ich durfte mal wieder beim Training der Jungs mitmachen, da es unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand und nächste Woche kein Spiel anstand. Wir hatten schon eine Weile Übungen gemacht, jetzt folgte ein Trainingsspielchen. Bernd ging für das Team mit Lars ins Tor, ich ging im Team mit Sven ins Tor. Mittlerweile hatte ich die Namen der Jungs relativ gut drauf, aber meistens rief ich einfach nur "Du da!" oder etwas Ähnliches. Das Spiel war gut, schnelle und trotzdem präzise Ballwechsel, gut erspielte Möglichkeiten über die Außenflügel. Ein oder zwei Mal musste ich einen Ball parieren, ansonsten blieb es bei mir ruhig. Fast schon gelangweilt ließ ich meinen Blick kurz schweifen und hielt in der Bewegung inne. Der Typ auf der anderen Seite des Geländes starrte zu mir rüber und ich war mir sicher, dass es Jan war. Ich spürte, wie meine Finger zu zittern begannen, dann mein ganzer Körper. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter und in diesem Moment hörte ich Jubel und wachte ruckartig auf. Neben mir rollte der Ball, offensichtlich hatte ich nicht mitbekommen, dass ich ein Tor hätte verhindern müssen. Noch immer wie in Trance und mit starrem Blick holte ich den Ball aus dem Netz, doch jetzt beendete der Trainer das Training und schickte uns zum Umziehen. Ich sprintete fast schon in die Umkleide und lief sofort zu meiner Tasche. Und ich hatte es eigentlich schon befürchtet: obenauf thronte ein Zettel, auf dem ich Jans krakelige Schrift erkannte. Ich griff danach, knüllte ihn jedoch sofort zusammen und schmiss ihn in den Mülleimer. Es stand vermutlich drauf, dass ich toll gespielt hatte. Das war schon zwei Mal vorgekommen, aber ich hatte es immer erfolgreich ignoriert und so machte ich es auch jetzt. Eilig griff ich nach meinem Handtuch in meiner frischen Unterwäsche und verschwand unter die Dusche. Als ich zurückkam, waren die letzten Jungs gerade erst reingekommen. Darunter auch meine Brüder. Beide warfen mir besorgte Blicke zu, aber ich zog mich einfach schnell an, schulterte meine Tasche und ging schonmal raus. Vor dem Trainingsgelände blieb ich stehen und beobachtete den Eingang. Eine Weile stand ich einfach so da, dann spürte ich plötzlich einen warmen Atem an meiner Wange. Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich um. Jan grinste bloß. "Hallo Schönheit. Na, freust du dich mich zu sehen?" "Was willst du Jan?" "Na dich, was sonst?" Ich versuchte meiner Stimme mehr Festigkeit zu verleihen. "Es ist aus zwischen uns und das schon fast zwei Monate. Sieh' es endlich ein und hör' auf mich zu stalken!" So schnell konnte ich gar nicht gucken, da hatte mein Exfreund mein Handgelenk gepackt. Ich versuchte es zu befreien, aber sein Griff war zu stark. "Jetzt hör' mir mal gut zu Püppchen. Erst machst du mit mir Schluss und jetzt angelst du dir hier gleich den Nächsten. Ich seh' doch welches Spiel du hier spielst, kleine Schlampe. Aber damit kommst du nicht durch." Mir traten Tränen in die Augen, mein Handgelenk pochte. "Lass' mich los, Jan, bitte!" "Oh, werden wir jetzt etwa ängstlich?" Ich antwortete nicht, sondern wimmerte leicht, als er seinen Griff nochmal verstärkte. Und dann wurde ich gerettet. "Hey! Lass' sie sofort los!" Im nächsten Moment wurde Jan von mir weggerissen und ich brach weinend zusammen. Vorsichtig rieb ich mir über mein Handgelenk, das schon rot und blau war. Als ich hochschaute, sah ich einen Spieler, den ich bis jetzt kaum wahrgenommen hatte. Aber das würde ich ab jetzt umso mehr tun. Seine hellblonden Haare waren noch leicht feucht und er drückte Jan auf den Boden, während sein Blick auf den Eingang des Trainingsgeländes gerichtet war. Dort erschien in diesem Moment Bernd, der uns sofort sah und losrannte. Er übernahm Jan und Julian, mein Retter, kam zu mir. Noch immer liefen Tränen meine Wangen hinunter, aber ich schluchzte nicht mehr. Vorsichtig nahm der Mittelfeldspieler mich in den Arm und hielt mich einfach nur fest. Als ich mich schließlich etwas beruhigt hatte, kamen gerade Sven und Lars nach draußen. Sie entdeckten die Menschentraube, da auch einige anderen Spieler mittlerweile da waren, und rannten sofort zu uns. Sven lief zu mir, Lars zu Jan. Als dieser hochschaute, starrte mein großer Bruder erst ihn an und dann mich. "Ist das Jan?", fragte er, und ich nickte. Ohne weitere Worte holte Lars aus und haute meinem Ex eine rein. Ich zuckte zusammen, aber er hatte es verdient. Noch immer zitternd lehnte ich mich an Julian, dann ertönten in der Nähe lauter werdende Polizeisirenen. Lars kam jetzt auch zu mir und stellte sich vor mich. "Was ist passiert?" Ich schluckte. "Er hat mich gestalkt. Seit Wochen. Ich glaube er hat auch Kameras in der Wohnung installiert. Und dann hat er mir hier aufgelauert und mich gepackt und-", ich brach ab, weil ich wieder weinen musste, und dieses Mal wurde ich von drei Jungs umarmt. Nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten, schaute Sven mich enttäuscht an. "Wieso hast du nicht mit uns geredet?" "Er hat gesagt er tut euch was, wenn ich es euch erzähle. Und das hätte ich ihm auch zugetraut." Lars stieß laut die Luft aus, dann erschien vor mir eine Polizistin. "Sind Sie das Opfer, Emily Keil?" Ich nickte. "Gut, kommen Sie bitte mit auf die Wache, damit wir den Vorfall klären können." Wieder nickte ich und drehte mich dann zu den Jungs um. "Kommt ihr mit dem Auto nach?", erkundigte ich mich bei meinen Brüdern, die sofort nickten, wir umarmten uns kurz, dann liefen sie zu Svens Wagen. Julian stand immer noch vor mir und kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. Ich lächelte ihn an. "Danke. Das hätte noch richtig eskalieren können." "Keine Ursache. Als ich euch gesehen hab, war mir sofort klar, dass was nicht stimmt. Wer ist der Typ?" "Mein Exfreund, auch ein Fußballer, aber kein besonders guter. Wir haben uns getrennt, kurz bevor ich Sven und Lars kennengelernt habe, und er hat es wohl nicht akzeptieren wollen." Julian nickte. "Sieht so aus. Also dann, bis zum nächsten Training vielleicht." Ich nickte und wollte mich schon umdrehen, als die Nummer 10 nachsetzte: "Oder schön früher, wenn du willst?" Verwirrt schaute ich ihn an. "Was meinst du?" "Na ja, würdest du mal mit mir eine Kaffee trinken gehen oder so?" Ich grinste ihn an. "Ich kann Kaffee nicht ausstehen, aber eine heiße Schokolade nehm' ich gerne. Meine Nummer kriegst du bestimmt von Sven oder Lars." Ich zwinkerte Julian nochmal zu, dann drehte ich mich endgültig um und folgte der Polizistin, wissend, dass der Blick des blonden Mittelfeldspielers immer noch auf mir lag.

Plötzlich zwei Brüder?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt