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Ich atmete ein letztes Mal tief durch und musterte mich im Spiegel. Meine Haare hatte ich mir von fast schwarz wieder zum ursprünglichen blond gefärbt, dank Schlaftabletten hatte ich in den letzten Nächten gut durchgeschlafen und keine Augenringe mehr, insgesamt sah ich viel gesünder und fröhlicher aus. Aber glücklich war ich trotzdem nicht. Dabei hätte ich allen Grund dazu gehabt. Im Verein lief es richtig gut und wir machten uns begründete Hoffnungen auf den Aufstieg, die Jungs waren auch relativ gut in die Saison gestartet, ich ging weiterhin in die Uni und bekam momentan alles ziemlich gut unter einen Hut und Lars' neue Freundin Nele hatte sich als ziemlich nett herausgestellt. Aber leider war ich eine 20-Jährige, die gerade ein Kind verloren hatte und dem heute eine unangenehme Aussprache anstand. Am liebsten hätte ich mich geohrfeigt. Wie war ich auf die bescheuerte Idee gekommen, Karin zu fragen, ob sie von Köln zu mir kommen könnte? Der Gedanke war mir nach einem längeren Gespräch mit Bernd gekommen. Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und nickte leicht. Heute würde ich nicht ausrasten, sondern ruhig und höflich bleiben. Keine Tränen, kein gar nichts. Einfach entschuldigen und sie wieder nach Hause fahren lassen. Entschlossen griff ich nach meinem Handy, um die Uhrzeit zu checken. Da mein Arm immer noch nicht ganz verheilt war, durfte ich noch nicht wieder Auto fahren. Kairn schon, da ihre Bänder ja nur überdehnt waren. Sie hatte sich für in fünf Minuten angekündigt. Sven und Lars hatten glücklicherweise Training und mir versprochen, dass sie sich anschließend irgendeine Beschäftigung suchen würden, die außerhalb der Wohnung stattfand. Nervös verließ ich das Badezimmer und ging nach unten in die Küche, wo ich heißes Wasser für Tee aufstellte. Ich hatte gerade zwei Tassen mit Teebeuteln gefüllt, als es klingelte. Mit einem Blick auf die Uhr rechnete ich aus, wann die Beutel raus mussten, dann lief ich zur Wohnungstür und öffnete. Karin lächelte nervös, aber glücklich und ich war sofort überfordert. Sollte ich ihr vielleicht die Hand schütteln? Oder einfach nur reinbitten? Ich entschied mich für zweiteres. "Hey, komm' rein." Sie folgte der Aufforderung und ich nahm ihr die Jacke ab. "Du kannst dich schonmal ins Wohnzimmer setzen. Ich hoffe, Kamillentee ist okay?" Meine Erzeugerin grinste leicht und nickte, dann lief sie nach links und ich nach rechts in die Küche. Dort wartete ich noch kurz und lief dann mit den Tassen ins Wohnzimmer. Vorsichtig stellte ich die dampfenden Getränke ab und setzte mich neben Karin auf das Sofa. Für einen Moment herrschte Stille, dann räusperte ich mich. "Wie geht's deinem Fuß?" "Es tut ab und zu noch weh, aber ansonsten wieder gut. Und deinem Arm?" "Ist noch nicht ganz verheilt, deshalb hab ich auch noch Fußballverbot, aber es wird besser. Sorry nochmal, dass ich dich angefahren habe. Ich war einfach müde und hab nicht aufgepasst." "Es ist nicht deine Schuld, Emily. Ich habe auch nicht aufgepasst und zum Glück ist ja nichts allzu schlimmes passiert." Ich nickte nur und hatte keine Ahnung, wie ich jetzt zum eigentlichen Anlass des Gesprächs kommen sollte. Glücklicherweise redete Karin ziemlich gerne. "Aber, um mich das zu fragen, hast du mich heute nicht hergebeten, oder?" Ich schüttelte den Kopf, sie lachte leicht. "Ich kann dir leider nicht alles aus der Nase ziehen." "Es tut mir Leid", platzte es aus mir heraus, "Es tut mir Leid, was ich dir alles an den Kopf geworfen habe, als du hier warst und Sven und Lars nicht. Ich wollte nicht so fies sein, mir ging es nur einfach nicht gut und das ist natürlich keine Entschuldigung, aber es tut mir unglaublich Leid und ich hoffe du kannst mir verzeihen, dass ich so egoistisch und gemein war." Karin saß für einen Moment wie erschlagen vor mir, dann breitete sich ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen aus. "Mir tut's auch Leid. Ich hätte dich nicht so überfallen dürfen und natürlich habe ich kein Recht über deine Mutter zu sprechen." Ich seufzte und schüttelte den Kopf. "Du kannst reden über wen du willst, auch über meine Mutter. Du hast ja nichtmal wirklich was negatives gesagt. Ich hab überreagiert." "Wir waren beide Schuld, dass es so eskaliert ist. Aber ich bin froh, dass du dich entschuldigt und mir auch die Chance dazu gegeben hast." Ich nickte und dann herrschte erstmal Stille, bevor Karin wieder das Wort ergriff. "Möchtest du mir vielleicht erzählen, wieso es dir an dem Tag so schlecht ging?" Ich schluckte. Wollte ich das? Eigentlich wollte ich Karin aus meinem Leben raushalten, aber sie war eben eine Mutter, die sich sorgte, auch wenn sie das in den letzten 20 Jahren nicht getan hatte. Also seufzte ich und nickte leicht. "Es waren mehrere Dinge zusammen. Kurz davor war ich ja im Krankenhaus wegen dem Zusammenbruch und eigentlich ging es mir immer noch nicht wieder richtig gut. Kurz bevor du kamst bin ich außerdem an einem Kapitel für die Uni verzweifelt, weil ich total müde und kaputt war. Aber der Hauptgrund war, dass ich-" Unbewusst stockte ich. Jetzt war die letzte Möglichkeit sich noch anders zu entschieden. Aber genau in diesem Moment griff Karin nach meiner Hand und drückte sie leicht. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich Karin eigentlich gar nicht mehr aus meinem Leben weghaben wollte, sondern dass ich immer nur verdrängt hatte, wie sehr ich sie gebraucht hätte. Tief durchatmend nickte ich leicht. "Ich war schwanger und hatte eine Fehlgeburt. Deshalb bin ich zusammengebrochen und deshalb ging es mir an dem Tag so schlecht." Entsetzt und geschockt schaute Karin mich an, dann zog sie mich einfach in eine Umarmung. Und aus irgendeinem Grund begann ich zu weinen. Es war wohl eine Mischung aus der Trauer um Johanna und der Erleichterung, wieder eine Mutter zu haben, die für mich da war. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, begann ich ihr alles von Anfang an zu erzählen, und zwar wirklich von Anfang an. Ich begann bei Jan, wie er mich ganz am Anfang meiner Zeit in Leverkusen belästigt hatte, wie Julian und ich uns irgendwie näher gekommen waren, wie Bernd mein bester Freund geworden und ich in die Frauenmannschaft gekommen war, und dass ich mich an den Abend beim Feiern nur noch bruchstückhaft erinnern konnte, weshalb ich bis im Krankenhaus nichts von der Schwangerschaft gewusst hatte. Zuletzt berichtete ich Karin von den verschiedenen Reaktionen, angefangen bei Verena bis hin zu Julian. Dabei nannte ich ihr auch den Namen, den wir dem Baby gegeben hatten. Meine Mutter lächelte sanft, als ich geendet hatte. "Johanna ist ein wunderschöner Name. Aber was wird jetzt aus dir und Julian?" Ich seufzte und zuckte die Schultern. "Wenn ich bei ihm bin, dann kribbelt alles und ich fühle mich geborgen und irgendwie auch geliebt, aber ich kann im Moment einfach nicht mit ihm zusammen sein." "Wieso nicht?" "Zum einen, weil ich wegen Uni und Fußball überhaupt keine Zeit habe, und zum anderen ist es seit Johanna irgendwie komisch zwischen uns. Ich weiß auch nicht." "Aber ich weiß. Du solltest mit Julian reden. Ihr trauert beide um Johanna, aber jeder für sich allein, obwohl das nicht sein muss. Ihr habt euch, könnt euch gegenseitig Halt geben. Glaub mir, ein sicherer Hafen in einer Person kann unheimlich wertvoll sein." Ich atmete tief durch und nickte dann. "Wahrscheinlich hast du Recht." Sie grinste leicht. "Mütter haben meistens Recht." Ich erstarrte einen Moment, dann stellte ich fest, dass sich das gar nicht mehr schlimm anhörte. Sie war meine Mutter. Sie war nicht meine Mama, aber sie war meine Mutter. Und deshalb nickte ich und begann zu lachen und Karin fiel offensichtlich erleichtert mit ein. Und so saßen wir in Svens, Lars' und meiner Wohnung auf dem Sofa und lachten einfach nur. Ich lag immernoch halb ich Karins Armen und fühlte mich wohl, wie eine Tochter bei ihrer Mutter.

Hach ja, #familygoals. Wie findet ihr es, dass Emily und Karin sich versöhnt haben? Ich denke, es wurde langsam mal Zeit, zumal wir uns dem Ende des Buches nähern. Über euer Feedback bin ich wie immer gespannt!
_C_

Plötzlich zwei Brüder?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt