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Alexia

Die nächsten Tage ziehen wie Wolken an einem stürmischen Tag an mir vorbei. Ich verbringe viel Zeit bei Rayan. Scarlett und ich verstehen uns wirklich gut. Ab und zu habe ich das Gefühl, dass Rayan das nicht so passt und auch Phoenix scheint es nicht zu gefallen. Mehr als drei Worte habe ich mit ihm bis jetzt nicht gewechselt und böse gucken, scheint seine Lieblingsbeschäftigung zu sein. Ich hoffe, es liegt nicht an mir, sondern an seinen Prüfungen und den fehlenden Streetdance und Partys. Scarlett hat mir nämlich erzählt, dass momentan nichts dergleichen stattfindet, weil viele von ihnen im Lernstress stehen. Verständlich, wenn sie was aus sich machen wollen. Glücklicherweise ist Rayan nicht so. Er hat schon viel erreicht und so genieße ich abends, ganz besonders im Bett, seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Als er nach unserem Bettsport eingeschlafen ist, kann ich, aus welchen Gründen auch immer, nicht schlafen und schleiche in die Küche, um mir etwas zu Trinken zu holen. Im Gästezimmer brennt noch Licht. Soll ich oder soll ich nicht? Ach was soll's. Wenn sie keine Zeit hat, dann wird sie mich schon rausschmeißen. Zaghaft klopfe ich und stecke dann den Kopf durch die Tür. Scarlett liegt auf ihrem Bett und sieht etwas verloren aus. »Darf ich?« »Klar. Komm rein.« Sie setzt sich auf und ich nehme die Einladung an und lasse mich auf ihr Bett fallen. »Was gibts denn?«, fragt sie und in ihrer Stimme schwingt eine gehörige Portion Neugier mit. »Rayan schläft, den habe ich platt bekommen«, erwidere ich grinsend und sehe, wie Scarlett die Augen aufreißt. Verstehe ich gar nicht. Sie kann genauso sein, dass weiß ich von Rayan. Außerdem höre ich sie und Phoenix auch ab und zu. Sie spielen dann eindeutig keine Karten. »Geht es dir gut?«, schiebe ich als Frage hinterher. Ich weiß von ihrem Zusammenbruch. Rayan hat es mir erzählt, und zwar nicht ohne Hintergedanken. Er hat es zwar nicht direkt gesagt, aber ich habe den Wink verstanden. Sie muss da nicht alleine durch. Nicht nur Phoenix ist für sie da. Auch Rayan und ich sind es. »Ja alles gut.« Sie versucht sich an einem Lächeln, doch es schafft den Weg zu ihren Augen nicht. »Scarlett, du brauchst nicht lügen. Wir sind deine Familie und hier darfst du auch mal schwach sein. Dafür verurteilt dich hier niemand.« Mit großen Augen sieht sie mich an und dann löst sich die erste Träne aus dem Augenwinkel, schnell gesellen sich viele andere dazu. Ich breite die Arme aus und ziehe sie in eine Umarmung, streiche ihr beruhigend über den Rücken. Stockend beginnt sie sich alles von der Seele zu reden. Ich kenne schon einige Sachen, aber diesmal lässt sie anscheinend nichts aus. Sie erzählt von ihrem Scheinfreund, von ihrem Traum, ihrer Leidenschaft, von den Snobs, von ihren Eltern und schließlich auch das sie kein Geld hat. Die Konten haben die Eltern eingefroren und sie hat wortwörtlich nichts mehr. Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Und wieder tauchen Fragen bezogen auf meine Eltern in mir auf. Würden sie auch so weit gehen? Würden sie mich auch auf die Straße setzen? Diese Fragen kann ich nicht einfach mit Nein beantworten. Scarletts Geschichte bringt mich zum Nachdenken. Soll ich versuchen einen Schritt auf meine Eltern zu zugehen? Ich habe doch nur diese einen Eltern. Sie haben mir schließlich das Leben geschenkt. War ich vielleicht ihnen gegenüber unfair, weil ich immer das Gefühl hatte, und noch habe, im Schatten meiner Schwester zu stehen? Mit all dem sollte ich mich später befassen. Jetzt ist etwas anderes wichtiger. Scarlett hat kein Geld und ich habe vielleicht die Lösung.

»Das Geldproblem kriegen wir zu erst in den Griff. Allerdings unter einer Bedingung.« Ich kann deutlich die aufsteigenden Fragezeichen über ihrem Kopf erkennen. »Hör auf dich jeden Tag bei Rayan zu bedanken, sonst schmeißt er dich irgendwann deswegen raus. Er mag dich und du bist die Freundin seines besten Freundes. Es ist für ihn selbstverständlich.« Sobald ich die Worte ausgesprochen habe, kann ich nicht mehr an mich halten und pruste los. Allein das Bild wie Scarlett jeden Tag mehr als einmal »Danke« sagt und Rayans genervter Blick, lassen mich lachen. Wäre ich in ihrer Situation, wäre ich wahrscheinlich auch so. Ich weiß aber, dass es für Rayan das Normalste der Welt ist. Er macht das gerne. So etwas macht man als Familie. Genau dieses Wort beschreibt die PCrew, das habe ich nach so kurzer Zeit schon festgestellt. Sie sind eine Familie und halten zusammen, egal was kommt. Sie stehen füreinander ein. Einer hilft dem anderen ungefragt auf die Beine.

»Okay. Und wie soll ich das Problem jetzt in den Griff bekommen?«, fragt sie zerknirscht und ein bisschen ungeduldig. Ich kann sie verstehen und doch möchte ich nicht in ihrer Haut stecken. Aber sie ist stark und ich bewundere sie für ihren Mut. »In dem kleinen Café in der Innenstadt suchen sie eine Kellnerin«, sage ich, um sie nicht noch weiter auf die Folter zu spannen. Nervös fährt sie sich durch ihre Haare. Hat sie so etwas schon mal gemacht? Wahrscheinlich nicht. Sie brauchte vorher nie arbeiten, wenn ich das richtig verstanden habe. »Ich habe so etwas noch nie gemacht. Ich habe noch nie gearbeitet« bestätigt sie meine Vermutung. »Macht nix. Kriegen wir hin. Lass und morgen Nachmittag da treffen. Der Besitzer ist ein Freund meines Vaters.« So ganz stimmt die Aussage nicht, aber um das zu erklären, würde es die ganze Nacht dauern. Außerdem ist es nicht wichtig.

Es dauert ein bisschen Scarlett zu überzeugen, es zu versuchen. Doch als ich das geschafft habe, schleiche ich mich zu Rayan ins Bett. Mit ihm verknotet schlafe ich ein und träume von meiner Familie. Ich habe schon lange nicht mehr von ihnen geträumt. Ich träume von Boris und seiner Geschichte.

Boris, der Café Besitzer, ist um einige Ecken mit mir verwandt und ist zusammen mit meinem Vater zur Schule gegangen. Dann kam er hierher, um zu studieren, scheiterte jedoch und eröffnete mit seiner Frau Linda das kleine Café »Zeitvertreib«. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat mein Vater den Kontakt einschlafen lassen, weil Boris ja nur ein Café besitzt. Megan und ich sind schon Tage, nachdem wir hierher gezogen sind, in dieses Café gegangen. Ich wollte Boris kennenlernen und es stellte sich heraus, dass er ein sympathischer, lustiger Mann ist. Ich mag ihn genau wie seine Frau Linda. Oft bin ich in dem Café, denn dort gibt es den besten Kaffee und die besten Schokomuffins aller Zeiten. Außerdem ist es mit viel Liebe eingerichtet und man fühlt sich sofort wohl. So geht es mir zumindest und den anderen anscheinend auch, denn das Café ist immer gut besucht.

Boris erzählte mir mal von meinem Vater. Früher hatten sie viel Spaß, waren sogar die besten Freunde. Doch auf einmal änderte sich alles. Er sprach es nie aus, aber ich war mir sicher, dass mein Vater daran Schuld war, denn er sah nur noch die Karriereleiter und ließ viele auf dem Weg nach oben zurück. Sie waren ihm nicht mehr fein genug. Als angehender Jurist konnte er sich nicht mit Studienabbrechern umgeben. Mein Vater ist wirklich gut in seinem Job als Strafverteidiger, aber er hat die Menschlichkeit aus den Augen verloren.

Leicht gerädert mache ich mich am Morgen danach für die Uni fertig. Um 15 Uhr treffe ich mich mit einer sichtlich nervösen Scarlett vor dem Café. Boris begrüßt mich mit einer Umarmung und ich stelle ihm die potentielle Mitarbeiterin vor. Ich habe nach der Uni kurz mit ihm telefoniert und ihm die Situation erklärt. Er weiß also, dass Scarlett noch nie gearbeitet hat.

Scarlett ist außer Rand und Band, als sie keine 10 Minuten später den Job hat. Mit einem Zwinkern verabschiede ich mich von Boris und gehe mit Scarlett nach Hause. Samstag und Sonntag soll sie im Café Probearbeiten und wenn sie nicht den Laden in Schutt und Asche legt, hat sie den Job sicher.

*Hab Geduld mit ihr. Es ist ihr allererster Job* schreibe ich Boris Samstag morgen zur Erinnerung. Seine Antwort kommt schnell.

*Wenn ich dich nicht so gut leiden könnte, würde ich mir keine Anfängerin ins Haus holen. Für dich drücke ich beide Augen zu*

Dafür könnte ich ihn knutschen. Hoffentlich läuft alles glatt.

Mit Megan verbringe ich den Nachmittag, um sie über Rayan auf den neusten Stand zu bringen und um ein wenig zu lernen, da eine Klausur ansteht. Mein Handy reißt uns aus unserer Trance.

*Sweety, das Café besitzt bald nur noch Papptassen*

Oh je, da ist wohl einiges zu Bruch gegangen.

*Ich mach das wieder gut*

*Ja ja. Spar dein Geld. Wird schon klappen. Sie ist nett und lernt schnell*

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen und als ich Megan die Nachrichten von Boris zeige, steigt sie mit ein und äfft Boris nach. Keine kann das so gut wie sie. An ihr ist eine Schauspielerin verloren gegangen. Wieso sie Jura studiert, ist mir schon lange ein Rätsel.

Zwei Tage später erzählt Scarlett mit leuchtenden Augen von ihrem Job und ich kann ihr deutlich ansehen, dass sie stolz auf sich ist und das kann sie auch sein. Sie ist eine starke Persönlichkeit und aufgeben gehört, trotz der Umstände, nicht zu ihr. Zur Feier des Tages stoßen wir mit Sekt an. Scarlett erzählt, wild gestikulierend und lachend, von ihren ganzen Fettnäpfchen. »Also ich an Boris Stelle hätte mich nicht eingestellt«, schließt sie ihre Erzählung ab. Da mag sie recht haben, aber das zählt nicht. Es zählt, dass sie jetzt Geld verdient. Der Abend ist herrlich entspannt, bis Rayans Telefon klingelt und er den Raum verlässt und sogar die Tür schließt. Was stimmt hier nicht?

1,2 oder 3? Herz verschenkt... ✔ #LeseLiebe18 #Lagune18Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt