2. Kapitel: Amnesie

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Meine Erinnerungen werden vielleicht nie wieder zurückkommen.Die ganze Nacht bin ich mit kurzen Unterbrechungen wach gelegen, ständig ist mir dieser Satz durch den Kopf gehuscht. Und das macht mir Angst. Ich will mich erinnern können. Ich will wissen, was für ein Leben ich geführt habe. Immerhin weiß ich jetzt meinen Namen: Jocelyn Oder Josy. Die Kleine - Maria - hat mir das gestern noch ganz stolz erzählt. Nur... In welcher Verbindung sie zu mir steht, weiß ich immer noch nicht. Sie haben mir meinen Vornamen gesagt. Und das war's. Wie alt ich bin? Keine Ahnung. Wo ich bin? Keine Ahnung. Warum ich hier bin? Keine Ahnung. Was wäre denn so schlimm daran, mir das einfach zu sagen? Vielleicht darf ich mich nicht aufregen. Aber dann könnten sie mir wenigstens sagen, was genau mir zugestoßen ist. Man bekommt ja wohl nicht aus heiterem Himmel eine Amnesie und bricht sich den Fuß.

Ich presse meine Lippen fest zusammen, starre mal wieder auf das Bild mir gegenüber. Eigentlich hätte ich Hunger. Aber es ist erst halb sieben Uhr in der Früh. Trotz allem scheint die Sonne durch die großen Fenster zu meiner Linken.

Jocelyn. Ich klammere mich an den Namen, als könnte er mir mehr verraten. Jocelyn. Josy. Jocelyn. Schöner Name. Meine Eltern scheinen das gut gemacht zu haben. Wenn sie es waren, die meinen Namen ausgesucht haben. Vielleicht war ich ein Waisenkind. Vielleicht bin ich auch im Heim aufgewachsen. Vielleicht waren aber auch die Beiden gestern Nachmittag meine Familie.Langsam stehe ich auf, schleppe mich ins Bad.

Schön, langsam könnten die mir echt was zu essen bringen. Ich stütze mich am Waschbecken ab, sehe in den Spiegel. Eine junge Frau starrt mir entgegen. Braune Haare, braune Augen. Schmales Gesicht. Sie ist hübsch. Ich bin hübsch. Bis auf die riesige Schürfwunde quer über mein Gesicht und das große Pflaster, das auf meiner Stirn prangt. Was habe ich gemacht, dass ich solche Verletzungen habe? Vorsichtig fahre ich über meine Wange, zucke zusammen. Es tut weh. Natürlich tut es weh.

„Jocelyn?" Ich fahre herum, taumele leicht. Mein Name.

„Ja?" Ich humpele aus dem Bad wieder zu meinem Bett, sehe eine Krankenschwester.

„Dein Frühstück. Schau, ich stell es dir hierher. Da kommst du vom Bett aus hin". Sie deutet auf das Kästchen neben meinem Bett und lächelt. Ich nicke nur, lasse mich auf den Stuhl neben dem Fenster fallen.

„Kennen Sie meinen ganzen Namen?", platzt es plötzlich aus mir heraus. Die Schwester erstarrt.„Ich... Tut mir Leid, ich darf dir das nicht beantworten". Ich seufze. War ja irgendwo klar. Niemand mag mir etwas sagen.

„Wissen Sie, warum ich mich an nichts mehr erinnere?", frage ich einfach weiter. Irgendwann wird sie mir schon antworten. Ich muss zumindest wissen, warum alles weg ist. Und warum ich verletzt bin. „Du leidest an einer Amnesie. Alles weitere wird dir der Chefarzt bei der Visite erklären". Und sie geht. Ich stütze meinen Kopf in meine Hände, atme einmal tief durch. Ich muss wissen, was mit mir los ist.Erst mein knurrender Magen holt mich wieder in die Wirklichkeit zurück und ich schnappe mir eins der zwei Brötchen.

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Der Chefarzt erklärt mir alles. Na klar. Werden wir ja sehen. Um Elf klopft es mal wieder.

„Jaa?", murmele ich, bin zu vertieft in das Buch, das mir eine der Schwestern geliehen hat, damit ich wenigstens etwas zu tun hab, außer das Bild an der Wand mir gegenüber anzustarren. Und eines steht für mich jetzt fest: Ich hasse Krankenhäuser. Ob ich das in meinem alten Leben, wie ich es jetzt einfach nenne, habe, weiß ich ja nicht.

„Guten Morgen, Jocelyn", Ein Mann lächelt mir entgegen, hält mir die Hand hin und ich schüttele sie

„Morgen", sage ich nur und lege das Buch weg. Das ist dann wahrscheinlich der Chefarzt.

„Also... Was haben wir denn da... Amnestisches Syndrom, keinerlei Erinnerungen. Hast du Fragen?" Er setzt sich auf den Stuhl am Fenster und lächelt mich weiter an.

„Ehm... was hab ich angestellt, um hier zu landen?" Ich mache eine ausladende Handbewegung und er lacht.

„Du hattest ein Schädel-Hirn-Trauma, deswegen auch die Amnesie, was von einem Autounfall herrührt. Genauso wie deine Verletzungen, die du wahrscheinlich schon entdeckt hast". Schädel-Hirn-Trauma? Ich starre auf meine Hände, versuche das zu verarbeiten. Schädel-Hirn-Trauma. Autounfall. Fußbruch. Schürfwunden. Platzwunde. Amnesie. Jocelyn.

Ich kann mich selbst nicht einordnen, mein Gehirn ist überfordert. Ich hatte einen Unfall. Einen schlimmen Unfall. Ein Schädel-Hirn-Trauma.

„Okay, Jocelyn. Ich merke, dass das ein wenig viel für dich ist. Vielleicht willst du das erst einmal verarbeiten". Ich sehe auf.

„Nein!" Meine Stimme klingt panisch, verzweifelt. Ich muss mehr wissen. Ich will mehr wissen.

„Ich... Wo bin ich? Wie alt bin ich? Wo komme ich her? Hab ich Familie?", sprudelt es aus mir heraus. Ich muss es einfach wissen. Alles.

„Ganz ruhig", lacht der Arzt. Na, der hat gut reden.

„Also... Du bist hier in London. Du bist 19 Jahre alt und kommst aus Brighton, wurdest da geboren. Ob du Familie hast... Das müsste ich nachschauen. Aber es waren auf jeden Fall schon mehrere Leute da, um dich zu besuchen, die wir meistens wegschicken mussten". Ich bin 19? Schon? Vorhin, als ich mich im Spiegel angesehen habe, hätte ich mich höchstens auf 17 geschätzt. Eher 18 oder so. Aber niemals 19.

„Ich... Ich hatte doch bestimmt ein Handy bei mir, oder?", murmele ich, sehe wieder auf meine Hände. Ein Handy. Bilder, Nachrichten. Etwas, um mich an mein altes Leben zu erinnern. Etwas, das mir sagt, wer ich war. Wer ich bin.

„Ja... Ich lasse es dir bringen, aber ich glaube nicht, dass es dir viel bringt. Es scheint kaputt zu sein". Na super. Ich seufze auf, fahre mir mit der Hand übers Gesicht.

„Trotzdem Danke", murmele ich. Meine einzige Chance, schnell irgendwie an Informationen zu kommen...dahin. Weil das Handy kaputt ist. Die Welt scheint mich nicht zu mögen.

„Keine Sache. Dann lass ich dich mal wieder alleine. Bis morgen!". Er schüttelt mir wieder die Hand und geht dann. Lässt mich alleine. Und ich sitze hier und denke nach.

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Irgendwann bin ich eingenickt. War wohl doch zu viel, die wache Nacht. Als ich aufgewacht bin, lag ein Handy auf dem Kästchen neben meinem Bett. Mein Handy. Und jetzt hab ich es in der Hand und habe Angst, traue mich nicht, es einfach anzumachen. Was, wenn ich darauf Sachen habe, die ich nicht sehen will? Was, wenn es gar nicht angeht? Und vor allem...Wie geht es an? Ich drücke einfach wahllos alle Knöpfe eine Weile, so viele sind das nämlich gar nicht. Drei um ehrlich zu sein. Ein länglicher links, ein kleinerer rechts am Handy und unten in der Mitte ein Quadrat. Irgendwann leuchtet der Bildschirm auf. Bitte geben Sie ihre PIN ein. PIN? Ich seufze und lasse mich zurück in die Kissen fallen. Ich weiß meinen PIN nicht. Jetzt kann ich nur hoffen, dass das Hintergrundbild irgendetwas verrät. Ich drücke den Knopf rechts, mit dem das Teil angegangen ist, zweimal und schon leuchtet mir ein Bild entgegen. Ein Bild von mir und einem Mann. Er hat einen Arm um meine Hüfte geschlungen, sieht von oben zu mir herab. Ich habe meinen Kopf auf seiner Brust liegen, meine Arme liegen in seinem Nacken.Gute Besserung, Kleines. Ich liebe dich.

War er das. Das muss er gewesen sein. Aber ich kenne ihn nicht, ich würde ihn nicht erkennen. Ich weiß nicht mal seinen Namen. Wieder steigen mir Tränen in die Augen. Warum musste das Schicksal ausgerechnet mich so hart bestrafen?

FrozenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt