Kapitel 28: Memories

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Einen kurzen Anruf bei Mom und ein paar Stunden später liege ich auf meinem Bett, atme tief durch. Jetzt bin ich wieder hier. Bin wieder geflüchtet. Vor Niall geflüchtet. Vor allem. Vor der Verantwortung, dem Aussprechen, dem Gefühl zuhause zu sein. Letzteres muss ich mir einfach eingestehen...

Niall ist der einzige, bei dem ich mich einfach wohl fühle, der mir dieses verdammte Gefühl von Sicherheit gibt. Es ist wie ein Grundvertrauen, ein Instinkt. Er hat öfter versucht, mich zu erreichen, aber letztendlich hab ich seine Nummer geblockt. Ich will mir seine Vorwürfe nicht anhören und seine Trauer und seine Gefühle. Ich weiß zwar nicht, was ich will, aber was ich weiß, ist, dass ich ein Gespräch mit ihm jetzt unbedingt vermeiden will.

Will ich mein altes Leben zurück?... Nein. Nicht jetzt, nicht nach all dem, was ich erlebt habe. Wer sagt denn, dass ich mein altes Ich überhaupt leiden kann?

Seufzend lasse ich mich in die Kissen sinken. Ich denke zu viel nach, Niall hat recht. Aber Sätze wie Folge deinem Herzen sind einfacher rückwärts zu buchstabieren als auszuführen. Folge deinem Herzen.Schön und gut, aber was sagt mein Herz? Es weiß nicht weiter. Es fühlt sich hier nicht wirklich wohl. Aber zu Niall will es auch nicht. Nicht nach... diesem Vorfall. Ich will nicht zu ihm, nicht mit ihm reden.

„Josy! Kannst du vielleicht kurz mal nach Brighton reinfahren?"

„Was brauchst du denn?" frage ich. Autofahren... trau ich mir das schon wieder zu? Aber andererseits, das wird schon. Ich mein, ich kann ja nicht ewig aufs Autofahren verzichten.

„Ich hab beim Einkaufen das Tomatenmark und die Bananen vergessen und muss in fünf Minuten Maria abholen!“ Ich nicke Mama zu, nehme mir den Autoschlüssel. Das erste Mal Autofahren seit dem Unfall. Ein leises Seufzen kommt über meine Lippen, als ich mich auf den Fahrersitz setze. Ab jetzt greifen die Automatismen. Schlüssel rein, Kupplung und Bremse drücken, starten. Erster Gang. Bremse loslassen. Kupplung langsam kommen lassen. Ich kann mich nicht dran erinnern, dass ich es gelernt habe. Aber ich weiß, wie es geht und das ist die Hauptsache.

Nach Brighton. Ich gebe die Adresse ins Navi ein, mache leise Musik an, fahre los. Es ist nicht schlimm. Ich hab nur eigentlich keine Ahnung, was ich tue. Ich tue es einfach ohne wirklich zu verstehen, wie. Aber egal. Das Auto fährt, es ist nicht abgestorben oder fährt zu schnell. Alles gut. Alles in Ordnung. Alles okay.

Ich atme tief durch, bevor ich auf die Landstraße Richtung Brighton biege. Hey, es ist nur das Auto fahren. Nur. Nur. Das letzte Mal, als ich das getan hab, hab ich einen verdammten Unfall gebaut. Bin fast gestorben. Alles gut, alles okay.Nein!

Das Lenkrad. Verrissen. Scheiße. Da kommt wer. Pass auf, Josy, pass auf! Aber zu spät. Wie in Trance sehe ich das andere Auto entgegenkommen, sehe förmlich, wie sich die Motorhaube Zentimeter für Zentimeter verbiegt. Aufprall. Knautschzone hin. Mein Kopf schlägt aufs Lenkrad. Autsch. Stechender Schmerz. Mein Kopf. Mein Fuß. Alles. Aua.

Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Wer bin ich?Ich kann mich nicht bewegen. Warum nicht? Wieder. Mein Kopf. Aua. Blut. Mein Blut? Alles verschlingende Schwärze. Ich bin tot. Ich muss tot sein.Wer bin ich? Wer?

Dann ist alles wieder da. Ich schreie. Kann den Wagen gerade noch auf einen Feldweg lenken. Quäle mich aus dem Gurt und reiße die Tür auf. Übergebe mich. Spüre den Schmerz meiner Verletzungen. Mein Kopf, mein Fuß. Phantomschmerz. Das gerade ist nicht wirklich passiert. Es war nicht die Realität. Es ist in meinem Kopf passiert. Ruhig Josy. Alles gut, alles okay? Nein. Nein.

„Sind Sie in Ordnung?“ Jemand packt mich an der Schulter. „Hey. Hallo?“ Ich kann nicht aufsehen. Meine Augen brennen. Mein Körper brennt. Der Schmerz. So präsent wie nie. „Ich rufe den Krankenwagen." Eine andere Stimme. Oh Gott. Nein! Ich muss... Bananen. Tomatenmark. Mama. Oh Gott. Tief durchatmen. Atmen Josy. Atmen. „Ist auf dem Weg." Wieder diese Stimme. „Gut. Kommen Sie, setzen Sie sich hin. Atmen Sie durch, alles ist gut." Ich tue, was die Stimme sagt. Spüre den Sitz. Atmen. Einfach Atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. „Wie heißen Sie?“ Lektion 1 bei der Ersten Hilfe: Reden Sie mit dem Opfer. Eine strenge Stimme macht sich in meinem Kopf breit. Eine Lehrerin? Ich weiß es nicht.

„Josy." Leise. Nicht meine Stimme. Die einer anderen. Meine Stimme ist kräftiger.

„Okay Josy... Wie alt sind Sie?“ Wie alt bin ich?

„Neunzehn. Fast zwanzig." Wieder diese leise Stimme.

„Was machen Sie von Beruf?“

„Ich...“

„Okay, wen haben wir denn da?“ Eine neue Stimme unterbricht mich. „Ah... Jocelyn Fenrich. Na dann, komm mal mit." Ich werde an der Hand genommen, gestützt. „Ich bin Doktor Teller... Du weißt, wer du bist, wie alt du bist... Gut... Wir fahren nur zur Vorsicht mit dir ins Krankenhaus, deine Mutter ist informiert. Alles gut." Ich glaube ihm. „Mhm... Mhm... Amnesie... Ich nehme mal an, dass du so eine Art Déjà-Vu oder Rückfall hattest, gerade im Auto?“ Ich schüttele den Kopf. Seufze.

„Es war... intensiver. Eine Erinnerung." Wie oft hab ich mir vorgestellt, wie mich Glück durchfließt, wenn ich mich an etwas erinnere? Und jetzt... Meine Hände zittern, mein Herz pocht, ich bin unter Schock. Glaube ich zumindest.

„OK... Magst du sie erzählen?“ Ich nicke. Hole tief Luft.

„Ich glaub... Also, ich weiß... das war der Unfall. Ich hab es gesehen. Wie mir das Lenkrad ausgekommen ist. Wie ich mit dem anderen Auto zusammenpralle. Und den Schmerz. Ich hab das Blut gespürt." Zittrig atme ich aus. „Und dann... war alles schwarz... Und ich bin wieder aufgewacht... Schreiend. Ich hatte solche Angst." Meine Stimme bricht.

„Okay Jocelyn... Ich sag dir das jetzt als Freund, nicht als dein behandelnder Arzt: Such dir bitte einen Psychologen. Versucht, das aufzuarbeiten. Denn sowas darf nicht wieder passieren. Such dir einen Psychologen, das ist wichtig. Hol dir die Unterstützung, mit sowas muss man nicht alleine klarkommen. Ich hab eben deine Krankenakte gelesen... Und ganz ehrlich, Jocelyn: Mit sowas kann man auch nicht alleine klarkommen." Er steht auf, sieht mich bedauernd an. „Über Nacht hierbleiben, okay? Deine Mutter holt dich morgen ab... Eine Kontaktliste mit sämtlichen für Fälle wie deinen ausgebildeten Psychologen lasse ich dir ausdrucken. Gute Nacht." Er geht. Und zurück... Zurück bleibt die Angst.

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Danke für' Lesen, ich würde mich über mehr Votes und Kommentare freuen :D

Bis zum nächsten Kapitel, fühlt euch geknutscht :*

FrozenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt