3. Kapitel : Kleines

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Immer und immer wieder starre ich auf das Bild, wische mir die Tränen weg. Es löst etwas in mir aus, das mich verwirrt. Etwas wie Melancholie. Ich würde alles dafür geben, zu wissen, wer er ist. Wo dieses Foto aufgenommen wurde. Wer es aufgenommen hat. Ob er mein Freund war. Oder ist. Mir gehen 19 Jahre meines Lebens ab. Selbst wenn ich hier rauskomme, würde ich mich nicht zurecht finden. Ich wäre hilflos, desorientiert wie ein kleines Kind. Der Doktor sagt, Routinesachen wie Autofahren, Schwimmen oder so, werde ich können, sobald ich es probiere. Aber meine Erinnerungen sind weg. Vielleicht für immer. Ich lege das Handy auf die Seite, stehe auf.

Die Krücken, die mir eine Schwester gebracht hat, ignoriere ich einfach. Ich will nur auf die Toilette, da brauche ich die nicht. Wieder starrt mir aus dem Spiegel die junge Frau entgegen. Ich. Entstellt. Ich zwinge ein kleines Lächeln auf meine Lippen, aber es verschwindet sofort wieder. Lächeln schmerzt. Jede Bewegung meines Gesichts schmerzt. Alles schmerzt. Wegen diesem Autounfall. Warum hab ich den Unfall gebaut? War überhaupt ich schuld? Was ist passiert? Mein Kopf ist voller Fragen, die ich nicht beantworten kann, die mir niemand beantworten will. Mit dem Buch, das mir gestern die Schwester geliehen hat, bin ich durch. Wieder hat mich die Langeweile erfasst und wieder sehe ich mir das Bild an, hab mir sogar ein Ladekabel geliehen. Dieses Bild fasziniert mich. Es stellt mich vor Fragen und gibt Antworten. Irgendwie. Wenn ich jetzt noch meinen PIN wüsste, könnte ich mehr über mich herausfinden. Über die Leute mit denen ich geschrieben habe, vielleicht über den Typen auf meinem Hintergrundbild. Über meine Familie. Und bestimmt hatte ich mehr Bilder am Handy als nur das auf meinem Sperrbildschirm. Aber einfach wahllos probieren will ich nicht. Ich habe nur drei Versuche. Und einer ist schon weg, weil ich einfach mal 'Josy' in Zahlen eingegeben habe. 5362. Und das war's nicht. Einen Versuch war es wert. Wenn ich mein Geburtsdatum wüsste, würde ich es ausprobieren. Aber ich weiß es eben nicht. Ich weiß so gut wie gar nichts von mir. Ich weiß nur meinen Namen, mein Alter, meinen Geburtsort. Und wo ich jetzt bin und wieso ich hier bin. Mehr nicht. Ich gähne leicht. Der Tag ist gebraucht. Der Chefarzt kam heute nur kurz zur Visite, hat mir mein Handy gebracht und gemeint, morgen hätte er mehr Zeit für mich. Die Beiden von meinem ersten Tag - die Kleine und die Frau, die wahrscheinlich ihre Mutter war - waren auch nicht mehr da. Schön langsam frage ich mich, ob die mich nicht verwechselt haben.Wieder sehe ich auf das Handy, fahre mit dem Finger über den Sperrbildschirm und die Tastatur für den PIN erscheint. Erst als es klopft, sehe ich auf.

"Ja?", rufe ich, wie so oft in den letzten Tagen. Das war vermutlich das Wort, das ich am häufigsten gesagt habe in den drei Tagen, in denen ich hier liege.

„Essen". Eine Schwester schiebt sich mit einem Tablett ins Zimmer, grinst mich an. Loreen heißt sie oder so.

„Danke", murmele ich, registriere, wie sie das Tablett auf dem Kästchen abstellt.

„Brauchst du noch etwas?". Ich schüttele leicht den Kopf. Als mir etwas einfällt.

„Könnten Sie vielleicht... Also könnten Sie vielleicht irgendwie mein Geburtsdatum rausfinden?", platzt es aus mir heraus. Sie nickt.

„Sofort. Gib mir fünf Minuten". Und schon ist sie wieder weg. Ich nehme mir das Tablett mit den Nudeln, lege das Handy auf die Seite. Schon wieder Nudeln. Gab's gestern Mittag erst. Ich hasse nicht nur Krankenhäuser, sondern auch das Essen hier. Gestern waren die Nudeln noch nicht durch und klebrig und die Soße war versalzen. Mal schauen, ob das besser ist.

„Jocelyn?". Ich sehe auf, die Schwester ist wieder da. „Du hast am 27. Dezember Geburtstag und wurdest 1994 geboren", lächelt sie. Trotz der Schmerzen zwinge ich mir ein Grinsen auf die Lippen.

„Danke", sage ich und wende mich wieder dem Essen zu.„Siebenundzwanzig zwölf", murmele ich, während ich den PIN eintippe. Das muss doch funktionieren.

„Das ist er nicht". Ich fahre hoch, sehe einen Mann in der Tür stehen, der mich seltsam sanft anlächelt.„Was?", frage ich und könnte mich im selben Moment dafür ohrfeigen. Wie geistreich.

„Dein PIN geht anders", lächelt er und kommt auf mich zu, setzt sich auf die Bettkante. „Hey Kleines". Er legt seine Hand auf meine und sein Lächeln wird breiter. Ich starre ihn an, versuche krampfhaft, mich zu erinnern. Aber ich kenne ihn nicht. Ich kenne sein Gesicht nicht, nur seine Stimme hab ich schon einmal gehört. Ganz am Anfang. Das erste, an das ich mich erinnere.

„Ich... Tut mir leid... Aber... Wer bist du?", murmele ich, ziehe meine Hand aus seinem Griff. Sein Lächeln verschwindet und er beißt sich auf die Lippe.

„Josy... Bitte sag mir, dass du mich verarscht. Bitte". In seinem Blick liegt so viel Schmerz und liebend gern würde ich tun, was er sagt, aber ich kann nicht.

„Ich weiß nicht, wer du bist...", hauche ich und mir steigen die Tränen in die Augen. „Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern". Er hebt die Hand, streicht mir eine Träne von der Wange.

„Josy... Ich bin's. Du musst dich doch an mich erinnern". Ich schüttele nur den Kopf.

"Es wäre vielleicht einfacher, wenn du mir einfach sagst, wer du bist". Er sieht mich nicht an, knetet seine Hände als würde er mit sich ringen.„Ich... Ich bin Niall ", sagt er dann. „Oder Nialler. Oder Nini, oder was du willst, Kleines."

Er nimmt mir das Handy aus der Hand, tippt eine Zahlenfolge ein und reicht es mir wieder. „Da... 2308 ist der Code. Der Tastensperrencode ist 6464". Woher weiß er das? Woher weiß er, mit welchen Codes ich mein Handy schütze?

„Wie kommst du darauf?", frage ich, starre immer noch das Handy an. Höre ihn schlucken und sich räuspern.„Der... Der 23. August ist unser.. unser Jahrestag, deswegen 2308. Und 6464 steht für Nini. Bitte Josy. Bitte sag mir, dass du dich wenigstens an irgendwas aus unserem Leben erinnerst". Jahrestag? Unser Leben? Kleines. Er muss der Typ auf meinem Sperrbildschirm sein, er muss die Karte geschickt haben.

„Oh", entweicht es mir. Oh. Oh mein Gott. Ich wollte es die ganze Zeit wissen, aber jetzt... Jetzt weiß ich es und die Erkenntnis bringt mich fast um. Er muss mein Freund sein. Zum ersten Mal sehe ich ihn bewusst an. Sehe seine wirr abstehenden Haare, seine blauen Augen, die mich traurig ansehen. Sein Mund zu einem gequälten Lächeln verzogen und seine Wangenknochen, die der Bartansatz noch mehr betont.

Vorsichtig fahre ich mit meiner Hand über seine Wange. Er zuckt zurück, aber nur kurz. Und sofort kehrt sein Lächeln zurück und mir fallen seine Grübchen auf. Wenn er wirklich mein Freund ist, dann kann ich mich eigentlich glücklich schätzen.

„Besuchszeit vorbei", ruft jemand von der Tür, bevor sie wieder zuknallt wird.

Ich nehme meine Hand von seinem Gesicht, setze mich wieder normal hin.

„Dann lass ich dich mal alleine. Gute Nacht", lächelt er und zieht mich in seine Arme. Ich höre sein Herz klopfen, spüre seine Hand, die über meinen Rücken streicht. „Ich liebe dich". Und ehe ich reagieren kann, habe ich weiche Lippen auf meinen liegen. Ich erwidere den Kuss nicht, bleibe einfach so sitzen, warte das es vorbei geht. Denn...Ich fühle nichts dabei. Ich spüre nichts bei diesem Kuss. Nichts, was auf Gefühle für diesen Mann hindeutet. Nichts. Gar nichts.

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