Kapitel 2

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Kann ein Tag eigentlich noch beschissener starten? Nachdem ich so unsanft aus meinem Traum gerissen wurde, musste ich feststellen, dass ich viel zu spät dran war. Der halbe Marathon, den ich heute Morgen in meiner bescheidenen Männerhöhle hinterlegen musste, macht sich jetzt, wo ich völlig verschwitzt in der Bahn stehe und mir mühevoll die Krawatte binde – übrigens ohne jeglichen Erfolg – bemerkbar.

„Nächster Halt: Clintwood City." – Aussteigen. Und die Krawatte sitzt immer noch nicht, na super.

Kaum im Büro angekommen, begegne ich natürlich Priscilla, die sich – wie sollte es auch anders sein – mal wieder keinen Kommentar verkneifen kann.

„Mr. Sinclair, war wohl keine so erholsame Nacht, was?", fragt sie mit hochgezogener Augenbraue, die den Triumph in ihrer Stimme unterstreicht.

„Dir auch einen schönen guten Morgen, Priscilla. Du glaubst ja gar nicht, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, ausgerechnet von dir zuerst begrüßt zu werden", antworte ich ihr beiläufig und hoffe inständig, dass sie die Ironie in meiner Aussage wahrnimmt. Wie ich sie hasse. Wie ich generell alle hier hasse. Wie so oft bin ich mir selbst dankbar, dass ich damals all meine Energie in das Literaturstudium gesteckt habe, was es mir schon mit 28 Jahren ermöglicht, ein eigenes kleines Büro in der großen Literaturagentur POD zu haben. Diesen Rückzugsort habe ich bitter nötig, denn dort kann ich all diese Idioten von mir abschotten.

In meinem Büro angekommen, drücke – nein, knalle ich die Tür regelrecht zu und atme erst einmal tief durch. In meinem kurzen Moment der Ruhe versuche ich den überdimensionalen Stapel an Manuskripten, der mich bereits von meinem Schreibtisch aus angrinst, zu ignorieren. Gerade als sich mein Gemütszustand allmählich zu verbessern scheint, klopft es an meiner Tür.

„Ähm Sir? Hier ist Bob, darf ich reinko-"

„HERRGOTT NOCHMAL, BOB! Was zur Hölle wollen Sie?", schreie ich und reiße dabei wutentbrannt die Tür auf. Völlig eingeschüchtert schaut mich der nun gänzlich errötete Junge an und ich bin mir sicher, dass er, wenn er nicht schon erwachsen wäre und sich nicht vor einer weiteren Erniedrigung fürchten würde, am liebsten heulend zu seiner Mami rennen würde. Pff, Weichei.

Seinem deutlich sichtbaren Schlucken zufolge, wartet er wohl auf eine Sprecherlaubnis meinerseits, allerdings genieße ich diesen Moment gerade nur zu sehr, als dass ich ihm diese direkt erteilen würde. Ich bin schließlich sein Boss und das soll er ruhig spüren. Nachdem ich ihn eine Weile gequält habe und mir die Situation zu langweilig geworden ist, fordere ich ihn mit einer leichten Bewegung meiner Augenbrauen – übrigens eine simple, aber so unglaublich wirksame Geste, um seine Macht zu demonstrieren und das liebe ich ohnehin – zum Sprechen auf, ohne ihn hereinzubitten.

„Sir, ich wollte Sie nur daran erinnern, dass Sie um 11:30 Uhr das Meeting mit dem Newcomer Autor haben, dessen Manuskript Ihnen so gefallen hatte. Und für die 63 abgelehnten Manuskripte der letzten Woche bräuchte ich noch ein paar Unterschriften, um die Absagen loszuschicken."

„Legen Sie mir die Absagen während der Mittagspause auf den Schreibtisch. Um die kümmere ich mich nach der Pause", sage ich prompt, woraufhin Bob versteht, dass das sein Zeichen zu gehen ist. Mit einem kaum hörbaren „Ja, Sir" macht er sich wieder auf seinen Weg.

Laut ausatmend lasse ich mich auf meinem Schreibtischstuhl fallen und sammle innerlich die nötige Kraft, um mir das erste Manuskript des Tages vorzunehmen.

Kurz vor der Mittagspause lege ich das mittlerweile sechste Manuskript auf den „Schrottstapel" und beschließe, mir nach so viel Müll, den ich zu lesen hatte, endlich meine wohlverdiente Mittagspause zu gönnen, auch wenn es noch weit vor 12 Uhr ist. Aber das kann mir doch egal sein, bei dem Schreibniveau der meisten Manuskripte werde ich heute wohl ohnehin nichts Brauchbares mehr zu Gesicht bekommen.

Gerade als ich die Tür meines Büros hinter mir zuziehen will, kommt mir Bob entsetzt entgegen und sagt: „Sir, was machen Sie denn noch hier? Sie müssten doch schon längst im Meeting sein! Mr. Alvarez wartet sicher schon auf Sie."

Mist, das Meeting. Ich gebe es ja nicht gerne zu, aber ich habe tatsächlich das Meeting vergessen. Aber das gebe ich natürlich nicht zu und lüge: „Oh, ja stimmt. Da wollte ich gerade hin. Hat etwas länger gedauert mit dem letzten Manuskript. Bob, bringen Sie mir doch bitte einen Kaffee in den Konferenzraum." Mit einem skeptischen, aber dennoch schüchternen Blick eilt Bob mit einem Nicken davon, woraufhin ich mich in den Konferenzraum begebe. Dort angekommen, erwartet mich ein breit grinsender, scheinbar lateinamerikanischer junger Kerl, dessen Grinsen umso breiter wird, als er mich hereinkommen sieht. Igitt, eine Frohnatur.

„Sie müssen Mr. Sinclair sein. Juan Alvarez mein Name. Vielen Dank für die Einladung! Sie glauben ja gar nicht, wie froh ich darüber bin, dass Sie das Potential meines Romans erkannt haben. Ich meine, ich hatte mein Manuskript an so viele Literaturagenturen und Verlage geschickt und es kamen nichts als Absagen zurück." Oh Gott, kann man den auch ausschalten? Wo bleibt denn bloß Bob mit meinem Kaffee? Ich glaube dieses Gespräch kann dauern.

„Beruhigen Sie sich, Mr. Alvarez. Noch ist nichts passiert. Ich habe Sie lediglich hierhergebeten, um mehr über ihr Manuskript zu erfahren. Das heißt allerdings noch gar nichts", sage ich ernüchternd. Seine überschwängliche Euphorie scheint sich daraufhin zwar zu reduzieren, allerdings strahlt der Kerl immer noch mehr als zu viel davon aus.

„Okay Mr. Sinclair. Dennoch bin ich Ihnen sehr dankbar. Was genau möchten Sie über mein Manuskript wissen? Ich beantworte Ihnen alles."

„Nun, Sie behandeln in Ihrem Manuskript ein noch sehr wenig erforschtes Thema. Wie kommen Sie dazu? Ich meine, Sie stellen eine Behauptung auf, die wissenschaftlich überhaupt nicht widerlegt ist. Wie kommt man dazu?", frage ich ihn, deutlich darum bemüht, desinteressiert zu wirken, doch ich glaube, es gelingt mir nicht. Denn tatsächlich ist es diese Behauptung, auf der sein Manuskript basiert, die mich seitdem ich es zum ersten Mal gelesen habe, nicht mehr loslässt.

„Wissen Sie, ich komme aus einer sehr spirituellen Familie. Wir glauben nun mal daran, dass unsere Träume uns etwas mitteilen wollen, was für unsere Realität relevant ist." Mit einem zugegebenermaßen recht sympathischen Lächeln unterbricht er seine Erzählung und fährt dann fort: „Hatten Sie denn etwa noch nie einen Traum, der Ihnen das Gefühl gab, aus einem bestimmten Grund in Ihrem Unterbewusstsein aufgetaucht zu sein?"

Schwachsinn, der Kerl ist doch verrückt. Ich meine, es wird mit Sicherheit eine sinnvolle Erklärung dafür geben, dass ich seit über 16 Jahren jede Nacht ein und dasselbe träume... oder etwa nicht?


Und.. Was sagt ihr zu Alan? Schrecklicher Typ oder? Ich mag ihn auch nicht besonders. Aber wer weiß, vielleicht ändert sich das ja noch...



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