Kapitel 16

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Die schweißnassen Haare klatschen mir ins Gesicht, Schweißperlen fließen mir in die Augen, ein fieses Brennen zieht sich durch meine Beine, meine Kehle ist staubtrocken und meine höchstwahrscheinlich gebrochenen Finger pochen wie verrückt. Und doch fühlt es sich gut an, sogar mehr als gut. Es befreit tatsächlich meinen Kopf und lässt all die Gedanken an Ella und Juan und diesen blöden Traum zumindest kurz verschwinden. 

Es ist tatsächlich eine gute Idee gewesen, nach dem Eklat in Ellas Laden erst einmal schnurstracks in meine Wohnung zu stürmen, mich umzuziehen und mich schließlich einfach zum Laufen in die Natur zu stürzen. Ich frage mich, wieso ich nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen bin. Die ganze Wut, die sich allein in den letzten paar Stunden in mir angestaut hat, ist beinahe wie verpufft. Naja, zumindest fühle ich mich nicht mehr wie ein Vulkan kurz vor seiner Eruption. 

Nachdem ich nun über eine Stunde lang durchgehend durch den Clintwood Wald gejoggt bin und mich einigermaßen abreagiert habe, fühle ich mich endlich wieder bereit dazu, ihr vor die Augen zu treten. Vorher wäre das wohl keine so gute Idee gewesen. Voller Entschlossenheit mache ich mich also auf den Weg zu ihr und muss zugeben, dass sie mir auch nach dieser kurzen Zeit bereits gefehlt hat. 


„Hey, Kleines. Ich weiß, vermutlich stinke ich wie ein nasser Schlosshund, aber du wirst dich über den Grund dafür freuen. Ich war nämlich bis eben im Wald joggen, genau wie ich es dir versprochen hatte!" 

Als ich mich an den Blumenstrauß in meiner Hand erinnere, den ich unterwegs noch schnell in Mrs. Fredleys Laden besorgt habe, lege ich ihn verlegen neben den weißen Stein vor meinen Füßen. Gerade als ich den alten Strauß von vor zwei Tagen aufheben will, entdecke ich noch einen zweiten Strauß, von dem ich ganz sicher weiß, dass er nicht von mir ist. 

„Hattest du etwa unerwarteten Besuch?", frage ich den Stein, in dem ich meine langjährige beste Freundin sehe, mit zusammengekniffenen Augenbrauen.

Wer könnte denn außer mir bitte hier gewesen sein? Seit Jahren bin ich der Einzige, der Amy besucht und sich um ihr Grab kümmert. Wieso sollte das jetzt so ganz plötzlich anders sein? Ich meine, zufällig kann sie keiner entdeckt haben, der sie noch von früher kennt. Schließlich habe ich damals bewusst darauf bestanden, dass man ihr Grab in ihre Geburtsstadt Clintwood City versetzen lässt, um sie möglichst weit weg von diesem beschissenen Kinderheim zu bringen. 

Auch wenn es damals schwer für mich gewesen ist, sie aufgrund meines jungen Alters so lange nicht besuchen zu können, habe ich mich für sie gefreut, da ich wusste, dass sie eigentlich schon immer gerne gewusst hätte, wie es ist, in einer Großstadt zu leben und noch dazu hätte sie sich bestimmt darüber gefreut, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Denn im Gegensatz zu mir wurde Amy nicht einfach aus mangelnder Liebe von ihren Eltern verlassen, sondern sie war eine Waise und wurde somit von Seiten ihrer Eltern unfreiwillig verlassen. Ihre Eltern starben sehr früh während eines Autounfalls. Amy war da gerade einmal ein paar Monate alt und hatte leider keine weiteren Blutsverwandten, die sich um sie hätten kümmern können. So kam es, dass sie in dem Kinderheim landete, in das ich später auch gekommen bin, nachdem mein vorheriges Kinderheim aus finanziellen Gründen geschlossen werden musste. Von dem Tag an, an dem ich in unser Kinderheim gezogen war, waren wir unzertrennlich und ihr Tod sollte das nicht ändern. Schon während meines Vorhabens, Amys Grab in den Friedhof von Clintwood versetzen zu lassen, stand für mich fest, dass ich ihr, sobald ich alt genug wäre, hierhin folgen würde, um alles hinter mir zu lassen und noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Mit ihr an meiner Seite.

„Ich bin so froh, dich hier zu haben", sage ich resigniert, denn ich wüsste tatsächlich nicht, was ich ohne sie machen würde. 

Völlig unerwartet trifft mich die Erkenntnis, dass ich sie vor allem jetzt mehr denn je brauche, denn mein Leben ist ein einziges Chaos, mit dem ich – so ungern ich das auch zugebe - absolut nicht klarkomme. Vor allem nicht allein. Alles erscheint so surreal und das Leben, dass ich mir hier jahrelang mühsam aufgebaut habe, kommt mir plötzlich so fremd und unecht vor.

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