Kapitel 4

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Es ist jedes Mal dieselbe Szene, die vor mir erscheint, sobald ich einschlafe. Immer steht sie da, vor diesem großen weißen Haus auf der endlos erscheinenden Blumenwiese. Sie trägt immer dasselbe weiße, bis knapp über die Knie gehende Sommerkleid, das sie – da sie von hinten von der Sonne beleuchtet wird, wie einen Engel erscheinen lässt. Schon seit Jahren sehe ich nun diese strahlend blauen Augen, die mich direkt anzusehen scheinen und mich immer wieder verzaubern. Mittlerweile sind sie mir so vertraut, dass ich mich sicher fühle, sobald ich sie in diesem hübschen, von nicht einmal schulterlangen blonden Haaren umrandeten Gesicht sehe. Kaum, dass ich ihr begegne, setzt sie wieder zu ihrem Lockruf an und versucht mich damit zu sich zu locken. Nur ganz langsam läuft sie dabei rückwärts in Richtung des weißen Hauses und bedeutet mir damit, mich in Gang zu setzen. Ich komme mir dumm vor, weil ich diese unausgesprochene Aufforderung bereits seit der ersten Begegnung mit ihr verstanden habe, ihr allerdings nie nachkommen konnte. Ich fühle mich wie ein für tot gehaltener Mensch, der sich mitteilen will, um gerettet zu werden, dies aber nicht kann, da man ihn schon längst begraben hat. Es ist so unglaublich frustrierend.

Wieder haucht sie meinen Namen und streicht sich eine ihrer Haarsträhnen hinters Ohr, während sie mich mit dem Finger der anderen Hand weiterhin zu sich zu locken versucht. Es ist dieselbe Geste.

JEDES. VERDAMMTE. MAL.

Es war gestern so, es war vorgestern so und es war auch schon vor 16 Jahren so, nie hat sich auch nur das kleinste Detail dieser Szenerie geändert. Es ist, als wäre ich in einer Dauerschleife gefangen, aus der es scheinbar kein Entkommen mehr gibt. Auf der gefühlt tausendsten verzweifelten Suche nach Veränderungen – ich meine, nach 16 Jahren wird ein und derselbe Traum auch irgendwann mal langweilig – hallen Alvarez' Worte in meinem Kopf wider.

„Oft sind es die zunächst unscheinbaren Kleinigkeiten, die einem Traum seine Bedeutung sowie den Bezug zur Realität verleihen."

Unscheinbare Kleinigkeiten. Nun, angenommen an Alvarez' Träume-blabla ist etwas dran. Dann meinte er mit dieser Aussage wohl, dass diese Kleinigkeiten nicht etwa neu hinzukommen oder sich verändern, sondern bereits vorhanden sind. Hm. Selbst wenn dem so wäre, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich diese Traumsequenz bereits acht Millionen Mal analysiert habe, da wäre mir bestimmt etwas aufgefallen oder etwa nicht?

Okay, da ich sowieso in diesem Traum feststecke, kann ich mir die Zeit ja auch damit vertreiben, noch einmal auf alle Einzelheiten dieser Szene zu achten. Also, hinten steht das große weiße Haus. Nichts Besonderes. Davor ist die komplette Bildfläche mit dieser riesigen Blumenwiese verseht und ehrlich gesagt, sehe ich auch an den Blumen nichts Auffälliges. Es gibt ja nicht einmal eine bestimmte Blumensorte, die auf der Wiese wächst, denn es wachsen hier scheinbar alle möglichen Blumensorten, was bedeutet, dass keine Blume in irgendeiner Weise hervorsticht. Ansonsten gibt es in dieser Szene nur noch sie. Sie wird von der Sonne angestrahlt, sieht aus wie ein Engel bla bla bla. Ach was soll der Scheiß überhaupt? Hier ist rein gar nichts Auffälliges zu entdecken. Scheinbar hat mich Alvarez, der Idiot, mit seinem Aberglaubensscheiß angesteckt. Und ich, der offensichtlich noch viel größere Idiot, lass mich auch noch anstecken. Ich hätte von vornherein wissen müssen, dass der Kerl sie nicht mehr alle hat.

„Alan", haucht sie  wieder und fasst sich dabei, wie immer, an ihre komische Halskette. Wenn ich mich bloß artikulieren könnte, würde ich sie jetzt am liebsten anschreien und ihr sagen, dass sie sich aus meinen Träumen verpissen soll.

„Alan", sagt sie erneut, was mich nur noch wütender macht. Was will die blöde Kuh eigentlich? Ich meine ja, sie ist echt heiß, aber was bringt das denn, wenn sie nicht einmal real ist? Außerdem ist dieser Traum mittlerweile so öde, dass ich den gesamten Ablauf bereits auswendig kenne. Somit weiß ich auch genau, was jetzt kommt.

Drei, zwei, eins...

Und schon ertönt ihr typisches Kichern. Fast so, als würde sie sich über mich lustig machen. Blöde Ziege. Niemand macht sich über Alan Sinclair lustig, erst recht nicht in seinen Träumen! Und warum zur Hölle fasst sie sich als an diese unglaublich hässliche Kette? Was soll das überhaupt für ein Anhänger sein? Sieht aus wie ein Horn, aus dem irgendetwas herausquillt. Allerdings ist es zu klein, als dass ich es erkennen könnte. Wie auch immer. Als sie ein letztes „Alan" haucht, höre ich bereits meinen Wecker, der mich aus diesem surrealen Albtraum zurückzuholen beginnt. Na endlich!



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