Kapitel 9

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„Ich habe dir Blumen mitgebracht. Ich hoffe, sie gefallen dir", fahre ich fort. Als wie erwartet keine Reaktion folgt, werde ich traurig, weil mich die bittere Erkenntnis wie ein fieser Schlag in die Magengrube trifft. Amy Todd, meine allerbeste Freundin, die einzige Familie, die ich jemals hatte, die einzige, die mich wirklich gekannt hat, war bereits seit über 16 Jahren tot und ich Idiot knie hier gerade vor ihrem Grabstein und hoffe, sie könnte irgendwie auf mich reagieren.

Traurig lege ich die Blumen neben den weißen Marmorgrabstein und streichle in Erinnerungen schwelgend darüber. Die Kälte des Steins scheint auf mich überzugehen, denn plötzlich ist mir eiskalt. Dabei haben wir bereits April, sogar einen ziemlich angenehmen. Trotzdem fühle ich mich, als würde ich mich inmitten der Antarktis befinden. Als mich ein Schauer überkommt, wird mir klar, dass diese Art der Kälte eine andere ist, die definitiv nicht vom Wetter kommt. Es ist das, was übrig bleibt, wenn man einem Menschen alles nimmt, was sein Herz jemals hätte erwärmen können. Verlust. Ein Gefühl eisiger Kälte und Leere.

Noch immer frierend richte ich meinen Blick unwillkürlich auf das Datum. Den bislang schlimmsten Tag meines Lebens. Den 05. Februar 2002. Amys Todestag.

Ich erinnere mich an diesen Tag, als wäre er gestern gewesen. Niemals würde ich diesen schrecklichen Tag vergessen. Niemals.

Ich erinnere mich daran, wie sie völlig erschöpft in ihrem Bett gelegen hat und trotz ihres leichenähnlichen Zustands, den ihr der verdammte Krebs verpasst hatte, eine gewisse Unbeschwertheit ausgestrahlt hat, die sich in ihrem müden Lächeln äußerte. Obwohl sie alles versucht hat, um sich ihre Schmerzen und ihre Angst nicht ansehen zu lassen, war sie kaum wiederzuerkennen. Der Krebs hatte ihr all ihre Energie geraubt, was mich jedes Mal, wenn ich sie ansah, erschütterte. Mit meinen damaligen 12 Jahren konnte und wollte ich einfach nicht begreifen, was so eine blöde Krankheit aus einem Menschen machen konnte. Ich habe nicht verstanden, warum meine Amy plötzlich so anders war. So leer und kraftlos. Nur leider musste ich genau das auf die harte Tour lernen, indem ich dabei zusehen musste, wie der wichtigste Mensch in meinem Leben von Tag zu Tag schwächer wurde und immer weiter zerfallen ist, bis der Krebs sie schlussendlich völlig zerstört hat.

Als die Ärzte ihr ein paar Wochen zuvor mitgeteilt hatten, wie aussichtslos ihre Situation war und dass sie keine drei Monate mehr zu leben hätte, entschied sie sich dazu, den winzigen Rest ihres noch so jungen Lebens im Heim zu verbringen, das wir beide seit wir denken konnten als unser Zuhause bezeichnet haben – obwohl es alles andere als ein Zuhause für uns war. Sie war mein Zuhause und ich ihres. Schließlich hatten wir nur uns, niemanden sonst, der sich auch nur ansatzweise um uns geschert hätte. Genau deswegen wollte sie einfach nur bei mir sein, denn ich war - genau wie sie für mich - alles, was sie hatte. Ich wich keine Sekunde lang von ihrer Seite, denn ich wollte und konnte ihr den Wunsch, mich bis zum Schluss immer bei sich zu haben, einfach nicht abschlagen. Schließlich wollte auch ich jede Sekunde mit ihr verbringen, wohlwissend, dass jede einzelne davon die letzte sein könnte.

In der Nacht vom 05. Februar habe ich ihr aus ihrem Lieblingsbuch vorgelesen und ihr schwaches, aber dennoch strahlendes Lächeln dabei genossen. Als ich am nächsten Morgen wach geworden bin, hat sie trotz geschlossener Augen noch immer lächelnd das Buch in ihren Händen gehalten. Sie sah so friedlich und zufrieden aus und gleichzeitig so müde und erschöpft. Wie ein kleiner ruhender Engel lag sie da, denn das war sie und das wird sie auch für immer bleiben. Niemals werde ich diesen friedlichen und sorglosen Anblick vergessen, den Amy mir in ihrem friedlichen Schlaf gewährt hat. Es ist eine meiner schönsten Erinnerungen an sie und leider auch die letzte, die ich mit Amy teile. Sie wachte nie wieder auf. Nie wieder.

„Den Blumenstrauß hat ausnahmsweise nicht Mrs. Fredley gebunden, sie ist nämlich krank. Du kannst dir ja denken, wie ich darauf reagiert habe", sage ich lachend, da ich Amys tadelnden Gesichtsausdruck förmlich vor mir sehen kann. „Aber", fahre ich fort, „wie du siehst, habe ich dir trotzdem einen wunderschönen Strauß mitgebracht. Mrs. Fredleys Vertretung hat's echt drauf oder? Das würde ich ihr gegenüber natürlich nie zugeben, aber dir kann ich das ja anvertrauen." Verschwörerisch zwinkere ich dem weißen Marmorstein zu und überlege dann kurz, was ich Amy noch erzählen könnte, schließlich bin ich schon fast eine Woche lang nicht mehr bei ihr gewesen. Unwillkürlich überfallen mich Schuldgefühle, weshalb ich wieder zu reden beginne, um das fiese Gefühl des Schuldbewusstseins in mir zum Schweigen zu bringen.

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