VII

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Der Wecker meines Handys klingelte pünktlich um 6:30 Uhr und ich rieb mir verschlafen die Augen. Der Stress der letzten Tage und die verkürzte Nachtruhe durch meinen gestrigen Besuch bei Liza machten sich bemerkbar und ich ging ins Bad. Die Dusche war ein Energieschub für meinen Körper, und als ich mein Frühstück mit einer Tasse Kaffee hinuntergespült hatte, war ich vollends wach. Ich suchte meine Arbeitstasche und überprüfte im Spiegel mein Abbild. Der Anzug saß nicht perfekt, was aber sehr wahrscheinlich an seinem Alter lag. Ich beschloss bei Gelegenheit eines der unzähligen Modegeschäfte in Manhattan aufzusuchen, doch dafür hatte ich momentan weder Zeit noch Geld. Ich wusste nicht, ob es mich beunruhigen sollte, dass ich in den letzten zwei Tagen keine Anzeichen eines Dämonen gespürt hatte. Es war schon recht seltsam, dass nach meinem Aufeinandertreffen mit dem Botendämon in meiner alten Wohnung und der Nachricht der Hülle in der Wohnungsvermittlung keinerlei dämonische Aktivität um mich herum stattzufinden schien. Ich griff meinen Mantel vom Haken neben der Tür und verließ mit meiner Tasche in der anderen Hand die Wohnung. Während ich draußen im Flur stand und meinen Mantel anzog, fiel mein Blick auf die gegenüberliegende Wohnungstür. Einem Impuls folgend, wollte ich an der Tür klopfen. Ich besann mich jedoch recht schnell wieder und fühlte mich von mir selbst ertappt, als ich auf die Straße vor dem Haus trat und den Weg in Richtung der Bahnstation einschlug. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichte ich die Metalltreppe und stieg hinab. Die Station war nur mäßig gefüllt und so rechnete ich mir gute Chancen auf einen Sitzplatz aus, da dies erst die zweite Haltestelle auf dem Fahrplan der Bahn war. Der Zug traf ein und mit gut einem Dutzend anderer Leute stieg ich in das Abteil. Tatsächlich war erst ein Drittel der Sitzplätze belegt und ich ließ mich auf einen der gepolsterten Sitze fallen. Trotz der kurzen Fahrzeit zog ich meine Kopfhörer aus der Innentasche meines Mantels und stöpselte sie in mein Handy, zwar hatte ich nur Zeit für ein oder zwei Lieder, bevor ich meine Haltestelle erreichte, doch die Macht der Gewohnheit ließ mich diese Routine immer wieder durchlaufen. Nach ein paar Minuten stoppte die Bahn erneut und das Abteil füllte sich weiter mit Menschen. Der nächste Stopp, welcher auch gleichzeitig der Haltepunkt war, an der ich aussteigen musste, lag am äußeren Rand des Stadtkerns. An diesem ersten Knotenpunkt in Richtung des Herzens New Yorks schoben sich auch schon um diese Uhrzeit die Menschenmassen über den Bahnsteig. Meine Kopfhörer in den Ohren drängte ich mich durch die Menge und bahnte mir meinen Weg zurück an die Oberfläche. Nach zehn weiteren Minuten auf dem vollkommen überfüllten Bordstein erreichte ich endlich den Hauptsitz von Coleman&Seed's. Das Gebäude war ein typischer New Yorker Mehrstockbau mit großen verspiegelten Fenstern. Ich betrat die Lobby und grüßte unsere Sekretärin Kelly, die hinter dem Empfang saß und mir lächelnd zuwinkte. Danach wandte ich mich den Fahrstühlen im rückwärtigen Teil der geräumigen Lobby zu und fuhr in den vierten Stock, wo mein Büro lag. Während der Aufzug nach oben fuhr, schob ich meine Kopfhörer zurück in eine der Innentaschen und zuckte kurz zusammen kurz, als meine Finger kaltes Metall berührten. Ich fluchte leise, während meine Hand denn Griff der schweren Pistole umfasste, die sich immer noch in meiner Jackentasche befand. Zwar war laut Gesetzt das Tragen einer verdeckten Waffe, trotz der Reformwende im Jahr 2021, immer noch erlaubt aber die Hausordnung untersagte eigentlich jede Form von Waffen innerhalb des Gebäudes. Ich seufzte und trat durch die sich öffnenden Aufzugtüren auf den Gang hinaus. Vor mir lag ein langer Flur, an dessen Seiten dutzende Türen abgingen, die alle zu einem eigenen Büro führten. Ich schritt den mit einem dunkelblauen Teppich ausgelegten Korridor entlang, bis ich zu der Tür mit der Zimmernummer 432 kam. Abteilung: Hausratsversicherung. Sektion: F-J. Sachbearbeiter: Blair, Reese, prangte auf dem kleinen Plastikschildchen neben der Tür, die ich jetzt öffnete und das dahinterliegende Büro betrat. Mein Kollege Brandy Reese, mit dem ich zusammenarbeitete und mir das Büro teilte, saß schon an seinem Schreibtisch und hatte den ersten Becher Kaffee schon vor sich stehen. Er schaute von seinem Monitor auf, als ich durch die Tür trat, und begrüßte mich: „Morgen Athan, weißt du, wo das Dokument über den Schadensersatzantrag der Familie Hayle geblieben ist?" „Morgen Brandy, das war der Fall mit der kaputten Wasserleitung, die dann die Gefriertruhe kurzgeschlossen hat oder?" Brandy nickte und wandte sich wieder seinem Monitor zu. „Das Dokument habe ich mit nach Hause genommen, wollte ich eigentlich am Wochenende noch reinschauen, habe ich aber nicht mehr geschafft." Brandy starrte weiter auf seinen Monitor, während ich ihm das Dokument auf den Schreibtisch legte, er griff nach der dünnen Aktenmappe und fragte beiläufig: „Am Wochenende Stress gehabt oder warum haste es nicht geschafft?" Ich überlegte kurz, bevor ich antwortete, und sagte dann nur: „Ja, gab Probleme mit meinem Vermieter aber ich spiele schon länger mit dem Gedanken, aus der Wohnung auszuziehen." „Überlege dir das gut:" sagte Brandy. „Momentan ist es echt schwer günstigen Wohnraum in der Stadt zu finden." Ich ließ seine Aussage unkommentiert im Raum stehen und wandte mich meinen eigenen Fallakten zu. Während meine Finger die Papierstapel auf meinem Schreibtisch durchwühlten, sprach ich Brandy auf den bevorstehenden Besuch von Kane Davian an. Er verzog das Gesicht, als ich den Namen aussprach und sagte, dass der Besuch für etwa 16:00 Uhr angesetzt sei. „Wenigstens noch in Ruhe Mittagessen." Murmelte ich und wandte mich wieder meinem Monitor zu. Gegen 12:30 Uhr verließen wir gemeinsam unser Büro und machten uns mit den anderen Kollegen von der Hausratsabteilung auf den Weg zu einem nahe gelegenen China-Imbiss, welcher schon seit Jahren, neben ein paar anderen Fast Food Restaurants in der Nähe zu unserem Stammlokal geworden war. Das große Gesprächsthema beim Essen war natürlich der Besuch von Kane Davian. Viele meiner Kollegen teilten die eher negative Ansicht über die politische Ausrichtung Davians, doch es gab auch laut einem Kollegen, der öfter mal Fälle zusammen mit den Leuten von der KFZ Versicherung bearbeitete, durchaus Stimmen innerhalb der Agentur, die sich klar für Davian und seine Politik aussprachen. Die Sympathie für den radikalen Millionär kam also nicht nur aus unserer Chefetage, sondern auch aus den Reihen unserer eigenen Leute. Wie groß diese Sympathie tatsächlich war und wie tief unser Boss, Neville Seed, versuchen würde, diesem Politikerarschloch in den Hintern zu kriechen, wurde uns erst bewusst, als wir wieder im Haus der Agentur waren. Um kurz vor 16:00 Uhr wurden wir über die Lautsprecheranlage auf dem Korridor dazu aufgefordert, uns unverzüglich im großen Konferenzraum der Etage zu melden. Jede Abteilung verfügte über so einen Raum, der gut und gerne eine Fläche von knapp dreißig Quadratmeter besaß. Brandy und ich erhoben uns von unseren Schreibtischen und traten auf den Gang hinaus. Überall um uns herum öffneten sich Türen und unsere Kollegen vermischten sich mit uns zu einem Strom, der sich in Richtung des Konferenzraumes bewegte. Dort angekommen setzte sich jeder von uns auf einen der bereitgestellten Stühle und richtete seinen Blick mehr oder weniger begeistert auf das provisorische Rednerpult, welches am Ende des Raumes aufgestellt worden war. Die Tür zum Raum wurde erneut geöffnet und ein kaltes Prickeln überzog meine Haut. Da ich aber relativ weit außen am geöffneten Fenster saß, machte ich den kühlen Herbstwind und den durch die offene Türe entstandenen Durchzug dafür verantwortlich. Alle Köpfe im Raum wandten sich nach hinten und betrachteten die Neuankömmlinge. Die Gruppe umfasste insgesamt sechs Personen, zum einen waren da Neville Seed, Kane Davian und dessen Wahlkampfmanager Collin Seth sowie zwei persönliche Sicherheitsleute Davians und ein Fotograf von der Presse. Die Gruppe bewegte sich, mit Ausnahme des einen Sicherheitsmannes, der an der Tür stehen blieb und des Fotografen, der sich weiter hinten im Raum postierte, durch einen schmalen Gang in der Mitte der Stuhlreihen. Unser Boss betrat als Erster das Podium und hielt mit vor Stolz trotzender Stimme eine Rede über die große Ehre dieses Besuches und die damit verbundene Auszeichnung für die Agentur. Ich vermutete, dass er diese Rede schon in den drei Abteilungen vor uns aufgesagt hatte und sie auch in den zwei Abteilungen über uns wiederholen würde. Als er endlich damit fertig war die Agentur und die so fortschrittliche Politik Davians in den Himmel zu loben, übergab er das Mikrofon an den Politiker und dieser setzte zu seiner Rede an. Auffallend war, die Ruhe und die Kälte, mit der er sprach. Er wählte seine Worte mit äußerster Präzision und seine Stimme war ungewöhnlich hart. Seine Stimme unterstrich sein äußeres Erscheinungsbild perfekt: Er war nicht besonders groß und trug einen maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug mit einer stahlgrauen Krawatte. Diese spiegelte farblich seine etwas längeren Haare wieder, dessen Spitzen fast schon den oberen Rand seiner dünnen Brille berührten. Ohne Umschweife kam er auf sein politisches Programm zu sprechen, welches er anhand unserer Agentur, als aufstrebendes Unternehmen der Mittelschicht, erläuterte und uns allen einen Sprung in die glorreiche Zukunft New Yorks prognostizierte. Er sprach vom endgültigen Aufstieg New Yorks, der Washington komplett in den Schatten stellen sollte und New York zu der Position verhelfen würde, die es schon lange hätte einnehmen sollen. Auch wenn er es nie direkt ansprach, machte er keinen Hehl daraus, was er mit seiner Politik schaffen wollte. Eine Zweiklassengesellschaft, aus der die armen Bürger wie lästiges Ungeziefer vertrieben werden sollten, bis sie vollständig aus dem Stadtbild New Yorks verschwunden waren und dieses dann nur noch aus einer Schicht reicher und wohlhabender Leute bestand. Seine Worte widerten mich an und mir wurde regelrecht schlecht, bei dem was dieser eiskalte Millionär von sich gab. Auch unter meinen Kollegen trafen die Worte des Politikers auf Abneigung, ich konnte es ihren Gesichtern und dem allgemeinen Gemurmel und Getuschel zwischen den Sitzreihen entnehmen. Zum Abschluss der Veranstaltung bestand Davian darauf, jedem von uns persönlich die Hand zu geben und uns für unsere Arbeit für so ein erfolgreiches und aufstrebendes Unternehmen zu gratulieren. Ich verdrehte genervt die Augen, während ich mich gemeinsam mit meinen anderen Kollegen erhob und mich in die Schlange der Wartenden einreihte. Während ich wartete, drückte ich das Fenster neben mir zu und hoffte so den kalten Zug innerhalb des Raumes unterbinden zu können, der mich immer noch frösteln und meine Haut prickeln ließ. Merkwürdigerweise wurde es auch nicht besser, nachdem ich das Fenster geschlossen hatte und so schob ich es auf die Tür, die anscheinend nicht richtig von Davians Sicherheitsgorilla geschlossen worden war. Ich schüttelte mich kurz, um das Gefühl loszuwerden aber es half nichts. Die Reihe rückte weiter vor und ich kam auf der Höhe des Podiums zum Stehen, neben mir auf dem Podium stand der Wahlkampfmanager Collin Seth. Ein Stechen durchfuhr meinen Körper und ich schüttelte mich erschrocken. Brandy, der hinter mir stand, schaute mich an und fragte: „Alles in Ordnung mit dir Athan?" Ich nickte und machte zwei Schritte nach vorne auf Davian zu. Durch das erhöhte Podium war er ungefähr mit mir auf Augenhöhe und ich sah ihm in die fast schon leblos wirkenden, blauen Augen. Er lächelte, als er mir die Hand gab, was zu einem bizarren Kontrast führte, da seine Augen weiterhin wie tot aus ihren Höhlen starrten. Ich ergriff seine Hand und kurz darauf schien mein gesamter Arm in Flammen zu stehen, ein sengender Schmerz raste durch meinen Körper und nahm mir für eine Sekunde den Atem. Ich sog scharf die Luft ein und riss meine Hand förmlich aus der des Politikers. Dieser schaute mich mit verwunderter Miene an und fragte so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte: „Alles in Ordnung bei ihnen? Sie sehen so bleich aus Mister Blair oder sollte ich lieber Mister Selfield sagen?" Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich den Mann vor mir an, dessen Augen nun scheinbar zum Leben erwachten und in einem unnatürlichen Glanz zu funkeln begannen. Ich riss mich von seinem Anblick los und keuchte nur: „Entschuldigen sie mich Sir." Danach stolperte ich zur Tür, vorbei an dem mich misstrauisch beäugenden Sicherheitsmann und stürzte auf den Flur und in Richtung der Toilette. Hinter mir hörte ich noch, wie mein Boss hektisch auf Davian einredete. Ich riss die Tür zur Toilette auf und stürzte in eine der Kabinen. Ich schlug die Tür hinter mir zu und im nächsten Moment erbrach ich mich auch schon in die Kloschüssel vor mir. Mein Arm brannte immer noch wie Feuer und meine Eingeweide zogen sich zusammen, kalter Schweiß rann mir von der Stirn und tropfte in meine Augen und auf die weiße Keramikschüssel unter mir. Nachdem mein Magen sich beruhigt hatte und mein gesamtes Mittagessen vor mir in der Toilette schwamm, richtete ich mich zitternd wieder auf und betätigte die Klospülung. Meine Beine fühlten sich an, als ob sie aus Gummi wären und ich wankte zum Waschbecken, um mir Mund und Gesicht zu waschen. Mein Blick fiel auf meinen rechten Arm, als ich meine Ärmel hochkrempelte. Die Narben auf meinem Arm pulsierten noch immer und pumpten die Dunkelheit unter meiner Haut durch den ganzen Arm. Dünne schwarze Nebelschwaden lösten sich von der Haut und schwebten wenige Zentimeter über meinem Arm. Ich griff nach dem Wasserhahn und drehte ihn auf, das Wasser spritzte auf meine Hände und dort wo es die dünnen Nebelschwaden berührte, schienen diese wie Wasserfarbe zu verlaufen. Einige Sekunden lang starrte ich gedankenverloren auf dieses Schauspiel, bevor ich mir Wasser in Gesicht spritzte und mir den Mund abwusch. Das Wasser tat gut und ich ließ meinen Kopf auf das kühle Metall der Waschbeckenarmatur sinken und schloss die Augen. Nur das Rauschen des Wassers halte in meinen Ohren wieder. Während mein Körper sich von dem Vorfall wieder langsam erholt hatte, begann mein Geist grade erst zu realisieren, was geschehen war und ich hatte das Gefühl, als ob mein Kopf im nächsten Moment vor rasenden Gedanken explodieren würde. War einer der mächtigsten Vertreter der High Society und Anwärter auf eines der wichtigsten politischen Ämter der USA ein Dämon? Die Frage war für mich logischerweise von rein rhetorischer Natur, da ich es vor wenigen Minuten am eigenen Leib erlebt hatte. War das der Grund dafür, dass diese Kreaturen des Signums mich wieder jagten? Es musste so sein, denn warum sonst sollten diese dämonischen Mächte wieder in mein Leben treten. So lange hatten sie keine Präsenz auf der irdischen Welt gezeigt und nun, kurz vor diesem so wichtigen Ereignis, tauchten sie hier in New York auf. Was sie wollten, war mir mehr als klar. Mit einem der Ihren an der politischen Spitze dieser Stadt hatten sie einen enormen Einfluss auf die Hauptstadt und konnten mit der richtigen Vorgehensweise, global gesehen, massiven Schaden bewirken. Der Dämon, der in Kane Davians Körper hauste, musste enorme Kräfte besitzen, wenn er diesen ohne Einschränkungen und Einbuße der Lebenszeit kontrollierte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Davian selbst nur eine Produktion des Signums war, da er dafür zu real und menschlich gewirkt hatte. Eine solche Illusion über Jahre hinweg aufrechtzuerhalten war selbst für einen noch so mächtigen Dämon unmöglich. Alleine schon das Erhalten des Körpers mit all seinen Fähigkeiten wies darauf hin, dass es sich um einen mächtigen Dämon, wenn nicht sogar einen Erzdämon, handeln musste. Bevor ich jedoch weiter über Davians inneren Dämonen nachdenken konnte, wurde hinter mir die Klinke heruntergedrückt und die Tür geöffnet. Hastig krempelte ich meine Ärmel über den noch immer leicht schwarz angelaufenen, pulsierenden Arm und wirbelte herum. In der Tür stand Brandy und sah mich mit besorgter Miene an: „Scheiße Mann Athan, geht es dir gut? Du siehst ja mal richtig beschissen aus!" Ich brachte ein müdes Lächeln zustande und winkte ab. „Mein Magen hat heute wohl ein Problem mit dem scharfen Essen, ich sollte mir das nächste Mal wieder was anderes bestellen." Brandy schaute mich noch einige Augenblicke prüfend an, doch dann lächelte er ebenfalls und hielt mir die Tür offen. Ich folgte ihm auf den Gang und gemeinsam machten wir uns auf den Rückweg. Glücklicherweise gingen wir nicht zurück in den Konferenzraum, sondern direkt in unser Büro. Auf dem Weg dahin erzählte mir Brandy, wie der Rest der Veranstaltung verlaufen war. „Der Boss war ziemlich perplex, als du auf einmal das Weite gesucht hast und er hatte einige Mühe Davian eine halbwegs anständige Erklärung abzuliefern. Danach war das Treffen gelaufen, Neville war ziemlich aufgebracht und hat uns zurück in unsere Büros geschickt. Du sollst dich nach Feierabend übrigens noch mal bei ihm persönlich melden, der nimmt dir die Aktion glaube ich ziemlich übel, obwohl du da ja eigentlich auch nichts für kannst." Ich nickte nur und dachte dabei: „Oh, wenn du wüsstest, Brandy was ich dafür kann." Wir erreichten unser Büro und machten uns wieder an die Arbeit, auch wenn meine Gedanken immer noch Achterbahn in meinem Kopf fuhren und ich mich kaum konzentrieren konnte. Glücklicherweise fiel Brandy meine mangelnde Konzentration nicht auf und wir schafften es noch, bis zum Arbeitsschluss um 18:30 Uhr, zwei Fälle durchzuarbeiten und einen weiteren vorzubereiten. Wir verließen unser Büro und gingen in Richtung der Fahrstühle, dort angekommen verabschiedete ich mich von Brandy, der die Treppe nahm und nach unten in Richtung Lobby ging. Ich selbst betätigte den Knopf für einen der Aufzüge und wartete, bis die Kanzel auf meiner Etage anhielt. Die Tür schwang auf, ich betrat den leeren Aufzug und drückte den Knopf für die siebte Etage, auf der sich das Büro von unserem Boss Neville Seed befand. Dort angekommen verließ ich den Aufzug und schritt den langen Gang entlang, an dessen Ende sich zwei Türen befanden. Die eine führte zum ehemaligen Büro von Georg Coleman, dem zweiten Gründungsmitglied der Agentur. Coleman war allerdings kurz nach der Gründung mit Seed in einen heftigen Streit geraten, was die Eigentumsrechte der Agentur anging und war sogar vor Gericht gezogen. Den darauf folgenden Prozess verlor er und so wurde Neville Seed alleiniger Eigentümer von Coleman&Seed's. Ich wandte mich der anderen Tür zu, die in Seed's Büro führte, und klopfte an. Nach einer kurzen Pause hörte ich ein „herein", ich öffnete die Tür und betrat das Büro. Neville Seed war ein Mann mittleren Alters und von einer durchschnittlichen Statur. Er war die treffende Verkörperung des Wortes unauffällig, er wirkte wie der Durchschnittsbürger, der in jeder Tageszeitung und in jedem zweiten Werbespot abgebildet war. Der Anzug war nicht zu teuer aber dennoch makellos und sein braunes Haar trug er stets zu einem ordentlichen Scheitel gekämmt. Wenn man ihn allerdings kannte, dann wusste man, dass er alles andere als unauffällig und durchschnittlich war. Mit Coleman&Seed's hatte er sein Lebenswerk geschaffen, eine Versicherungsagentur für den normalen Bürger, die ihre Konkurrenz in nahezu allen Belangen weit in den Schatten stellte. Es hatte ihn viele Jahre gekostet die Agentur auf diesem hart umkämpften Markt an die Spitze zu bringen, doch er hatte es geschafft, sich zu behaupten. Auch wenn die letzten Jahre ihn etwas überheblich und arrogant gemacht hatten, nachdem er an dem Lebensstandard der Reichen und Vermögenden gekratzt hatte, musste man ihm lassen, dass er sich seinen Erfolg eisern und durch eine unglaubliche Ausdauer selbst erarbeitet hatte. Er war an sich kein schlechter Typ aber der Erfolg und die hohen Umsätze der Agentur waren ihm zu Kopf gestiegen, da er nun zweifellos zum oberen Teil der Mittelschicht gehörte, die aktuell immer lauter an die Türe der Oberschicht zu klopfen begann und um Einlass bat. Neville winkte mich zu seinem Schreibtisch heran und bat mich auf einem der davor stehenden Stühle Platz zu nehmen. Das Büro war in den Grundzügen seiner Ausstattung klassisch, besaß aber aufgrund einer Vielzahl kleiner persönlicher Einrichtungsgegenstände und Bildern deutlich mehr Charme als die restlichen Büros im Gebäude. Auch die Stühle waren deutlich größer und bequemer als die normalen Bürostühle und hatten die Bezeichnung „Chefsessel" durchaus verdient. Ein flüchtiger Schauer lief mir über den Rücken, nachdem ich mich niedergelassen hatte, da mich die Situation auf unangenehme Weise an meinen letzten Tag im Waisenhaus in Cardiff erinnerte. Der Gedanke verflog jedoch wieder recht schnell, als mein Chef mir gegenüber zu reden anfing: „Mister Blair, sie wissen bestimmt, warum ich sie um dieses Gespräch gebeten habe?" „Ja Sir, ich denke, es ging um den Zwischenfall heute Nachmittag bei der Präsentation von Mister Davian. Ich bitte sie dies zu entschuldigen." Mister Seed legte seine Fingerspitzen zusammen und schaute mich über dessen Kuppen hinweg an: „Keineswegs Mister Blair, ihr Kollege hat mich schon zur Genüge aufgeklärt. Schlechtes Essen, so etwas kann jedem von uns einmal passieren, es war nur wie gesagt ein unglücklicher Zufall, dass es sie genau an diesem Tag erwischt hat. Nein der wahre Grund für dieses Gespräch Mister Blair ist ein anderer." Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch und entgegnete: „Der da wäre Mister Seed?" „Wie sie wohl unschwer festgestellt haben werden, befindet sich die New Yorker Wirtschaft in einem unaufhaltsamen Aufwärtstrend. Dieser Trend betrifft nicht nur die Industrie Mister Blair, sondern auch unseren Sektor, den Dienstleistungssektor. Folglich müssen wir uns auf eine stärkere Konkurrenz und aggressive Methoden der Kundenabwerbung vonseiten eben dieser Wettbewerber einstellen. Wir besiedeln zwar keine sehr schnelllebige Branche, wenn der Kunde einmal angeworben ist, verlässt er einen nicht mehr so schnell, aber selbst in unserem Geschäft kann es vorkommen, dass der Anhängerstamm den Marktführer verlässt und dieser ziemlich unsanft auf dem harten Boden der Realität und des Umsatzes aufkommt. Wie sie sicherlich verstehen, können wir dies nicht zulassen und dafür brauchen wir fähige Mitarbeiter. Mitarbeiter wie sie Mister Blair, ich sehe in ihnen großes Potenzial, dafür müssen sie aber auch bereit sein das eigene Wohl, über das anderer zu stellen." Ich kniff die Augen zusammen und musterte ihn argwöhnisch. „Wie meinen sie das genau? Ich verstehe nicht ganz." Seed sah mich nun eindringlicher an: „Ich spreche von Entscheidungen Mister Blair. Ich halte sie für einen sehr aufmerksamen und fähigen jungen Mann. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass sie in ihrer aktuellen Position unterfordert sind und nach Höherem streben. Dies würde dem Gemeinwohl der Agentur dienen und den Optimierungsprozess in unserem Haus vorantreiben." „Sie reden von Personalaufsichtsmanagement, eine Art Überwachungsinstanz für die Abteilung?" Mister Seed lächelte: „Sie haben es erfasst, sie würden quasi zum Aufsichtsleiter über die gesamte Abteilung aufsteigen. Ihre Aufgabe in der eigens dafür eingerichteten Stabsstelle bestünde lediglich darin, die Produktivität jedes Einzelnen zu erfassen und diese Daten an den Zentralaufsichtsrat beziehungsweise die Chefetage weiterzureichen. Natürlich käme ihnen auch eine entscheidende Rolle in der Personalbedarfsplanung zu, die fortan durch ihr Urteil und das Urteil der anderen Personalaufsichtsleiter grundlegend beeinflusst werden würde." Ich hatte während des Gesprächsverlaufes schon die Vermutung gehabt, dass es auf diesen Punkt hinauslaufen würde, bekam mit diesen Worten aber die endgültige Bestätigung. Bei dem Gedanken kam mir die Galle hoch und ich dachte mir: „Du willst also, dass ich meine Kollegen überwache und die ans Messer liefere, die nicht die gewünschte Leistung erbringen? Na schönen Dank auch du Arsch!" Mein Mund war jedoch so klug diese Gedanken nicht laut auszusprechen, sondern formulierte nur eine ausweichende Antwort: „Sehen sie Mister Seed, dieses Angebot kommt in der Tat recht überraschend und ich habe momentan viel Stress in meinem Privatleben, von daher würde ich gerne um etwas Bedenkzeit bitten, um diese nicht grade einfache Entscheidung zu treffen." Seed sah mich mit einem erstaunten Ausdruck in den Augen an: „Oh, ich hätte nicht gedacht, dass sie so etwas wie Bedenkzeit brauchen Mister Blair. Fühlen sie sich etwa nicht in der Lage einer solchen Herausforderung entgegenzutreten?" „Doch, doch das schon." Entgegnete ich schnell und dachte mir nur: „Athan du Idiot! Du hast ihm grade eine Steilvorlage geboten, dich an passender Stelle und zu passender Zeit abzuschießen!" Seed blickte mich skeptisch an und entgegnete nur: „Nun Mister Blair, in der Tat befindet sich die Aufstellung der Personalaufsichtsstellen noch in der Planung und besteht nur auf dem Papier. Sie haben also noch durchaus die von Ihnen gewünschte Bedenkzeit zur Verfügung. Ich werde zu gegebener Zeit wieder auf sie zu sprechen kommen." Seine Tonart machte mir klar, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet war und ich stand auf und reichte ihm zum Abschied die Hand. Er ergriff diese und sah mir ein letztes Mal in die Augen, dabei sagte er: „Denken sie an meine Worte Mister Blair. Sie haben Potenzial, verschwenden sie es nicht! In der heutigen Zeit kann einem schnell das Genick gebrochen werden und man wird gefressen. Wenn sie verstehen, was ich meine." Ich blickte ihm entgegen und sagte: „Ja Sir, ich verstehe durchaus." Danach wandte ich mich um und verließ das Büro. Auf dem Weg nach unten in der Stille der Aufzugkabine gingen mir die Worte meines Bosses nicht aus dem Kopf. Nun hatte mich der von Shawn prognostizierte Effizienzwahn vollends erreicht und wie jeden Anderen auch stellte er mich vor eine bittere Entscheidung. Entweder du brichst deinen Gefährten das Genick oder es wird dir von eben diesen gebrochen. Es gab immer jemanden im eigenen Umfeld, der weniger Skrupel besaß als man selbst. Mit diesen düsteren Gedanken verließ ich die Agentur und betrat die inzwischen dunkle Straße. Die Straßenlaternen warfen ihr kaltes Neonlicht auf die Bordsteine. Meine Füße trugen mich automatisch in Richtung der Bahnstation, während meine Hände das Kabel meiner Kopfhörer entwirrten und den Klinkenstecker in die Buchse meines Handys schoben. Die Musik isolierte mich von der Umgebung und so stieg ich in die fast menschenleere Bahn, die mich zurück nach Greenwich Village bringen sollte.

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