XII

4 0 0
                                    


Ich fühlte mich, als ob ein hundert Kilogramm schwerer Klotz auf meiner Brust liegen würde und mir jede Luft zu atmen nahm. Ich lag auf dem Rücken und spürte harten Asphalt unter mir. Langsam öffnete ich die Augen, musste diese aber sofort wieder vor dem gleißenden Licht der Sonnenstrahlen schließen, die vom klaren blauen Himmel aus in meine Augen stachen. Ich drehte den Kopf zur Seite und öffnete erneut die Augen um mich umzusehen. Die Bewegung meines Kopfes löste einen starken Schwindel und eine Woge der Übelkeit aus, sodass ich kurz befürchtete mich übergeben zu müssen. Ich musste ein paar Mal blinzeln, um die tanzenden Lichtflecke vor meinen Augen loszuwerden und wieder klar sehen zu können. Meinen Blick auf eine Häuserreihe, die sich hinter einem Zaun an einer Straße entlang zog. Das Bild ergab im ersten Moment keinen Sinn für mein Gehirn und ich fragte mich, warum jemand einen Zaun mitten auf dem Bordstein bauen würde, um ihn von der Straße abzutrennen. Nach ein paar Sekunden hatte sich mein Gehirn neu geordnet und ich begriff, dass ich nicht auf dem Bordstein neben der Straße, sondern auf der anderen Seite des Zaunes lag, der das Grundstück auf dem ich mich befand, von dem Bordstein und der Straße trennte. Ich richtete mich auf und sah mich hektisch nach allen Seiten hin um, während ich den aufkommenden Brechreiz unterdrückte, der sich einstellte sobald ich meinen hämmernden Kopf schnell nach links und rechts bewegte. Ich befand mich am äußeren Rand des Geländes der Millennium High School, direkt neben der Stelle, an der ich den Schulhof im Signum betreten hatte. Etwas abseits von mir standen vereinzelte Menschengruppen, die allesamt in angeregte Gespräche vertieft zu sein schienen. Glücklicherweise schien aber keiner von ihnen mich bemerkt zu haben. Einige Wenige der grau uniformierten Mitglieder des Sicherheitsdienstes standen noch auf dem Schulhof herum und beobachteten die Leute, die sich allmählich ihren Weg Richtung des großen Schulhoftores bahnten. Die Veranstaltung musste inzwischen beendet worden sein, ob dies so geplant war, oder ob es etwas mit meinem Auftauchen im Signum zu tun hatte, konnte ich nicht sagen. Die Männer des Sicherheitsdienstes wirkten allerdings in keiner Weise angespannt, also ging ich davon aus, dass sie nicht durch Davian oder seinen Manager angewiesen worden waren nach einer verdächtigen Person zu suchen. Vielleicht aber auch hatte nur keiner von den beiden bis jetzt die Gelegenheit dazu gehabt, den Sicherheitsdienst über eine eventuelle drohende Gefahr zu informieren. So oder so wollte ich mich nicht länger als nötig an diesem Ort aufhalten, den ich praktisch ja nie betreten hatte. Ich machte einige Schritte auf die nächste größere Gruppierung zu und merkte, wie sich die Welt um mich herum erneut zu drehen begann. Ich musste kurz anhalten und einige tiefe Atemzüge durch meine schmerzende und durch den Sturz gepeinigte Lunge nehmen, um das Karussell, in dem mein Wahrnehmung fuhr, wieder zum Stehen zu bringen. Mein Blick glitt in Richtung des großen Eingangstores, durch das sich nun immer mehr Leute auf den Gehweg davor drängten. Mit unsicheren Schritten passierte ich die Letzten vereinzelten Menschenansammlungen auf dem Schulhof und reihte mich in den Strom der Passanten ein, die das Gelände verließen. Die Polizisten vor dem Tor betrachteten das Gedränge und Geschiebe mit Gelassenheit und ermahnten nur ab und zu einzelne Personen, die im Eifer einer Diskussion mit ihrem Gesprächspartner einfach stehen geblieben waren und so den zäh fließenden Menschenstrom kurzzeitig zum Erliegen brachten. Ich musste meine volle Konzentration aufbringen, um im Gedränge der Leute nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu Boden zu stürzen. Ich war gerade auf der Höhe eines Polizeibeamten, als ein Mann mittleren Alters sich unsanft an mir vorbei drängte, um seine kleine Tochter einzuholen, die in dem dichten Menschenstrom von ihm getrennt worden war und nun aus vollem Hals nach ihrem Vater schrie. Der plötzliche Stoß gegen meine Schulter war zu viel für meinen so oder so schon überfordertes Gehirn und für einen kurzen Moment befand mein Körper sich im freien Fall in Richtung des asphaltierten Bodens. Der Polizist neben mir trat aus Reflex einen Schritt nach vorne und stellte seinen eigenen Körper dem meinem entgegen, der sich auf dem Weg nach unten befand. Er fing mich auf und stellte mich wieder zurück auf meine Füße. Ich taumelte einen Moment und der Polizist griff erneut nach mir, um mich erneut vor einem Sturz zu bewahren. Dieses Mal bekam er mich an meinem Mantel zu fassen und ich spürte, wie seine Hand gegen das Metall meiner Pistole drückte und diese gegen meine Rippen schlug. Seine Hand ruhte für den Bruchteil einer Sekunde auf dem Metall unter meinem Mantel und ich erhaschte einen kurzen Moment der Verwunderung in seinem Blick. Eigentlich war es für ihn unmöglich gewesen innerhalb dieses kurzen Augenblickes den Gegenstand unter meinem Mantel als Waffe zu identifizieren, doch mein Gehirn war nicht mehr in der Lage diese Erkenntnis umzusetzen. Ohne Herr über meinen eigenen Körper zu sein, schob ich mich wortlos an dem Polizisten vorbei und stolperte durch das Tor auf den Bordstein, den ich mit großen Schritten in Richtung der Bahnstation entlang hastete. Hinter mir hörte ich den Polizisten rufen und für einen kurzen Moment ertönte das Klappern von Schuhen hinter mir auf dem Asphalt. Ich beschleunigte meine Schritte und einen Augenblick später, war das Geräusch der mir folgenden Schritte nicht mehr zu hören. Den ganzen restlichen Weg zur Bahnstation blieb ich nicht stehen und sah mich immer wieder nach allen Seiten hin um, aus Angst einer der Polizisten oder noch schlimmer einer der dämonischen Schergen Davians könnte mir auf den Fersen sein und mich verfolgen. An der Bahnstation angekommen drängte ich mich in die größte Gruppe der am Bahnsteig Wartenden, was mir einen bösen Blick und gelegentlich ein paar unschöne Worte von den Leuten einbrachte, die ich dabei anrempelte. Ich murmelte eine Entschuldigung, während ich meine Umgebung weiterhin nach allen Seiten im Blick hatte. Die Bahn rauschte mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Station ein und erleichtert stellte ich fest, dass neben mir auch noch gut zwei Dutzend weitere Leute in die schon zu gut drei Vierteln gefüllte Bahn stiegen. Normalerweise hasste ich es mich in so überfüllte Kabinen zu quetschen, doch nach meiner buchstäblichen Höllenfahrt vor zwei Tagen war ich froh über die Anonymität, die solch eine Menschenmasse einer einzelnen Person verlieh. Trotz der kalten Jahreszeit draußen war die Luft in dem Abteil, durch die vielen warmen Körper in ihren dicken Mänteln, aufgeheizt und stickig. Mein immer noch angeschlagener Kopf rebellierte aufgrund des Mangels an Sauerstoff und die Welt um mich herum begann sich wieder zu drehen, als sich die Bahn mit einem Ruck in Bewegung setzte und innerhalb kürzester Zeit wieder mit Höchstgeschwindigkeit die Magnetleitung entlang schoss. Die hohe Geschwindigkeit war für mein überfordertes Gehirn und meinen geschundenen Körper zu viel, sodass ich die volle Fahrt zurück nach Greenwich Village über keinen klaren Gedanken fassen konnte. Das Chaos in meinem Kopf klärte sich allmählich und die Übelkeit ließ etwas nach, als ich die Stufen der Bahnstation hinaufstieg und das Gedränge der Menschenmasse hinter mir zurückließ. Für einen kurzen Moment blieb ich mitten vor den Stufen des Abgangs zur Station stehen, schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug von der kalten Herbstluft. Meine Brust reagierte mit einem schmerzhaften Stechen auf die Ausdehnung meiner Lunge und so stieß ich nach ein paar Sekunden die Luft wieder in einem langsamen Atemzug aus meiner Lunge. Ich öffnete wieder die Augen und sah die Straße entlang. Es war ruhig, einige Menschen liefen ohne Hast über den Bordstein und auf der Straße selber fuhren einige Autos, an denen ab und zu einzelne Fahrradfahrer vorbei kurvten. Für den Bruchteil einer Sekunde, in dem mein Gehirn versuchte die Geschehnisse auf dem Gelände der High School mit dem friedlichen Bild der Umgebung um mich herum zu verbinden, wurde das Signum und alle dazugehörigen Erlebnisse zu einer Absurdität. Für diesen kurzen Augenblick dachte ich, dass ich nun einfach zurück zu Liza in die Wohnung gehen, sie in den Arm nehmen und einfach da weiter machen könnte, wo es am gestrigen Morgen in meinem Bett geendet hatte. Beim Gedanken an sie musste ich lächeln und ich hätte mich nur all zu gerne dieser Illusion hingegeben, doch die nächsten Bilder in meinem Kopf waren mein vernarbter Oberkörper im Spiegel und ihr ängstlicher Blick, aus dem die Verwirrung und die Unsicherheit sprachen. Was sie gesehen hatte, war zu viel und zu absurd für das Gehirn eines normalen Menschen gewesen und ihre Reaktion war im Nachhinein betrachtet sogar relativ harmlos ausgefallen. Dies konnte zu einem am Alkohol und der Erregung vom Vorabend liegen oder aber auch an ihren starken Nerven, die sie ebenfalls beim Anblick meiner Verletzungen bewiesen hatte. Die Gedanken an sie verfolgten mich bis zu meiner Wohnungstür, bevor ich diese hinter mir zu zog, hielt ich den Blick für ein paar Sekunden gedankenverloren auf ihre Eingangstür gerichtet. Ich riss meinen Blick los und verschwand in meiner Wohnung, in der ich mich meines Mantels entledigte und diesen einfach über die Stuhllehen eines der Küchenstühle warf. Mit einem Mal überkam mich schlagartig die Müdigkeit und ich schleppte meinen geschundenen Körper die Stufen hoch. In meinem Zimmer angekommen entledigte ich mich meiner restlichen Kleidung, warf alles achtlos zu Boden und fiel auf mein Bett, wo ich nahezu augenblicklich einschlief.
Ich schreckte schweißgebadet aus dem Schlaf hoch und sah mich hektisch in dem Halbdunkel meines Zimmers um. Die Bilder der Dämonen, die sich in meinen Träumen in meine Wohnung geschlichen hatten und wie schattenhafte Insekten über meine Wände gekrochen waren, verblassten allmählich vor meinen Augen und wichen den leblosen Schatten der Möbel. Ich richtete mich in meinem Bett auf und warf einen Blick aus dem Fenster, hinaus in den dunklen Himmel der langsam anfing seine Farbe von Schwarz zu dunkelblau zu verändern und so den zaghaften Beginn eines neuen Tages ankündigte. Meine Hand tastete im Halbdunkel nach meiner Nachttischlampe und das Licht, welches von dieser ausging, nachdem ich den Schalter betätigt hatte, ließ mich die Augen zusammenkneifen und schickte einen stechenden Schmerz durch meinen Kopf. Ich wandte den Blick ab und blinzelte ein paar Mal, um die tanzenden Flecken vor meinen Augen zu vertreiben, danach hob ich meine Hose vom Boden auf und tastete die Taschen nach meinem Handy ab. Es hatte bei meinem Sturz aus dem Fenster in meiner hinteren Hosentasche gesteckt und war durch den Aufprall auf dem harten Asphalt etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Quer über das Display zogen sich kleine Risse in der Glasoberfläche, die wie ein Spinnennetz in der oberen rechten Ecke zusammenliefen. Ich betätigte die seitliche Sperrtaste und auf dem Display flimmerten Uhrzeit und Datum auf. Glücklicherweise ließ der Touchscreen sich noch mit Ausnahme der oberen rechten Ecke problemlos bedienen. Ich schob das Handy zurück in die Hosentasche und stand vom Bett auf, um ins Badezimmer zu gehen. Auf dem Weg dorthin stellte ich fest, dass sich mein Körper, abgesehen von dem pochenden Schmerz hinter meiner Schläfe, in einer relativ soliden Verfassung zu befinden schien. Die Schmerzen vom Vortag in meinem Brustkorb und meinen Beinen waren nahezu vollends verschwunden und ein Blick in den Spiegel bestätigte einmal mehr die dämonische Heilfähigkeit meines Körpers, da keine einzige Schramme oder ein Bluterguss meinen Oberkörper zierte. Ich betastete vorsichtig eine meiner Rippen, doch auch der Druck meiner Hand verursachte keine Schmerzen. Für einige Minuten stand ich gedankenverloren vor dem Spiegel und ließ die Geschehnisse vom Vortag noch einmal in meinem Kopf Revue passieren. Davian und Seth, beides überaus mächtige Dämonen, die sich scheinbar durch eine Art symbiotische Verbindung am Leben erhielten. Seth besorgte Davian allem Anschein nach regelmäßig menschliche Seelen, um ihn am Leben zu erhalten und im Gegenzug teilte Davian diese Macht mit ihm, sodass er durchgehend frischen Nachschub von der irdischen Welt ins Signum lotsen konnte. Ein Pakt zwischen Dämonen war an sich nichts Ungewöhnliches aber die Tragweite des Vorhabens überstieg das, was ich bisher gekannt hatte um ein Vielfaches. Es ist zwar die Natur eines Dämonen immer nach noch mehr Macht zu streben und das Verlangen sich in der Welt des Signums an die Spitze der Machtkette zu setzten bestimmt quasi den Lebenszweck eines jeden Dämonen aber von einem Plan mit derartig gewaltigen Ausmaßen hatte ich in keinem der Bücher und Schriften gelesen, die ich mein ganzes Leben lang studiert hatte. Die Pest war mit die größte Einwirkung der Dämonen auf die irdische Welt gewesen und hatte ihr verheerenden Schaden zugefügt, ebenso wie die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert aber bei keinem dieser Pläne war es darum gegangen, die Kontrolle über die Menschen und ihre Welt zu übernehmen. Der Dämon im Inneren von Davians Körper musste wohl einer der Erzdämonen aus den tiefsten Winkeln des Signums sein, die von ihrem inneren Machthunger derart verzehrt werden, dass sie die Welt der Menschen nicht nur brennen sehen, sondern komplett unterwerfen wollen. Der Gedanke an einen scheinbar größenwahnsinnigen Dämon, der in seinem Inneren eines der größten und primitivsten menschlichen Bedürfnisse widerspiegelte, ließ mich unweigerlich grinsen. Die Bedrohung, die von Davian und seinem Handlanger ausging, wurde durch die Tatsache, dass der Dämon in seinem Inneren unbewusst einen der ältesten menschlichen Krankheiten, dem Größenwahn, verfallen war, nicht gerade geringer. Meinen Blick galt es jetzt vorerst auf Seth zu richten, da ohne ihn Davian nicht mehr in dieser Welt überleben würde. Beziehungsweise musste ich davon ausgehen, dass es mir gar nicht erst möglich wäre, Davian zu töten, solange Seth noch am Leben war. Der symbiotische Bund zwischen den beiden Dämonen schien ihre Seelen miteinander verkettet zu haben und es war davon auszugehen, dass der Erzdämon, solange sein Handlanger noch lebte, keinen Schaden durch Angriffe nehmen würde beziehungsweise sich einfach an den Seelen, die ihm gebracht wurden, wieder regenerierte. Sollte es mir allerdings gelingen seinen Handlanger zu töten und ihm so seine Versorgung mit Lebensenergie zu nehmen, war er wie jeder andere Dämon und ich konnte auch ihn töten, zumindest hoffte ich das. Ich wandte mich vom Spiegel ab und ging zurück in mein Schlafzimmer, um mich vollends anzuziehen und danach runter ins Wohnzimmer, um mir Frühstück zu machen. Während ich mir einen Kaffee ansetzte und mir zwei Scheiben Toast schmierte, war ich in Gedanken schon wieder bei Seth und ich fragte mich ob auch er, wie Davian ein ganz normales Leben geführt hatte und erst in die Fänge der Dämonen geraten war, als seine und Davians Wege sich gekreuzt hatten. Ich trug mein Toast zum Tisch und klappte meinen Laptop auf, um einige Nachforschungen über Seth anzustellen. Die Ergebnisse waren eher spärlich, da er genau wie Davian seinen Karriereaufstieg erst mit dem wirtschaftlichen Boom im Jahre 2016 begonnen hatte. Er hatte das Glück gehabt zu diesem Zeitpunkt für eines der Zugpferde der amerikanischen Wirtschaft zu arbeiten und hatte innerhalb von kürzester Zeit ein beachtliches Privatvermögen aufgebaut. Dieses verschaffte ihm in den kommenden Jahren den Zugang zur High Society, über die er wohl auch mit Davian in Kontakt gekommen war. Kurz nach seinem Beitritt in diesen elitären Kreis der reichsten Männer des Landes, quittierte er vorerst seine Arbeit als Unternehmensberater und zog sein eigenes privates Sicherheitsunternehmen auf. Der Name des Unternehmens regte einen Gedanken in meinem Kopf, und als ich auf die Website schaute, wusste ich auch wieder, warum ich meinte, ihn irgendwo schon einmal gelesen zu haben. Name und Logo waren identisch mit denen, die ich noch am Vortag auf den grauen Uniformen und dem Mannschaftsbus des Sicherheitsteams gesehen hatte, welches das Gelände der High School und Davians Auftritt bei Coleman&Seed's überwacht hatte. Vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum die Dämonen Seth ausgewählt hatten, um Davian im Wahlkampf zu unterstützen, denn so konnten sie nebenbei auch noch für die Sicherheit ihrer menschlichen Hülle in der irdischen Welt garantieren. Weitere Recherchen ergaben, dass Seth mit seinem Unternehmen, schon vor der Zeit der gemeinsamen Kooperation mit Davian einige lukrative Aufträge für diverse berühmte Persönlichkeiten und sogar einige Politiker erledigt und sich so einen Namen gemacht hatte. Nachdem er und Davian in der High Society Bekanntschaft miteinander gemacht hatten, war er für die Dämonen zum perfekten Partner ihrer Marionette geworden und sie mussten kurz darauf auch von ihm Besitz ergriffen haben. Nachdem ich mir nun zusammengereimt hatte, warum die Dämonen Seth ausgewählt hatten, musste ich mir Gedanken darüber machen wie ich ihn beziehungsweise den Dämonen in seinem Inneren loswerden konnte. Ich holte meinen Kaffee aus der Küche und machte mich auf die Suche nach Details zu Seth Privatleben. Dies gestaltete sich allerdings als außerordentlich schwierig, da er nicht wirklich zu einer Person des öffentlichen Lebens zählte und so nur wenig abseits seiner Arbeit über ihn im Internet zu finden war. Nach fast zwei Stunden Recherche durch alle möglichen Foren und Blogs von Waffenliebhabern, Personen aus der privaten Sicherheitsszene und Diskussionen über die Privatisierung der öffentlichen Sicherheits- und Ordnungsaufgaben, stieß ich in einem Thread, der weit von seinem ursprünglichen Thema abgedriftet war auf ein Foto. Dieses zeigte eine Wagenkolonne aus dunklen, schwer gepanzerten Limousinen, die eine bewaldete Zufahrtsstraße entlangfuhren, welche zu einem umzäunten Gelände führte. Das Wenige, was sich auf dem Bild von der Umgebung erkennen ließ, deutete darauf hin, dass das Gelände sich außerhalb der innerstädtischen Ballungsgebiete befinden musste. Das umzäunte Gebiet musste beachtliche Ausmaße haben, auch wenn man durch die dichte Bewaldung im näheren Umkreis des Grundstückes nicht viel erkennen konnte. Unter dem Foto war ein Kommentar des Users, in dem dieser behauptete auf den Bildern einen exklusiven Schnappschuss irgendeiner neuen Ausführung von irgendeinem bestimmten Automodell gemacht zu haben und somit die Existenz eines zuvor scheinbar lange spekulierten Rüstungsdeals, beweisen zu können. Ob die Behauptungen über das Auto oder den vergebenen Auftrag der Wahrheit entsprachen, war mir relativ gleich aber eine Randinformation in den ausschweifenden Erläuterungen des Verfassers erweckte mein Interesse. Dort war nämlich zu lesen: „Hier zu sehen ist der Vorsitzende Collin Seth von New Age Security Service auf dem Weg zum Hauptsitz seiner Firma in Old Vermont." Auf der Website des Unternehmens war in keiner Zeile der Hauptsitz der Firma erwähnt worden, was laut anderen Foreneinträgen damit zu tun hatte, dass die Firma eine eigene Ausbildungs- und Forschungsabteilung besaß. Wohl aus Angst vor Industriespionage wurde der Standort des Hauptsitzes mit dem daran anknüpfenden Forschungszentrum unter Verschluss gehalten. Dass ich in diesem schon seit Monaten inaktiven Thread auf die Information des vermeidlichen Hauptsitzes gestoßen war, hatte ich mehr dem Zufall zu verdanken als alles andere. Ich durfte mich allerdings nicht zu früh freuen, denn immerhin hatte ich keine Zusicherung dafür, dass die Information auch stimmte. Ich öffnete einen neuen Tab und rief Google Earth auf und gab Old Vermont als Ziel meiner Suche ein. Bei beinahe 24.000 Quadratkilometern Fläche, über die sich das Gebiet des ehemals selbstständigen Bundesstaates erstreckte, war mein Vorhaben einen einzelnen Gebäudekomplex zu finden sehr ambitioniert und da ich keine Lust hatte die nächsten Stunden damit zu verbringen jeden Quadratkilometer Land auf dem Bildschirm meines Laptops nach dem ungefähren Standort des Gebäudes abzusuchen, musste ich mein Suchgebiet irgendwie weiter eingrenzen. Ich wechselte zurück auf das Bild und suchte nach Details, die ich bei der ersten Betrachtung vielleicht übersehen haben könnte und tatsächlich existierte ein solch entscheidendes Detail. Am Rand der Aufnahme waren die relativ unscharfen Konturen eines Straßenschilds zu sehen. Details ließen sich leider nicht erkennen und so kopierte ich das Bild in das Bildbearbeitungsprogramm meines Laptops und nach ein paar Minuten Feinjustierung konnte ich die Aufschrift auf dem Schild entziffern. Das Schild verwies auf den Highway US 7 in einer Entfernung von siebenunddreißig Kilometern. Damit hatte ich einen Anhaltspunkt, auch wenn dieser nicht sonderlich aufschlussreich war, hatte ich nun immerhin einen groben Leitfaden, an dem ich mich orientieren konnte. Ich klickte mich einige Zeit an dem Verlauf des Highways entlang und suchte dabei nach Nebenstraßen oder Zufahrtswegen, die abseits von bewohnten Gebieten lagen. In der Nähe des Dow Pond entdeckte ich ein vielversprechendes Gebiet. Ein etwa anderthalb Kilometer langer Weg führte von der Case Street, welche durch die Quarry Road mit dem Highway 7 verbunden war, mitten in den Wald. Der Karte nach standen dort nirgendwo Gebäude am Ende des Weges, als ich allerdings zur Satellitenansicht wechselte und ganz nah an das Ende des bewaldeten Wegs heranzoomte, konnte ich zwischen den Bäumen die Umrisse zweier Gebäudekomplexe gerade noch erkennen. Der erste Komplex bestand aus zwei unmittelbar aneinanderhängenden Gebäuden und der Zweite, welcher wesentlich kleiner war als der Erste, stand etwas weiter abseits von diesem. Die ersten beiden Gebäude könnten der Firmenhauptsitz sowie das von den anderen Usern erwähnte Testlabor sein, aber was war dann das dritte Gebäude? War es realistisch anzunehmen, dass es sich dabei um ein privates Haus von Seth handelte? Ganz abwegig war der Gedanke nicht, immerhin war der Mann steinreich und besaß mit Sicherheit mehr als ein Anwesen. Ich verglich noch einmal das Foto mit dem Satellitenbild, die Ähnlichkeit war trotz der beiden eher mäßigen Aufnahmen zu groß, sodass es sich dabei nur schwerlich um einen Zufall handeln konnte. Ich lehnte mich zurück und richtete meinen Blick gegen die Decke. Selbst unter der Annahme, dass sich bei dem Ort auf dem Foto und dem auf der Satellitenaufnahme um denselben handelte, reichte es als Verbindung zu Seth noch lange nicht aus. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, ob es sich bei dem Kommentar des Fotografen um die Wahrheit handelte oder ob es nicht nur eine frei erfundene Randinformation war, die er brauchte, um seine Theorie zu untermauern. Und selbst wenn die Information stimmte, wusste ich nicht, ob Seth überhaupt auf dem Gelände sein würde. Bevor ich jedoch weiter darüber nachdenken konnte, ob sich ein Trip über fünfhundertzwanzig Kilometer für eine vage Vermutung lohnen würde, vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Ich nahm es zur Hand und erkannte auf dem Display die Handynummer von Brandy. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich schon längst auf der Arbeit hätte sein müssen. Ich nahm das Gespräch entgegen und auf der anderen Seite der Leitung konnte ich Brandy sagen hören: „Ey Mann Athan, wo zum Henker steckst du? Du bist schon fast zwei Stunden zu spät dran! Hast du nicht die Mail von Mister Seed bezüglich der vorgezogenen Dienstbesprechung gelesen? Die ist in einer halben Stunde, und wenn du nicht da bist, dann reißt er dir den Kopf ab, verdammt! Du weißt doch, wie angespannt der momentan ist. Ich schloss die Augen und tat einen langen Atemzug, die Mail hatte ich natürlich nicht gelesen, ich hatte die letzten paar Stunden wesentlich bedeutsamere Probleme gehabt, auch wenn ich wusste, dass die Situation auf der Arbeit sich langsam aber sicher in ein weiteres Problem verwandelte, welches ich neben meinen anderen Problemen überhaupt nicht gebrauchen konnte. Brandys Stimme erklang wieder in meinem Ohr, er war unweigerlich lauter geworden, da ich immer noch kein einziges Wort gesagt hatte und die Lautstärke in Verbindung mit dem blechernen Klang der Handylautsprecher ließen meine Kopfschmerzen wieder aufflammen. Ich schnitt ihm etwas zu barsch das Wort ab, wofür ich mich sogleich wieder entschuldigte, danach sagte ich ihm, dass ich meinen Handywecker nicht gehört hätte und quasi schon auf dem Weg zur Arbeit sei. Er wiederholte noch einmal eindringlich, dass Mister Seed mir den Kopf abreißen würde und ich wiederum wies ihn leicht gereizt darauf hin, dass mir das bewusst sei, und beendete das Gespräch. Danach schob ich mein Handy zurück in die Tasche und starrte einige Minuten lang aus dem Fenster, während in meinem Kopf die Gedanken erneut zu kreisen begannen. Hatte ich meinen Einsatz bei Seed nun vollends verspielt? Ich war mir beinahe sicher, dass ich es geschafft hatte, mich selbst hinauszuwerfen. Ich griff meinen Mantel von der Stuhllehne und stürzte den letzten Rest Kaffee hinunter, dann verließ ich die Wohnung und machte mich auf in Richtung der Bahnstation.

The Demons MirrorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt