Der schrille Ton meines Handyweckers dröhnte in meinen Ohren und ich tastete verschlafen nach dem Gerät. Meine Finger fuhren über die Seite des Plastikgehäuses, bis sie die Sperrtaste fanden, die gleichzeitig auch den Wecker ausschaltete. Nachdem das schrille Geräusch verstummt war, richtete ich mich auf und sah mich um. Liza lag neben mir und ihr Körper hob und senkte sich gleichmäßig im Rhythmus ihrer ruhigen Atemzüge. Der Wecker schien sie nicht im Geringsten gestört zu haben und ich schlüpfte, so leise es ging aus dem Bett, um sie nicht doch noch aufzuwecken. Ich ging ins Bad und betrachtete mein Abbild im Spiegel vor mir. Die Haut um den Schnitt auf meiner Brust hatte sich rot gefärbt, der Schnitt selbst aber war nun nicht mehr als ein blasser weißer Striemen, der quer über meine Brust verlief. Verwundert fuhr ich mit dem Finger über das dünne Narbengewebe. Danach schob ich vorsichtig einen der blutbefleckten Verbände auf meiner Schulter zur Seite und betrachtete die darunter liegende Kruste aus getrocknetem Blut. Die tiefen Einschnitte selbst schienen nicht mehr zu bluten, was eigentlich unmöglich war. Ich zog den Verband komplett hinunter und wusch vorsichtig das verkrustete Blut von meiner Schulter. Die Berührung mit der Wunde brannte zwar nach wie vor, doch nachdem ich die getrockneten Überreste abgewaschen hatte, ließen sich drei große weiße Narben erkennen. Ich betrachte sie mit Erstaunen im Spiegel, während meine Hand sachte über sie strich. Der tote Dämon im Waisenhaus von Cardiff musste mir wohl noch mehr Macht übertragen haben, als mir bis jetzt bewusst gewesen war. Wunden oder Verletzungen waren bei mir schon immer gut abgeheilt aber dies war eindeutig nicht das Werk meiner menschlichen Heilungskräfte. Diese dämonische Regenerationskraft trug ich anscheinend schon seit dem verhängnisvollen Tag im Waisenhaus in mir, bis jetzt hatte mein Körper nur noch nie davon Gebrauch machen müssen. Als ich nun genauer darüber nachdachte, fiel mir ebenfalls auf, dass ich seit meiner Zeit in Amerika nie ernsthaft krank gewesen war, was ich anscheinend den dämonischen Kräften meines Körpers zu verdanken hatte. Eine schwere äußerliche Verletzung hatte ich in dieser Zeit ebenfalls nie erlitten, was erklärte, warum mir diese Kräfte bis zum heutigen Tage nie aufgefallen waren. Ich zog den Verband von meiner anderen Schulter und säuberte diese, auch hier ergab sich das gleiche Bild wie auf meiner anderen Schulter. Die Haut um die Narben herum war noch rot und gereizt aber die Wunde an sich war bereits wieder verheilt. Ich warf die blutigen Verbände in den Mülleimer und suchte mir etwas zum Anziehen. Danach griff ich mir mein Handy vom Beistelltisch neben meinem Bett, dabei achtete ich darauf Liza nicht zu wecken und verließ leise wieder das Zimmer. Im Flur wählte ich die Mitarbeiternummer von Coleman&Seed's und hoffte, dass Kelly schon am Empfang saß. Nach einem kurzen Moment ertönte ein Klicken in der Leitung und Kelly meldet sich. Ich atmete erleichtert auf und erklärte ihr, dass ich aufgrund eines kleinen Unfalls heute nicht zur Arbeit kommen konnte und sie dies doch bitte Mister Seed und meinem Kollegen Brandy mitteilen würde. Sie machte sich ein paar Notizen und wünschte mir gute Besserung, bevor sie auflegte. Ich ließ das Handy sinken und überlegte, wie ich Liza den Umstand erklären konnte, dass die mysteriösen Wunden, die gestern noch frisch waren und dessen Ursprung ich ihr immer noch nicht verraten hatte, heute schon komplett verheilte Narben waren und das innerhalb von ein paar Stunden. Noch während ich mit meinem Handy in der Hand im Flur stand, spürte ich einen kühlen Luftzug in meinem Rücken, der aus Richtung des Schlafzimmers kam. Ich drehte mich um und sah Liza im Türrahmen stehen. Sie schaute mich mit ihren grünen Augen an, während sie auf nackten Füßen nahezu lautlos zu mir hinüber schritt und ihre Arme um meinen Nacken legte. Ich ließ das Handy in die Tasche meiner Jogginghose gleiten und fasste sie an den Schultern. „Wie geht es deiner Schulter?" Fragte sie und schob vorsichtig meine offene Trainingsjacke über meine Schulter, um einen Blick auf diese erhaschen zu können. Noch bevor ich sie daran hindern konnte, hatte sie meine Schulter freigelegt und starrte nun mit großen Augen auf das vernarbte Gewebe. Ich stieß einen leichten Seufzer aus und ließ sie los, als ich bemerkte, wie sie unwillkürlich ein paar Schritte zurückwich. „Hör mir zu, es mag zwar keine zufriedenstellende Erklärung hierfür sein aber es gibt Dinge an mir, die du nicht verstehen kannst. Niemand kann das." Sie schaute mich immer noch mit weit geöffneten Augen an und ihre Stimme zitterte leicht, als sie mir antwortete: „Du hattest recht, als du gestern gesagt hast, dass du es nicht verstehen kannst, warum ich dir helfe. Ich kann es auch nicht. Ich weiß nicht einmal was hier passiert oder was du überhaupt bist, das alles wirkt so echt aber..." Sie brach mitten im Satz ab und starrte mich panisch an. Ich konnte die Angst in ihren Augen sehen und wollte auf sie zugehen aber sie sah meine Bewegung und stolperte schnell die Treppe herunter. Unten angekommen rannte sie zur Wohnungstür, an der sie noch einmal kurz innehielt und sich zum Treppenabsatz umdrehte, den ich inzwischen erreicht hatte. „Das alles ist nicht echt, es kann nicht echt sein!" Sagte sie noch einmal, dieses Mal aber in einem wesentlich ruhigeren Ton. Ich sagte nichts und schaute sie nur an, während sie die Tür aufschloss und den Flur durchquerte. Ich hörte das Klicken ihres Türschlosses und kurz danach das Zuschlagen der Tür. Ich durchquerte das Wohnzimmer und schloss meine eigene Tür, danach ließ ich mich auf mein Sofa fallen. Die ganzen Gedanken, die während der gestrigen Nacht aus meinem Kopf verschwunden waren, brachen nun wie wogende Wellen wieder über mich herein und sorgten dafür, dass ich während der nächsten zehn Minuten nichts weiter machte, als den schwarzen Bildschirm meines Fernsehers anzustarren und nichts zu tun. Mich auf Liza einzulassen war ein Fehler gewesen, ich war mir dessen von vorneherein bewusst, doch die Illusion von einer normalen Beziehung, vielleicht sogar von einem normalen Leben, hatte mich in diesen Rausch getrieben. Ich war mir relativ sicher, dass sie vorerst niemandem davon erzählen würde. Sie schien unter Schock zu stehen und würde die Unstimmigkeit, die ihre Realität aus der Bahn warf bestimmt aus ihren Erinnerungen verdrängen. Zumindest hoffte ich, dass sie es tun würde. Ich versuchte sie aus meinen Gedanken zu verdrängen und mich auf etwas anderes zu konzentrieren, nämlich auf Davian und die gestrigen Vorfälle. Als mir dies nicht gelang, zwang ich mich aufzustehen und mir etwas zu essen zu machen. Während ich mir Marmelade auf einen Toast schmierte, versuchte ich mit aller Kraft meine Gedanken auf die gestrigen Vorfälle zu fokussieren und die Bilder der vergangenen Nacht aus meinem Gedächtnis zu vertreiben. Ich setzte mich an den Küchentisch und begann mein Frühstück zu verspeisen. Auf dem Tisch lagen noch immer der Verbandskasten und die kleine Tasche, in der Liza gestern das Verbandszeug hergebracht hatte. Ich nahm die Sachen vom Tisch und stellte sie neben meine eigene kleine Erste Hilfe Tasche, die ebenfalls noch auf dem Boden lag. Ich fischte mein Laptop von einem der Stühle, die um den Tisch herumstanden, und fuhr ihn hoch. Da mir im Moment nichts Besseres einfiel, gab ich bei Google einfach „Kane Davian" ein und startete die Suche. Die Anzahl der gefundenen Treffer überstieg beinahe die Millionengrenze und ich starrte auf die Dutzende Links zu den verlinkten Seiten auf meinem Monitor. Da ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte, öffnete ich den mir zuerst vorgeschlagenen Wikipedia Artikel zu Davians Person und begann zu lesen. Als ich den Artikel zu Ende gelesen hatte, blickte ich noch eine Weile nachdenklich auf den Monitor. Der Artikel schilderte Davians Aufstieg mit seiner eigenen Börsengesellschaft, der ihm innerhalb der High Society schnell ein hohes Ansehen einbrachte und ihm letztendlich Kontakte bis in die obersten Reihen verschafft hatte mit dessen Hilfe er nun nach der politischen Macht in New York griff. Auf den ersten Blick schien er nur einer von vielen Börsenspekulanten gewesen zu sein, die während des wirtschaftlichen Umbruches ihre Chance auf das große Geld gewittert hatten. Doch wollte man etwas über sein Leben vor dem amerikanischen Wirtschaftswunder erfahren, so gab es nahezu keine Informationen, die etwas Konkretes über sein Leben vor dieser Zeit offenbarten. Ich recherchierte weiter, um mehr über dieses Loch in seiner Laufbahn zu erfahren, doch auch die Informationen, die andere Internetseiten mir boten, konnten dieses Loch nicht im Ansatz füllen. Nach einer Stunde erfolglosen Suchens betrachtete ich meine spärlichen Ergebnisse. Alles, was ich über Davian in Erfahrung gebracht hatte, war, dass er laut seinem Wikipedia Artikel irgendwo in Colorado als Sohn eines Geschäftsmannes und einer Hausfrau zur Welt gekommen war und diverse Schulen in der Gegend besucht hatte. Nach seiner Schulzeit hatte er an Studium an einer zweitklassigen Privatuniversität studiert, die, wie ich nach kurzer Recherche feststellte, schon seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr existierte. In einigen Internetforen gab es noch Spekulationen und Gerüchte, bei welchen Firmen Davian vor seiner Zeit als selbstständiger Börsianer gearbeitet hatte, aber keine dieser Spuren erwies sich als etwas Brauchbares. Um meine These über die dämonische Übernahme Davians zu bestätigen, googelte ich noch etwas weiter und fand im Onlinearchiv von Longmont, Davians Geburtsstadt, tatsächlich eine Liste aller Neugeborenen, die in Davians Geburtsjahrgang dort zur Welt gekommen waren. Ein Junge namens Davian befand sich ebenfalls auf dieser Liste und auch Mutter und Vater stimmten mit den anderen Angaben, die ich gefunden hatte, überein. Ich war mir nun relativ sicher, dass Davian bis zu dem Zeitpunkt seines großen Erfolges ein ganz normaler Durchschnittsbürger gewesen war und nur durch seinen Erfolg die Aufmerksamkeit der Mächte des Signums auf sich gezogen hatte. Diese mussten ihn während seiner Aufstiegsphase eingenommen und von dort an für ihre Pläne missbraucht haben. Mit dem neu erworbenen Kapital ihres Opfers konnten sie die benötigten Kontakte knüpfen und alles vorbereiten, um über längere Zeit signifikanten Einfluss auf die irdische Welt zu nehmen. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als sich die Frage in meinem Kopf aufdrängte, wie lange Davian nun wohl schon im Besitz der Dämonen war und wie sie ihn so lange und so gut am Leben hatten erhalten können. Der große Boom lag jetzt etwa zehn Jahre zurück und Davians Körper wies nicht einmal die geringste Verfallserscheinung auf, was in Anbetracht der vergangenen Zeit seit der wahrscheinlichen Übernahme mehr als beängstigend war. Ich hatte noch nie von einem so mächtigen Dämon gehört und selbst für die Erzdämonen, welche die Tiefen des Signums durchstreiften, wäre eine solch lange Kontrolle eine extreme Herausforderung. Es musste eine Art externen Energiefluss geben, mit dem der Dämon Davians Körper am Leben erhielt. Ich hatte keine Ahnung was diese Energiequelle sein könnte, aber ich war mir relativ sicher, dass ich sie finden und zerstören musste, wenn ich Davian etwas anhaben wollte. Ich musste Davians näheres Umfeld untersuchen, um die Quelle zu finden, auch wenn ich noch nicht wusste, wie genau ich dies anstellen sollte. Wie durch Zufall fiel mir ein Werbebanner auf einer der Webseiten mit Informationen über Davian auf, das auf eine öffentliche Wahlkampfrede am morgigen Spätnachmittag hinwies. Die Veranstaltung sollte in der Sporthalle einer Highschool stattfinden, die etwas außerhalb vom New Yorker Zentrum lag. Ich beschloss, dass es zumindest ein Anfang wäre, wenn ich mir die Rede vom Signum aus anhören würde und vielleicht so einen möglichen Hinweis auf die Energiequelle bekommen könnte, die ihn am Leben hielt. Es war zwar ein extrem gefährliches und idiotisches Vorhaben einem offensichtlich so mächtigen Dämon im Signum zu beobachten, vor allem da er wusste, wer ich war. Eine bessere Idee hatte ich nicht und Nichtstun würde den Dämonen einen erneuten Zug gegen mich gewähren. Ich wollte Davian auf keinen Fall unvorbereitet gegenübertreten und so beschloss ich alles Nötige zu tun, um mich im Signum so gut es geht zu verbergen. Zwar hatten mich die Jahre meiner Kindheit und Jugend vieles gelehrt aber diese lagen nun auch schon wieder einige Zeit zurück und ich bezweifelte, dass die normalen Tricks ausreichen würden, um so etwas Mächtiges zu täuschen. Ich ging zurück in mein Schlafzimmer und kramte in einer der Schubladen des Beistelltisches, bis ich das kleine Notizbuch aus dessen Tiefen zog. Einen Moment lang betrachtete ich den abgewetzten und ausgeblichenen Ledereinband, der die inzwischen gelb angelaufenen und verknickten Seiten notdürftig zusammenhielt. Ich fuhr mit den Fingern über den Buchrücken und spürte die Reibung des abgenutzten Leders unter meinen Fingern. An meinen Fingerspitzen hatte sich der feine Abrieb des alten Leders abgesetzt und färbte diese leicht schwarz. Ich zerrieb die Reste zwischen meinen Fingern und ging wieder nach unten, wo ich mich an den Küchentisch setzte und anfing die vollgekritzelten Seiten zu durchstöbern. Einige Einträge waren durch die Spuren der Zeit zum Teil unleserlich geworden und so dauerte es eine Weile, bis ich auf die Notiz stieß, die ich suchte. Ich konnte mich noch dunkel daran erinnern, in irgendeinem Buch über die Mythologie des 14. Jahrhunderts in Osteuropa etwas über die Reisen eines jungen Klerikers in die neun Kreise der Hölle gelesen zu haben. Dieser Kleriker war der Erzählung nach während der großen Pest in die neun Kreise der Hölle hinab gestiegen, um die Ursache für das Leid auf der Erde zu ergründen. Ich wusste noch irgendetwas von einem Ritus, der den Träger auf seinem Weg durch die Unterwelt schützen sollte, aber Genaueres hatte ich vergessen. Meine Notizen zu dem Buch waren nur noch schwer zu entziffern, aber glücklicherweise war die Notiz zu Buchtitel und Autor noch lesbar. Ich hatte das Buch in der Bibliothek eines der Waisenhäuser gefunden, in denen ich gelebt hatte, bevor ich nach Cardiff gekommen war. Die Bibliothek war damals eine Art Rückzugsort für mich, da ich dort nicht den argwöhnischen Blicken der anderen Kinder ausgesetzt war. Ich wandte mich meinem Laptop zu und rief im Browser die Internetseite der New Yorker Stadtbibliothek auf. Nach kurzer Suche fand ich mehrere Einträge zu dem entsprechenden Themengebiet und glich die Ergebnisse mit meinen Notizen ab. Tatsächlich führte die Stadtbibliothek den Band in ihrem umfangreichen Archiv und ich beschloss, sofort in die Stadt zu fahren. Auf dem Weg nach draußen nahm ich die Tasche und den Verbandskasten von Liza mit und stellte beides vor ihre Wohnungstür. Ich bezweifelte, dass sie mir öffnete, wenn ich klingeln würde. Ich verließ das Haus und betrat die Straße, auf meinem Weg zur nächsten Bahnstation und beim Einsteigen in die Bahn sah ich mich immer wieder verstohlen um und fuhr mit meiner linken Hand über die Narben auf meinem rechten Arm. Die Bahn rauschte über die Stadt hinweg und näherte sich mit der üblichen halsbrecherischen Geschwindigkeit dem Zentrum. Diesmal fuhr ich weiter bis in das andere Ende des Stadtzentrums, an dem die Bibliothek lag. Der Weg von der Station aus war nicht so weit und nach etwa einer Viertelstunde stand ich vor dem imposanten Gebäude der Stadtbibliothek. Der Bau ging bis in das 19. Jahrhundert zurück und stand wie das Wahrzeichen einer längst vergessenen Zeit zwischen den modernen Bauten der Neuzeit. Diese Stadtbibliothek war die Letzte noch vorhandene in New York. Die Digitalisierung der modernen Welt machte Bücher immer mehr zu einem Auslaufmodell und so starben auch die Bücherei immer mehr aus. Aus den ehemals drei Büchereinen New Yorks war nun eine Große geworden, die einen Teil der Werke ihrer ehemaligen Koexistenten übernommen hatte und nun um ihr Dasein in einer sich immer mehr digitalisierenden Welt kämpfte. Ich betrat das Gebäude und fand mich in einem hallenartigen Flur wieder, auf dem links und rechts Türen zu allen möglichen Abteilungen abgingen. Im hinteren Teil der Halle lag eine Treppe, die in den ersten Stock führten, in dem noch mehr Bücher ihr Dasein in den riesenhaften Regalen fristeten. Das klackende Echo meiner Schuhsohlen wurde von den kunstvoll verzierten Wänden und der hohen Decke leise zurückgeworfen, während ich auf die Informationstheke in der Mitte des Raumes zuschritt. Hinter der Theke saß ein älterer Mann mit einer runden Brille und blickte mich mit einem leichten Lächeln an. „So jemand jungen wie sie, habe ich hier schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen Mister. Ich dachte, die jungen Leute von heute leben nur noch in der digitalen Welt und haben nichts mehr übrig für die alten Schätze, die unsereins hier hütet. Wie dem auch sei, was kann ich für sie tun?" „Ich bräuchte Informationen über den Standort eines Buches, eine Historie über die Mythologie des 14. Jahrhunderts in Europa." Der Mann blickte mich verwundert an und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Na das hätte ich nun am allerwenigsten erwartet. Was will den Jemand wie sie mit einem solchen Buch? Aber ich stelle zu viele Fragen, sagen sie mir einfach, wie der Band heißt und ich sage ihnen, wo sie ihn finden können." Ich nannte ihm Titel und Autor des Werkes und er verwies mich nach kurzer Suche in der Datenbank in den ersten Stock. Als ich die breite Treppe in die obere Etage hinaufstieg, betrachtete ich mit Ehrfurcht die atemberaubende Schönheit der Kunstwerke, welche die Wände und die Decke zierten. Oben angekommen durchquerte ich den langen Korridor, bis ich zu meiner linken die Abteilung fand, die der Mann an der Rezeption mir genannt hatte. In dem Abteil selbst standen reihenweise Bücherregale, die alle mehrere Meter hoch und noch etliche Meter mehr länger waren. Ich betrachtete die Informationstafel, die neben dem Eingang angebracht war und dem Besucher einen Überblick über die gigantischen Büchermassen in der Abteilung ermöglichte. Ich orientierte mich kurz anhand dieser Tafel und machte mich dann auf, um die Stelle im Regal zu finden, in dem das von mir gesuchte Buch stand. Selbst mit der Information des Mannes an der Rezeption und der Infotafel am Eingang der Abteilung war die Suche alles andere als leicht. Ich irrte durch die Gänge zwischen den riesigen Regalen und studierte die Infoplaketten, die an den einzelnen Regalen angebracht waren. Während meines Irrgangs sah ich keinen anderen Menschen in der Abteilung. Da diese aber so riesig und die Regale so hoch waren, konnte ich nicht sagen, ob ich alleine in diesem fast schon saalartigen Raum war oder ob noch andere Menschen zwischen den Regalreihen umherstreiften. Nach knapp zehn Minuten fand ich das gesuchte Regal und stellte fest, dass das Buch in den oberen Reihen stehen musste. Ich schob die an einer Führungsschiene befestigte Rollleiter an die Stelle am Regal, an der ich das Buch vermutete, und erklomm die Sprossen der alten Holzleiter. Ich fand das Buch relativ schnell, kletterte die Leiter wieder hinunter und machte mich auf den Weg zurück zum Ausgang der Abteilung, um einen der beiden großen Lesesäle aufzusuchen, die den Besuchern der Bibliothek die Möglichkeit bot in den Werken zu lesen und mit ihnen zu arbeiten. Mit dem Buch unter dem Arm schritt ich die Treppe hinunter und kam an einigen wenigen Besuchern vorbei, die auf dem Weg ins obere Stockwerk waren. Unten angekommen steuerte ich den Lesesaal im Ostflügel des Gebäudes an und trat durch die große Doppeltür. Vor mir erstreckte sich ein lang gezogener Saal, der in etwa das Ausmaß der Abteilung besaß, aus der ich soeben das Buch geholt hatte. Anstatt endloser Regalreihen standen hier allerdings zahllose kleine Tische mit Leselampen. Außer mir waren nur eine Handvoll Leute in dem Saal und so suchte ich mir einen freien Tisch, der etwas abseits von den besetzten Tischen stand. Durch die hohen Fenster viel genug Sonne, sodass ich die Lampe auf dem Tisch nicht benötigte, während ich mich durch das Inhaltsverzeichnis las und nach dem von mir gesuchten Eintrag forschte. Nach etwas suchen fand ich ihn und schlug die entsprechende Seite auf. Das Kapitel behandelte den ganzen Verlauf der Pest in Europa, die von 1347 bis zu ihrem Ende im Jahr 1353 mehr als fünfundzwanzig Millionen Menschenleben forderte. Weiter hinten in dem Kapitel fand ich zwischen unzähligen Bildern von diversen Holzschnitten, welche die Infektion oder Behandlung von damaligen Opfern zeigten, den von mir gesuchten Eintrag. Dieser war länger als ich ihn in Erinnerung hatte und umfasste knapp zwei Seiten zu dem „Teufelsjünger von Monte Oliveto Maggiore." Der Kleriker, welcher der Legende nach in die Hölle hinab gestiegen war, um die Ursache für die Pest zu ergründen, lebte in dem damals erst neu gegründeten Kloster in der Nähe von Siena. Der Eintrag schilderte detailliert wie der junge Mönch, der damals einer der ersten Schüler des Ordens war, ein verbotenes Ritual zur Beschwörung teuflischer Mächte durchgeführt hatte, welche ihm Zugang zur Unterwelt gewähren sollten. Der Mönch hatte in seinen persönlichen Aufzeichnungen das Ritual festgehalten und genau geschildert, wie der Dämon ihm das erste Mal erschien und ihn nach seinem Begehr fragte. Kurz darauf erschien er ihm ein zweites Mal und gab dem jungen Mönch einen vermeintlichen Talisman, der ihn beschützen sollte. Dieser Talisman allerdings hatte eine dämonische Sekundärfunktion, die den Bibeljünger in sein Verderben stürzen sollte. Die Hülle des Talismans waren drei ineinander verschlungene Sicheln, die eine Art Dreieck bildeten. In die Mitte dieses Dreieckes war ein purpurner Diamant eingelassen, in dem laut den Aufzeichnungen des Mönches eine stetige Dunkelheit waberte. Die Rückseite des Amulettes zierten mehrere Reihen von Runen, die der Mönch glücklicherweise in seine Notizen übernommen hatte. Mir waren diese Runen nicht unbekannt und ich entzifferte schnell, was in lexischer Schrift auf der Rückseite des Amulettes zu lesen war. Die Hülle des Talismans war für seine eigentliche Funktion vollkommen unwichtig und diente dem Defraudator alleine zur Ablenkung seines Opfers. Das eigentlich Entscheidende waren die Lexisrunen und die wabernde Dunkelheit im Inneren des purpurnen Diamanten. Der Defraudator, ein heimtückischer Dämon, der sich gerne mit den Menschen einließ und diese mit Verlockungen und Illusionen in ihr Verderben trieb, hatte dem Mönch ein wirkungsvolles Mittel gegen die Sichtbarkeit im Signum zur Hand gegeben. Dabei überschrieb er einen erheblichen Teil seiner Kräfte dem Mönch selbst und eröffnete ihm so einen Weg in das Dämonenreich des Signums. Die Illusion ließ den Mönch als einen Dämon in dieser Welt erscheinen, was es ihm ermöglichte in diese Welt einzutauchen und sich dort ohne Gefahr zu bewegen. Doch innerhalb des Beschwörungstextes auf der Rückseite des Talismans hatte der Defraudator eine Art Fangschaltung eingefügt, die ihm eine Seelenbindung an sein Opfer erlaubte. Dies bedeutete nichts weiter, als das der Mönch, sobald er das Signum betrat, seine eigene menschliche Seele dem Defraudator überschrieb und dieser sich somit den Körper des Mönches nach Belieben aneignen konnte, sobald der Mönch das Signum betrat. Der arme Kerl hatte sich unwissentlich selbst ans Messer geliefert und war innerhalb des Signums zugrunde gegangen. Verdammt dazu als eine Hülle auf alle Ewigkeit durch die endlosen Tiefen dieser Spiegelwelt zu streifen. In der irdischen Welt verschwand er spurlos und seine Aufzeichnungen wurden von dem Kloster als Warnung vor einem Pakt mit dem Teufel ausgestellt. Das Kloster selbst konnte dem Skandal um einen vermeintlichen Teufelsanbeter in den eigenen Reihen nur knapp entgehen und bewahrte sich so vor dem sicheren Ruin. Ich notierte die Runen aus den persönlichen Tagebüchern des Mönches, welche heute in einem Museum in Rom standen, in meinem eigenen Notizbuch und klappte das Buch wieder zu. Danach erhob ich mich von dem kleinen Lesetisch und klemmte mir das Buch unter den Arm. Mein Notizbuch ließ ich in meine Manteltasche zurückgleiten und steuerte in Richtung des Ausganges. Zurück in der großen Eingangshalle der Bibliothek ging ich zu dem Mann an der Rezeption und gab ihm das Buch zurück. Er lächelte und fragte ob ich gefunden, wonach ich gesucht hätte, während er das Buch zu einer Reihe anderen stellte, die ebenfalls darauf warteten, zurück in ihre Regale geräumt zu werden. Ich nickte nur und wünschte ihm noch einen schönen Tag, bevor ich die Bibliothek durch die riesige Eingangstür wieder verließ und in die Masse von Menschen auf dem Bordstein vor dem Gebäude eintauchte.
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The Demons Mirror
FantasyVor sieben Jahren hat Athan Blair versucht seinem Schicksal zu entfliehen und ein neues Leben in Amerika zu beginnen . Doch das was ihn verfolgt kennt keine Grenzen in der irdischen Welt. Die dämonischen Mächte jener Spiegelwelt, die seit Anbegin se...