N A H E L E
Zwei Tage waren vergangen, zwei endlos lange Tage. Ohne es zu wollen, vermisste ich Iolana. Sie war auf mein Drängen hin noch bis zum Abend geblieben und hatte sich ausgeruht, während ich gearbeitet hatte. Dann hatte ich ihr noch ein paar Schmerztabletten, Wasser und Brot mitgegeben und sie war verschwunden. Ich wusste nicht, wo sie jetzt war oder wie es ihr ging. Dabei hätte ich das so gerne gewusst, ihr wieder geholfen, ihr mein Bett zum Schlafen angeboten. Sie schien so ruhelos zu sein, immer wachsam, wie man es auf der Straße eben sein musste. Sie besaß diese Eigenschaft der dauernden Aufmerksamkeit und Konzentration auf jeden Fall. Das dachte ich zumindest, bis ich an diesem Abend im Wohnwagen auf dem Bett saß und ein Buch las. Ein unsicheres Klopfen ließ mich leicht zusammenzucken, da ich nicht mit Besuch rechnete, doch ich legte trotzdem sofort das Buch beiseite und beeilte mich, die Tür zu öffnen. Davor stand Iolana, am ganzen Körper zitternd. Ihre Klamotten waren zerrissen, Der Verband an ihrem Bauch war freigelegt und ganz augenscheinlich durchgeblutet. Doch das Schlimmste an ihrer Erscheinung war die Gebrochenheit in ihren Augen, mit denen sie mich hilflos anstarrte. "Bitte hilf mir." Für einen Moment war ich wie erstarrt, dann nickte ich und half ihr in den Wohnwagen. Schnell schloss ich die Tür hinter ihr und schloss ab, als ich ihren unsicheren Blick aufs Schloss bemerkte. "Was ist passiert?" Leise schluchzend ließ sie sich auf mein Bett fallen und legte ihr Gesicht in ihre Hände. "Da waren so Typen. Drei oder vier. Sie haben mich überfallen." Ich wusste, was „überfallen" in diesem Fall bedeutete. Sie hatten sie zusammengeschlagen und sich an ihr vergriffen, sowas war leider üblich in den dunklen Gassen Honolulus. Vorsichtig legte ich Iolana eine Hand auf die Schulter, doch sie zuckte sofort zusammen und starrte mich erschrocken an. Beschwichtigend hob ich die Hände und versuchte sie zu beruhigen. Aufmerksam musterte ich sie einmal von oben bis unten, bevor ich ihr einen Vorschlag machte. "Was hältst du von einer Dusche? Ich gebe dir etwas, womit du die Verbände wasserdicht verpacken kannst, dann schaue ich mir die Wunden nochmal an und du schläfst auf jeden Fall wieder hier. Ich gebe dir bequeme Klamotten von mir und wasche deine durchgebluteten und dreckigen Klamotten, hm? Was meinst du?" Nach einigen Sekunden der Stille, nickte das verängstigte Mädchen schließlich und erhob sich langsam. Ich suchte aus meinem Schrank Klamotten heraus und zeigte ihr, wie sie verhinderte, dass Wasser oder Seife in ihre Wunden kamen, dann zeigte ich ihr die Dusche und gab ihr Handtücher. Als ich schließlich das Prasseln des Wassers aus meinem winzigen Badezimmer hörte, atmete ich zum ersten Mal tief durch und rieb mir übers Gesicht. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, wie weit sie mir erlaubte, ihre Wunden zu versorgen, wenn doch schon meine Hand auf ihrer Schulter sie zusammenzucken ließ. Leise seufzend schüttelte ich mein Kopfkissen auf und schlug die Decke zurück, dann holte ich den Erste-Hilfe-Kasten, der noch immer bei mir in der Ecke stand, und suchte die notwendigen Sachen heraus. Irgendwann stoppte das Geräusch des prasselnden Wassers und kurze Zeit später kam Iolana aus dem Bad. Ihre Haare hatte sie weitestgehend trockengerubbelt, trotzdem hatte sie sich das kleine Handtuch um die Schultern gelegt. Meine dunkle Jogginghose war ihr deutlich zu groß und zu weit, doch sie hatte einfach die Enden ein wenig hochgekrempelt. Das T-Shirt dazu hing ebenfalls ziemlich lose an ihrem Körper, doch das schien sie nicht zu stören. Ihre Füße steckten in einem Paar Socken von mir, das beim Waschen mal sehr eingegangen war, trotzdem war es ein klein wenig zu groß. Schüchtern und unsicher schaute sie mich an und ich deutete aufs Bett. "Setz dich, dann schaue ich mir die Verletzungen an." Sie folgte meiner Aufforderung und ich begann mit den Wunden im Gesicht. Gegen das blaue Auge konnte ich jetzt nichts mehr tun, dafür war es zu lange unbehandelt gewesen. Den langen Kratzer am Haaransatz und den am Kinn versorgte ich mit Desinfizierspray und Pflastern, dann widmete ich mich dem Streifschuss am Unterarm. Die Wunde schien nicht entzündet zu sein und langsam zu verheilen. Schließlich wurde es brenzlig, denn jetzt musste ich an Iolanas Bauch. Sie wusste es, schaute mich trotzdem unsicher an. Mit beruhigender Stimme redete ich auf sie ein. "Es ist alles okay. Du kennst mich jetzt schon ein bisschen und ich verspreche dir, dass ich dir niemals etwas tun würde. Ich muss nur deinen Verband wechseln und schauen, ob du neue Verletzungen am Bauch hast. Darf ich das machen? Ist es okay für dich?" Für einen kurzen Moment regte Iolana sich nicht, dann nickte sie leicht. Während ich fortfuhr, erklärte ich ihr immer ganz genau, was ich tat, damit sie sich nicht erschreckte. Ihr Bauch sah furchtbar aus. Rund um die Schusswunde herum tummelten sich blaue und rote Flecken, spätestens übermorgen würde sie aussehen wie ein Regenbogen. Leise seufzend suchte ich nach Verletzungen, die ich behandeln konnte, fand aber nichts neues. Also kümmerte ich mich um die Schusswunde, bevor ich das T-Shirt wieder nach unten zog und Iolana vorsichtig anlächelte. "Du hast es geschafft. Willst du was essen oder trinken?" Sie schloss offensichtlich müde die Augen und schüttelte leicht den Kopf. "Erzähl mir was." "Was denn?", entgegnete ich irritiert, aber sie zuckte nur die Schultern. Also griff ich nach dem Zettel, den ich von Chin hatte, und entfaltete ihn. "Ist deine Mutter Dala Aikamiki? Du siehst ihr sehr ähnlich." Mit einem Ruck öffnete Iolana ihre Augen wieder und starrte mich an. "Woher weißt du das?", fragte sie leise. Ich erkannte den Schmerz in ihren Augen und bereute meine Frage sofort. Aber jetzt war es zu spät. Also erzählte ich Iolana, wie ich versucht hatte, sie zu finden. Nachdem ich geendet hatte, schaute ich sie unsicher an. Doch sie wirkte nicht sauer, sondern eher überrascht. "Ich kann gar nicht glauben, dass du so viel getan hast, um mich zu finden", sagte sie schließlich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Dieses verschwand jedoch bei ihren nächsten Worten. "Du hast Recht. Sie ist meine Mutter, leider." Ich schluckte und schaute wieder auf den Zettel. "Sie ist im Gefängnis, weil sie deinen Vater umgebracht hat." "Ja." Iolanas Stimme brach und ich beobachtete, wie einige Tränen aus ihren Augenwinkeln flohen. Sofort setzte ich mich enger zu ihr und strich ihr mit der Hand die einzelnen Tropfen von der Wange. Sie zuckte kurz zusammen, dann entspannte sie sich aber wieder und atmete tief durch. "Mein großer Bruder Ikaika ist verschwunden, als er für sie ihre beschissenen Drogen abholen sollte. Nach einem Jahr hat man ihn für tot erklärt. Mein Vater und ich haben ihr dann immer das Zeug besorgt. Dad hat sie immer geliebt, egal was für ein Monster sie war. Ich weiß bis heute nicht, wie er das aushalten konnte. Sie hat uns beide geschlagen, wir waren ihre persönlichen Sklaven. Und als Dad eines Tages nicht schnell genug war, da hat sie ihn ausgepeitscht und so heftig umgehauen, dass er mit dem Kopf gegen den Schrank geknallt ist. Er war sofort tot. Ich wurde zum Jugendamt gebracht und musste eine Aussage machen, dann kam meine Mutter ins Gefängnis und ich ins Kinderheim. Aber da konnte ich nicht bleiben, es ging einfach nicht. Also hab ich meine ganzen Wertsachen verkauft und ein Leben auf der Straße begonnen. Zwischendurch konnte ich ein wenig schwarzarbeiten, aber irgendwann war denen das auch ein zu großes Risiko. Und einen festen Job kriege ich nicht, weil ich noch nicht völljährig bin und keinen festen Wohnsitz oder ein Bankkonto angeben kann. Ich hab dann ein paar Mal geklaut oder mir das Essen aus Restaurants geben lassen, was die nicht mehr wollten. Aber irgendwann ging das auch nicht mehr, ich hatte keine Kraft mehr und einfach nur noch Hunger. Und dann hab ich den Imbiss überfallen." "Ab jetzt hast du jemanden, der auf dich aufpassen wird." "Wie ein echter Freund? So wie ein zweiter großer Bruder?" Ich nickte mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. "Genau so."
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You're my home (Hawaii Five-0 FF)
FanfictionIolana, "die Fliegende", deren Flügel gebrochen sind. Vater und Bruder tot, Mutter nach Mord am Vater im Gefängnis. Das Leben auf der Straße zerrt an der 17-Jährigen Insulanerin und schließlich beschließt sie vor Hunger, einen Imbiss zu überfallen...