Die Schulstunden flogen nur so dahin. Nada war seit unserem Gespräch auf der Toilette nicht wieder aufgetaucht. Die anderen aus ihrer Clique musterten mich misstrauisch. Dass ihre unangefochtene Anführerin nicht auftauchte, verunsicherte und verwirrte die Mädchen. Wenn Nada nicht bald auf der Bildfläche erschien, würde sie ihre Gruppe zwar wiederhaben, aber die Hierarchie würde dann bestimmt völlig auf den Kopf gestellt sein. Gerade als der Lehrer kopfschüttelnd wieder einen Eintrag ins Klassenbuch machen wollte, ging die Tür auf und Nada kam herein. Aber sie hatte sich verändert. Ihre langen, wunderschönen Haare, die bei jeder Bewegung knisterten und glänzten, waren ab! Nicht, dass sie eine Glatze gehabt hätte, aber der halblange Bob, den sie trug, der nach vorne länger wurde, sowie die leichten Wellen, die sie in den Pony gedreht hatte, machten sie irgendwie natürlicher.
Ihr Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen. Als ihr Blick meinem begegnete, nickte sie mir nur kurz zu. Dann rauschte sie an ihren Platz. Als sie auf gleicher Höhe war wie ich, taumelte sie plötzlich und stützte die Hand auf mein Pult. Ich schielte auf den Boden. Sie war nicht über irgendetwas gestolpert. Warum war sie dann umgefallen? So, wie sie sich im Sport bewegte, war klar, dass Nada so gut wie nie das Gleichgewicht verlor. Als sie die Hand wegzog, lag dort zwischen meinen bunten Stiften und Papierschnipseln, ein kleiner, zusammengefalteter Zettel. Er war so genau gefaltet, dass ich wusste, dass Nada ihn zusammengefaltet hatte.
Verwirrt hob ich den Kopf und suchte ihren Blick. Doch sie wandte nur wieder den Kopf ab und ging nach hinten, um sich neben Fjenn zu setzen. Gedankenverloren strich ich mit den Fingern über das Papier. Warum gab Nada mir einen Zettel? Konnte sie mich doch besser leiden als ich gedacht hatte?
Während einer unbeobachteten Minute faltete ich den winzigen Zettel unter meinem Pult auf. Dort stand, in einer engen, verschlungenen und verschnörkelten Schrift: «Wir müssen reden. N.» Nun war ich nur noch verwirrter. Warum musste Nada mit mir reden? Als es zur Mittagspause klingelte, schob Nada sich an unserem Tisch vorbei und schaute mich kurz auffordernd an.
Ich verstand, nickte und erhob mich. Tay schaute mich einigermassen verwirrt an. »Wo gehst du hin?» Ich lächelte beruhigend. »Nada will mit mir reden.» Tay schob die Brauen zusammen. Ihm passte das überhaupt nicht. Doch er gab sich geschlagen. Trotzdem folgte er mir über den Pausenhof und blieb an eine Mauer gelehnt stehen. »Ich warte hier auf dich.» Ich nickte nur und ging weiter. Natürlich war Nada schon da. Sie sass im Schneidersitz auf einem modernden Baumstamm. Als sie die knirschenden Schritte auf den Holzspänen hörte, hob sie den Kopf.
„Gut, dass du gekommen bist. Das erspart es mir, lange zu warten.» Sie nickte auf den Baumstamm. Gehorsam setzte ich mich.
«Wo ist Tay?»
«Er wartet bei der Mauer auf mich. Was willst du?»
«Mich entschuldigen. Vielleicht war ich etwas vorschnell mit meinem Urteil über dich. Er...» Sie stockte, überlegte kurz und meinte dann: »Er scheint glücklich zu sein. So zufrieden habe ich ihn noch nie gesehen. Und das kann fast nur an dir liegen. Ich wollte dich ausserdem warnen. Du hast einen Exfreund namens Marcel, nicht wahr?»
«Ich nickte, verwirrt, woher sie das wieder wusste. »Was ist mit ihm?»
«Beantworte mir eine Frage: Ist er hier?»
«Hier? Was meinst du mit ,hier'?»
«In der Gegend.»
«Ja ist er. Warum fragst du?»
«Weisst du was er ist?»
Ich verzog das Gesicht. Was er war? Was sollte denn diese seltsame Frage nun wieder bedeuten? »Ein... Mensch?» Sie verdrehte die Augen.
«Natürlich. Aber was für ein Mensch. Weisst du das?»
«Ein ganz normaler Teenager.»
«Eben nicht, Amy. Er ist ein Hunter.»
«Ein Hunter? Was soll ich mir darunter vorstellen?»
«Du weisst es nicht?»
«Was weiss ich nicht?»
«Was ein Hunter ist?»
«Nein, weiss ich nicht. Hat es irgendeine Bedeutung?»
Sie seufzte tief. »Ja, Amy das hat es. Ein Hunter ist ein Jäger. Aber» fügte sie mit einem gefährlichen Lächeln hinzu, »nicht irgendein Jäger. Ein Hunter jagt Mythen und Legenden. Vampire, Werwölfe, das ganze Programm. Ich hoffe, er hat Tay noch nicht kennengelernt.»
Mir schwirrte der Kopf. Marcel? ein Vampir- und Werwolfjäger? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Er hatte mich immer ausgelacht, dass ich gerne Geschichten las mit diesen Wesen, weil sie unrealistisch seien. Wie konnte er da nach ihnen jagen? »Doch, er kennt Tay.»
«Dann, fürchte ich, hat Tay ein Problem.»
«Warum?»
«Hunter merken es, wenn ein Mythos vor ihnen steht. Keine Angst, du gehörst noch nicht lange genug dazu. Dich hat er nicht erkannt. Tay dagegen... Nun sagen wir mal, er gehört von nun an zu den bedrohten Tierarten. Sobald ein Hunter weiss, wer ein Mythos ist, wird diese Person ohne Gnade gejagt.»
«Woher weiss ein Hunter, wer ein Werwolf oder Vampir ist? Warum jagt er sie? Und warum nennst du sie immer Mythos?»
Sie hob beschwichtigend die Hände. »Langsam. ich erkläre es dir von Anfang an. Ein Hunter merkt es an ganz kleinen Dingen. Die Stärke, Stimmungen, aber vor allem an der Ausstrahlung. Sie werden von klein auf darauf trainiert, dies zu erkennen. Ein Hunter wird geboren, nicht ausgebildet. Es gibt Hunterfamilien. Nur so können Hunter überhaupt existieren. Es liegt ihnen in den Genen. Sie jagen uns, um die Menschheit zu beschützen. Ausserdem wurde die Frau des allerersten Hunters, dem Urvater aller Hunter, von einem Vampir getötet. Und der Bruder verwandelte sich in einen Werwolf. Darum haben sie einen Hass auf uns, und jagen uns. Mythen ist der Oberbegriff. Es ist einfacher, Mythen zu sagen, als jede Gattung aufzuzählen. Marcel ist hierhergezogen, um der Wolfpopulation auf die Spur zu kommen. Es fällt auf, dass es so eine grosse ist.»
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Bei Vollmond (langsame Updates)
Manusia SerigalaAmy zieht zu ihrer Grossmutter nach Salen. Dort trifft sie den gehemnissvollen Jungen Tay. Bald schon erfährt sie, was es mit ihrer Familiengeschichte und den alteingesessenen Familien auf sich hat. Doch auch alte Geschichten folgen ihr in ihr neue...