Nada
Grummelnd fuhr sie mit ihrer Bürste durch die Haare. Immer und immer wieder. Sie wusste, dass das eigentlich nicht mehr nötig wäre. Aber sie konnte nicht aufhören. Sie täte sonst etwas unüberlegtes. Und das tat sie nie. Sie war eine Koroljow, ein Mitglied der alten Königsfamilie Russlands. Diese waren immer sorgfältig und planten, bevor sie agierten. Sie strich über ihr altes Medaillon. Dies war das einzige, was sie aus Russland mitnehmen konnte. Seit einem Aufstand im Palast lebte sie nun schon bei ihrer Tante. Ihre Eltern waren dabei gestorben. Leise klopfte es an ihrer Zimmertür. «Herein!», rief sie ungeduldig. Eine ihrer Freundinnen betrat das Zimmer. Nada seufzte. Sie hatte eigentlich kein Bedürfnis sich mit ihren Freunden zu befassen. Natürlich, es war wichtig, dass die Menschen glaubten, dass an ihr nichts ungewöhnlich war. Doch manchmal war es einfach nur anstrengend. «Was willst du?», fragte sie. «Ich... ich... habe gestern mein Geschichtsbuch bei dir liegen lassen und ich...» Ungeduldig winkte Nada in Richtung ihres Schreibpultes. «Nimm!» Ihre Freundin durchquerte das Zimmer und schnappte sich das Buch. Sie spürte, dass sie heute nicht willkommen war und verabschiedete sich überstürzt.
Nada stand auf und liess sich schlecht gelaunt auf ihr Bett fallen. Plötzlich hörte sie unten, wie sich die Haustür öffnete. Ihre Tante war im Moment allerdings nicht da. Wer war das? Rasch griff sie nach einem Buch und ging an den oberen Absatz der Treppe. Sollte es ein Mensch sein, musste sie wenigstens so tun, als sei sie ein hilfloses Mädchen und keine mächtige Vampirin.
«Nada? Bist du da?», rief eine raue Stimme. Eine Stimme, die sie lange nicht gehört hatte und doch war sie unverkennbar. Konnte das... konnte das wirklich...? Langsam ging sie die Treppe hinunter. Am kleinen Schachtisch sass ein junger Mann. Seine sandfarbenen Haare standen wirr vom Kopf ab. Sein Körper war breit wie ein Schrank und man sah, dass er alles andere als schwach war. «Andrei?», fragte sie leise. Der junge Mann drehte den Kopf und lächelte. «Hey .» Nada blinzelte. Diesen Namen hatte sie schon so lange nicht mehr gehört. Es gab auf der ganzen Welt nur eine Person, die sie «Kleine» nannte, obwohl sie inzwischen kein kleines Mädchen mehr war. «Andrei!», rief sie und rannte auf ihn zu.
Es war ihr gleich, ob das würdevoll war oder nicht. Andrei stand auf und breitete die Arme aus, um sie aufzufangen. Mit vollem Schwung warf sie sich in seine Arme und klammerte sich an ihn. Sie merkte nicht einmal, dass sie weinte, bis ihr Bruder ihr Tränen von den Wangen wischte und leise «shhh, es ist alles gut Malyutka, ich bin da», murmelte. Nach gefühlt einer Ewigkeit liess sie ihn los. «Du musst mir unbedingt erzählen, wo du so lange warst», meinte sie bestimmt, während sie ihn zum Sofa zog. Doch er schüttelte den Kopf. «Nicht heute, das ist eindeutig keine Wiedersehensgeschichte. Ausserdem möchte ich damit auf unsere Tante warten. Heute möchte ich wissen, was bei dir passiert ist.» Nada musterte ihren Bruder. Inzwischen hatte er seinen dunklen Mantel abgelegt. Ihr Blick verweilte auf einer dicken Narbe, die über die rechte Seite seines Halses verlief und im Pullover verschwand. «Was hast du da?», fragte sie leise und überging seine Bitte, ihm zu erzählen, was passiert war.
Andrei blinzelte und betastete seinen Hals. «Ach das. Nur eine kleine Auseinandersetzung mit einem Wolf», murmelte er. «Oh», antwortete sie und sah zu Boden. «Also? Was ist bei dir so passiert?»
Nada holte tief Luft. «Nun, die letzten vier Jahre ist nicht sonderlich etwas passiert. Das übliche. Schule, Freunde, verstecken was wir sind.»
«Moment, wie meinst du das, dass du versteckst, was du bist? Du bist die Vampirprinzessin, so etwas muss man doch nicht verstecken!»
Nada seufzte. «Das mag stimmen, aber du weisst doch, dass es immer noch Leute gibt, die unsere Linie ausgelöscht sehen wollen. Da wäre es ungünstig würde bekannt, dass ich noch lebe. Wir beide gelten ja in Russland tot wie unsere Eltern auch.»
Andrei hielt inne und nickte. «Du hast Recht. Also weiter.»
«Nun, im letzten Jahr ist sehr viel passiert. Einiges wird dir vermutlich nicht gefallen...», murmelte sie.
«Wie meinst du, es wird mir nicht gefallen?», knurrte er und musterte sie aufmerksam.
«Vor knapp eineinhalb Jahren kam unsere Tante auf die Idee, dass ich mich verloben solle. Dabei liess sie mir freie Wahl und ich entschied mich für Tay Hummingbird. Einen Jungen aus meiner Klasse, der mir damals sehr gefiel. Aber dann fand ich heraus, was er war...»
«Und was war er?», unterbrach Andrei sie erneut.
«Wenn du mich nicht ständig unterbrechen würdest, wäre das hilfreich Andrjuschka», tadelte sie leicht und fuhr dann fort. «Ich fand heraus, dass er ein Werwolf ist und», wieder wurde sie von Andrei unterbrochen. «WAS? Nada bist du von allen guten Göttern verlassen? Du heiratest einen Werwolf? Den ärgsten Feind, den es für unsere Rasse gibt?!»
«Jetzt hör mir doch zu!», rief Nada und drückte ihren Bruder wieder hinunter auf das Polster, da dieser aufgestanden war. «Ich höre», knurrte Andrei und musterte ihr Gesicht.
«Ich löste deswegen die Verlobung nicht, denn was gäbe es Besseres, um an Informationen zu gelangen als einen Wolf an seiner Seite zu haben? Doch er fand heraus, was ich war.»
«Wie?», fragte Andrei nur leise.
«Nun, mir ist meine Flasche runtergefallen. Du weisst schon, die die Gerüche abhält, damit man nicht riechen kann, was darin ist. Er wollte mir helfen es aufzuwischen, roch es und wich zurück. Bisher konnte ich mich mit der Aussage herauswinden, dass ich ein blumiges Parfüm benutze, deswegen erkannte er mich nicht am Geruch. Doch Blut... nun, das kann man nicht erklären. Noch am selben Abend erklärte er mir, dass er die Verbindung auflösen wolle. Das wäre ja noch zu ertragen gewesen, doch kurz darauf tauchte die Enkelin von Redbird auf...»
«Müsste mir der Name Redbird etwas sagen?», fragte Andrei und hob eine Braue.
«Nein... eigendlich nicht. Aber hier in Salen und der Umgebung zählen sie zu der ältesten Gestaltwandlerfamilie. Ausnahmslos alle, die sich verwandelten, waren eine ernste Gefahr für die ansässigen Vampire. Aber egal. Vor ungefähr einem Jahr oder etwas länger kam Redbirds Enkelin in die Stadt. Amelya. Zuerst habe ich sie nicht gross beachtet, denn an ihr ist wirklich nichts Besonderes...»
«Na, wenn du sie erwähnst und so ausdrücklich sagst, dass es nichts Besonderes an ihr gibt, stimmt das natürlich nicht, Schwesterchen», zog Andrei sie auf, verstummte aber sofort und hörte ihr zu.
«Sie... hat nicht nur einen fürchterlichen Geschmack, sie hat es auch gewagt, eine Beziehung mit Tay anzufangen. Und nicht nur das, nein, es stellte sich heraus, dass sie seine Erwählte ist!» Nada verzog angeekelt das Gesicht. «Du fühlst dich blamiert, ist es nicht so, Malyutka?», fragte Andrei.Nada nickte kurz. Es stimmte, dass ihr Stolz daran sehr gelitten hatte. «Aber ich werde es ihr heimzahlen... Niemand blamiert ungestraft eine Koroljow!», murmelte sie. «Ich bin ganz Ohr», meinte Andrei grinsend.
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So meine Lieben, heute lernten wir etwas mehr über die unnahbare Nada. Wie findet ihr diese Enthüllungen?
Was haltet ihr von Andrei und wie will Nada sich rächen?Alles liebe und gute Nacht euch
Moon
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Bei Vollmond (langsame Updates)
WerewolfAmy zieht zu ihrer Grossmutter nach Salen. Dort trifft sie den gehemnissvollen Jungen Tay. Bald schon erfährt sie, was es mit ihrer Familiengeschichte und den alteingesessenen Familien auf sich hat. Doch auch alte Geschichten folgen ihr in ihr neue...