Langsam hob ich meine Tochter Daciana hoch. Mein Blick ruhte noch kurz auf dem Bett, in dem ich vor einigen Tagen erwacht war. Fest drückte ich Daciana an mich. Vor meinen Augen blitzte Marcels Gesicht auf und mir entwich ein Knurren. Obwohl ich gewusst hatte, wie sehr Marcel Tay hasste, hätte ich nie geglaubt, dass er so weit ginge. Marcel war nicht dumm. Er hatte gewusst, was geschehen könnte, wenn er mich stiess und er hatte es in Kauf genommen. Doch traf zum Teil die Schuld nicht auch mich? Hätte ich wirklich zu Kainda gehen sollen? Ich wusste doch, dass Marcel sich gut um seine Schwester kümmerte.
Leicht schüttelte ich den Kopf. Darüber nachzudenken würde meinen Sohn nicht zurückbringen. Alles was ich tun konnte war dafür zu sorgen, dass Daciana nichts geschah. Daciana fing an leise zu wimmern. Beruhigend schaukelte ich sie und summte leise. Als hinter mir ein Geräusch ertönte wirbelte ich herum, die Zähne gebleckt. Tay hob beruhigend die Hände. «Ich bin es. Es ist alles gut Amy.» Meine Schultern sackten herunter. «Entschuldige es ist nur...» «Ich weiss», unterbrach Tay mich. Langsam trat er näher. «Darf ich?», fragte er leise und nickte zu Daciana. «Aber natürlich Tay. Wie kommst du darauf, dass du sie nicht dürftest?» «Mütter, besonders Wölfe, haben einen ausgesprochen ausgeprägten Beschützerinstinkt. Es wäre nicht verwunderlich, würdest du Daci noch mehr beschützen wollen nachdem...», seine Stimme verklang. «Nein Tay, vor dir muss ich sie wohl kaum beschützen.» Vorsichtig reichte ich ihm die Kleine. Ich musste kurz schmunzeln, als ich sah, wie unsicher Tay die Kleine hielt. Als ob sie bei der kleinsten Berührung zerbrechen könnte. «Sie geht schon nicht kaputt. Halt einfach den Kopf und wieg sie.» Ich sah mich um und griff nach meiner Jacke. «Komm, ich will hier raus.»
Im Auto fragte ich dann: «Daci also?» Tay zuckte die Schultern. «Es klingt doch irgendwie süss.» Ich lächelte. «Stimmt.» Schweigen breitete sich aus. Während Tays Blick fest auf die Strasse fixiert war, drehte ich mich immer wieder zu meiner Tochter um. Diese lag selig schlafend in ihrem Kindersitz.
Als wir in die Einfahrt zum Haus einbogen, bemerkte ich, dass die Haustür offenstand. Sofort machte sich Panik in mir breit. «Grandma!», rief ich und sprang aus dem Wagen. Meine Grossmuttter kam zur Tür. «Amybird», lächelte sie und breitete die Arme aus. «Weshalb ist die Tür offen?», fragte ich immer noch in Alarmbereitschaft. Meine Grossmutter lächelte nur kurz, beantwortete meine Frage allerdings nicht. «Kommt erst mal rein.»
Langsam trat ich näher, blieb dann aber stehen und drehte mich um. Doch Tay stand schon direkt hinter mir, Daciana im Arm. «Ich hab sie, keine Sorge», murmelte er. «Nun geh schon rein.» Leicht nickte er zur Tür. Als ich nun die Türschwelle überschritt und in den Flur trat, hörte ich leise Stimmen im Wohnzimmer. Ich folgte den Geräuschen und blieb in der Tür stehen. Gefühlt das ganze Rudel hatte sich im Wohnzimmer versammelt. Auf der Couch sassen Katja und Fjenn, auf dem Sessel, der eigentlich viel zu klein dafür war, sassen Jacy und Daimon, wobei sie weniger die Sitzfläche als viel eher die Armlehnen nutzten, auf der Fensterbank hockte Pandora und ganz weit hinten, beinahe versteckt in der Ecke hinter dem Kamin, stand Kainda. Gerade als ich den Mund öffnen wollte, umarmten mich zwei starke Arme. Zum zweiten Mal an diesem Tag wollte ich herumschnellen, doch dann erkannte ich den Duft. «Hey Amybird», murmelte mein Vater und drückte mich. «Dad... Was macht ihr alle hier?», fragte ich leicht überrumpelt. Daimon setzte sich gerade hin und meinte nur: «Wir wollten euch begrüssen, wenn ihr nach Hause kommt.» Mein Blick glitt zu Tay, der noch hinter der Flurbiegung stand, immer noch Daciana auf dem Arm hielt und mich angrinste. «Ich war es nicht», meinte er nur. Ich wusste, hätte er die Hände frei gehabt, hätte er sie nun gehoben. «Weshalb wussten denn alle, dass wir heimkommen?», fragte ich und konnte nicht verhindern, dass ich sein Grinsen erwiderte. «Ich war das», kam es erneut von Daimon. «Ich dachte, es würde dich freuen», nuschelte er.
Ich lächelte, durchquerte das Wohnzimmer und schloss ihn in die Arme. «Es freut mich auch, die Überraschung ist euch gründlich gelungen. Was ich aber immer noch nicht verstehe... weshalb bist du hier Dad?» Mein Vater lehnte sich an den Türbalken. «Deine Grossmutter hat mich angerufen und mir gesagt, was passiert ist. Deswegen bin ich so schnell wie möglich hergekommen, um für dich da zu sein.» «Wo ist Mum?», fragte ich, obwohl ich schon ahnte, was die Antwort sein würde. Mein Vater räusperte sich. «Sie... sie konnte nicht kommen. Irgendwelche Termine, die sich nicht verschieben liessen, sagt sie.» Ich nickte, hatte aber einen Kloss im Hals. Ich wusste, dass es stimmte, dass meiner Mutter ihre Arbeit sehr wichtig war. Aber waren sie wichtiger als ihre Tochter? Es schien gerade so.
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Bei Vollmond (langsame Updates)
LobisomemAmy zieht zu ihrer Grossmutter nach Salen. Dort trifft sie den gehemnissvollen Jungen Tay. Bald schon erfährt sie, was es mit ihrer Familiengeschichte und den alteingesessenen Familien auf sich hat. Doch auch alte Geschichten folgen ihr in ihr neue...