25. Eine drohende Gefahr

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Leise schlich ich die Treppe hinunter und spürte Tays Atem im Nacken. Ich spähte durch die Treppenspeichen. Ein Glas Wasser war auf den Boden gefallen. Doch niemand machte sich die Mühe, das Wasser aufzuwischen. Marcels Vater beäugte Grandma misstrauisch. »Hier geht etwas vor sich. Und es gefällt mir gar nicht. Passen Sie auf sich auf Mrs. Redbird. Ansonsten... könnte Ihnen noch etwas passieren. Und das wollen wir doch nicht, nicht wahr?» Seine Stimme war ruhig, fast freundlich. Trotzdem spürte ich unter der Oberfläche die Bereitschaft anzugreifen. Dieses Gefühl war beinahe mit Händen zu greifen.

Ich tauschte einen Blick mit Tay, der mit angespannten Muskeln neben mir kauerte. Die unausgesprochene Drohung hing schwer in der Luft. Auch Grandma spürte die kaum versteckte Drohung. »Sie müssen sich keine Sorgen machen.» Sie antwortete genau im selben Tonfall wie Marcels Vater. »Ich habe noch zu tun. Gibt es noch etwas, das Sie gerne besprechen würden? Nein? Gut. Dann gehen Sie bitte... Sie wissen... Ich habe noch zu tun.»

Mit einem freundlichen, aber vorsichtigen Nicken wies sie die Familie Richtung Tür. Marcels Vater beäugte sie nochmals misstrauisch und rauscht dann aus dem Haus. Sein Sohn folgte ihm. Als er auf gleicher Höhe mit der Treppe war, hob er den Blick. Dabei entdeckte er uns. Sein Gesicht erstarrte kurz. »Du...», flüsterte er und starrte Tay dabei unverwandt an. Dann wandte er abrupt den Kopf ab und ging seinen Eltern nach, die bereits bei ihrem Auto auf ihn warteten.

Ich konnte das ungute Gefühl nicht unterdrücken, dass das alles noch ein Nachspiel haben würde. Ich seufzte tief. Grandma stellte sich mit brennenden Augen in die Haustür und beobachtete aufmerksam, wie das Auto aus der Einfahrt fuhr und verschwand. Wir alle wussten, was das Auftauchen der Hunter-Familie bedeutete.

«Du musst Jacy anrufen, Tay», meinte meine Grossmutter nur und ging in die Küche, um das Wasser aufzuwischen. Tay fischte sein Handy aus der Hosentasche und wählte Jacys Nummer. Er drehte sich kurz zur Seite und sprach schnell und leise. Obwohl ich Cherokee verstand und auch sprechen konnte, verstand ich ihn nicht.

Mit meinen Eltern hatte ich meist nur auf Englisch gesprochen. Nur mit Grandma sprach ich Cherokee. Und dort hatten wir uns immer in einem normalen Sprechtempo unterhalten. Sobald jemand schneller sprach, verstand ich nur bruchstückhaft, was gesagt wurde.

Als Tay das Handy wieder zuklappte seufzte er und rieb sich die Nasenwurzel. »Was hat Jacy gesagt?», fragte ich leise. Er drehte sich zu mir um. »Das ich ab jetzt jederzeit bei dir sein soll. Falls dein Ex oder seine Eltern durchdrehen. Aber wenn wir Glück haben, haben sie nichts gemerkt. Zumindest bei dir nicht.» Ich lachte hohl. »Sein Vater hat bestimmt gemerkt, dass ich anders bin als früher. Wie er mich angestarrt hat...»

Ich schüttelte mich. Noch immer spürte ich seine starren, brennenden Blicke auf der Haut. Tay musterte mich besorgt. Auf einmal fühlte ich mich unglaublich müde. Viel zu müde, um noch viel länger stehen zu können. Tay nahm mich in den Arm und begleitete mich nach oben. Total erschöpft sank ich aufs Bett. Tay wollte sich losmachen, damit ich in Ruhe schlafen konnte. Ich klammerte mich in Tays Hemd und zog ihn zu mir. »Bleib bitte bei mir», nuschelte ich. Ich spürte Tays Brust vibrieren. »Wenn es dir hilft, einzuschlafen, gerne.» Halb im Schlaf schmiegte ich mich an ihn und kaum berührte mein Kopf seine Brust, schlief ich vollends.

Einige Tage später marschierte unser Klassenlehrer ins Zimmer. Die ganze Klasse tratschte weiterhin munter. Fjenn und Katja steckten die Köpfe zusammen und planten einen Ausflug. Als der Lehrer sich jedoch räusperte, hoben alle die Köpfe. Tye verkrampfte sich neben mir. Besorgt späte ich zu ihm hinüber. »Was ist los?», zischte ich. Er schüttelte nur stumm den Kopf und kritzelte etwas auf einen Zettel. Den Kopf schräg legend, las ich seine Notiz. ‚Ich denke, Mr. Phellps kündigt gerade einen neuen Schüler an.' Ich war verwirrt. Weshalb sollte es ein Problem sein, wenn ein neuer Schüler kam?

Doch als ich den Kopf hob, sah ich Marcel neben Mr. Phellps stehen. Ich wandte den Kopf rasch ab, suchte den Blickkontakt zu Tay. Er blickte grimmig zur Tafel. So konzentriert, dass ich mich nicht gewundert hätte, hätte die Tafel plötzlich ein Loch gehabt.

»Wir haben einen neuen Schüler, Marcel Retnuh. Bitte nehmt ihn herzlich in den Klassenverband auf. Ich denke, am Anfang sollte sich jemand um ihn kümmern, bis er sich eingelebt hat. Wie wäre es mit dir, Amy?» Tay hob die Hand. »Mr. Phellps, ich denke, dies ist keine gute Idee. Er und Amy kennen sich, und...» «Das ist doch hervorragend!», strahlte Phellps. »So, Marcel, setz dich bitte auf Amys andere Seite. Sie wird dir die nächste Zeit helfen, wen es nötig sein sollte.»

Als es zur Pause läutete, stand ich auf. Mir war übel. Ob es von der Schwangerschaft kam, oder daher, dass ich Zeit mit meinem Ex verbringen musste, konnte ich nicht sagen. »Gehen wir?», fragte Marcel und blickte mich erwartungsvoll an. Ich nickte wiederstrebend. Hilfesuchend schaute ich Tay an. Er nickte und erhob sich. »Ich komm mit.» Dankbar hackte ich mich bei ihm unter.

Als wir nach draussen gingen, erklärte ich Marcel, wo die einzelnen Klassenzimmer lagen. Marcel folgte jedem Fingerzeig von mir mit den Augen und versuchte sichtlich, sich alles einzuprägen.

Draussen kam Jacy auf uns zugelaufen. »Tay!», rief er von weitem. »Nimm Amy mit, wir müssen...» Seine Stimme erstarb und er bremste scharf, als er Marcel neben mir bemerkte. »Wer bist du denn?», fragte er leicht missmutig, und musterte Marcel von Kopf bis Fuss. »Marcel, ich gehe ab heute hier zur Schule», antwortete Marcel.

Doch auch er musterte Jacy scharf. Ich erschrak und versuchte Jacy gestenreich dazu zu bewegen, zu verschwinden. Doch entweder verstand er mein Gefuchtel nicht, oder er hielt es nicht für weiter wichtig. »Wieso bist du bei Amy?», fragte er. »Sie zeigt mir, wie ich mich hier zurechtfinden kann.» Jacy musterte ungläubig den kleinen Hof, auf dem wir standen. Sein Blick wanderte die dreistöckige Fassade des Schulhauses entlang und streifte den Nebentrakt mit den spezielleren Klassenräumen und der Turnhalle. »Denkst du, du kommst zwanzig Minuten alleine zurecht?», fragte ich rasch. »Klar», murmelte Marcel.

Dann hob er den Kopf. »Wir müssen reden, Amy!» Tay knurrte abwehrend. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Marcel. Es ist alles gesagt. Ich kümmere mich um dich, weil ich muss. Aber sobald du dich hier zurechtfindest, gehen wir getrennte Wege.» Er grinste. »Das geht nicht, mein Engel. Wir sind in derselben Klasse. Wir werden nie getrennte Wege gehen.» Tays Knurren wurde lauter, bedrohlicher. Er kochte vor Wut. »Ich werde nun mit Tay gehen. Geniess die Pause.» Ich ging einige Schritte, bis mir auffiel, wie Marcel mich genannt hatte. Engel. Abrupt blieb ich stehen. »Marcel,», sagte ich scharf. »Nenn mich nie und zwar nie wieder Engel, kapiert? Du wirst es sonst bereuen!»

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Hey Leute :-)

Wie findet ihr den Umstand, dass Marcel nun in Amys Klasse sitzt?

Wie wird sich die Situation zwischen Marcel und Tay entwickeln?

Was sagt ihr zu Marcels Spitznamen für Amy?

Eure Moon

Bei Vollmond (langsame Updates)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt