Kapitel 5 - Kaitlin

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Etwas aufgeregt stand ich mit Krankenschwester Sally am Flughafen.

Jetzt hieß es Abschied nehmen.. Und das für immer.

Denn ich würde nie mehr hierher zurück kehren. Das schwor ich mir, denn ich wollte vergessen.

Vergessen was geschehen war.

Endlich wieder glücklich werden.

"So..", flüsterte Sally mit Tränen in den Augen, "Das war's dann.. Meld dich bitte wenn du heil angekommen bist.. Und mach keine Dummheiten, ja? Und ich verspreche dir, es wird besser."

Sie wischte die Tränen mit dem Handrücken aus ihren Gesicht. Sie jetzt weinen zu sehen, brach mir mein eh schon gebrochenes Herz. Ich konnte nicht weinen. Ich war leer. Da waren keine Tränen mehr übrig.

Krankenschwester Sally hatte mich die letzten paar Monate betreut und sie war mir wirklich ans Herz gewachsen. Sie war in der Zeit irgendwie wie meine Mom gewesen. Sie war für mich in meiner schwersten Zeit da. Sie schloss mich ein letztes Mal in eine warme Umarmung.

'Danke Sally. Für alles. Ich hab dich lieb.', flüsterte ich ihr ins Ohr.

'Keine Ding, Liebes. Du hattest jemanden gebraucht und ich war für dich da. Ach und den Brief.. Öffne ihn bitte noch bevor du landest.. Denn er erklärt, wieso du dorthin fliegst. Und du kannst mich immer anrufen.. Egal wie spät es ist! Ich hab dich auch lieb.', gab sie mir zur Antwort. Sie nahm mein Gesicht in ihre zierlichen Hände und schaute mir in die Augen. Sie gab mir noch einen Kuss auf meine Stirn und ließ mich dann gehen. 

Ich mochte sie wirklich.

Sie war wie eine Ersatzmutter für mich. Ich nickte ihr zu und lief dann langsam auf den Sicherheitscheck zu.

Dort angekommen, drehte ich mich ein letztes Mal um, winkte ihr zu und verschwand dann für immer aus dieser Stadt.

**

Zitternd hielt ich den Brief in meinen Händen.

Ich starrte ihn jetzt schon seit 2 Stunden an, aber ich schaffte es immer noch nicht.. Irgendwie hatte ich die Ahnung, dass es mich nicht so erfreuen würde..

Nur noch 5 Stunden, dann würde das Flugzeug in Dublin landen.

Dublin..

Da wollte ich schon immer mal hin und jetzt würde ich da ganz in der Nähe wohnen.

Da ich Erste Klasse flog, war ich fast alleine vorne im Flugzeug.

Ich lehnte mich zurück und schlief schnell ein.

"Miss Young, was möchten Sie gerne essen?", weckte mich eine weibliche Stimme. Ich blinzelte und sah auf die Karte, die die Stewardess mir vor die Nase hielt. "Ehmm.. Hühnchen bitte.", gab ich ihr zur Antwort.

Sie nickte und reichte mir das Tablett und Besteck. Ich wählte noch was zu Trinken und genoss dann mein Essen.

Die ganze Zeit wanderte mein Blick zu dem immer noch ungeöffneten Brief. Ich legte mein Besteck zur Seite und nahm ihn, wie so oft in den letzten Tagen, in die Hand.

"Ach und den Brief.. Öffne ihn bitte noch bevor du landest.. Denn er erklärt, wieso du dorthin fliegst.. Bitte tu es für mich.. ", kamen mir die Worte von Krankenschwester Sally wieder ins Gedächtnis.

Ich schloss meine Augen und schlitzte ihn dann mit meinem Finger auf. Ich zog das dünne Blatt heraus und öffnete dann schlussendlich meine Augen. Ich schaute auf das weiße gefaltete Blatt, das ich in meinen stark zitternden Händen hielt. Ich konnte durch die Rückseite die schöne Schrift erkennen. Ich atmete ein letztes Mal tief durch und faltete ihn dann auf.

Hallo Kaitlin,

ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich schreiben soll.. Ich sitze hier schon seit Stunden und mir fällt einfach nichts ein.. Mir fehlen die Worte..

Was würdest du deiner Tochter schreiben, die du im Stich gelassen hast?

Als ich dein Foto in der Hand gehalten hatte, wie du jetzt aussiehst, sind mir die Tränen gekommen...

Du siehst so wunderschön aus.

Das letzte Mal als ich dich gesehen hatte, ist schon eine Weile her..

Ehrlich gesagt ganze 18 Jahre.

Du warst so ein süßes Baby und die Entscheidung war mir wirklich schwergefallen..

Ich hatte mich jahrelang deswegen in den Schlaf geweint..

Jetzt nach all den Jahren, bin ich schon nervös dich, mein einziges Mädchen, in die Arme schließen zu können..

Ich weiß, dass das jetzt ein wenig schockierend klingen mag..

Wieso ich dir das alles in einem Brief gestehe?

Nunja.. wenn ich angerufen hätte oder du mir gegenüber ständest, hätte ich kein Wort heraus bekommen..

Du musst wissen, ich kann meine Gedanken, Gefühle besser schriftlich ausdrücken..

Liebe Grüße,

Maura xx

Unfähig etwas zu tun, saß ich in meinem Stuhl und starrte den Brief an. Ich wollte weinen, aber es ging nicht. Der Brief fiel wegen meinen zitternden Händen auf den Boden.

Was sollte das heißen?

War diese Frau meine leibliche Mutter?

Aber wieso hatte mir nie jemand etwas gesagt?

Wenn das also meine leibliche Mutter war, wieso hatten meine Eltern mich so aufgezogen, als wäre ich ihr eigenes Fleisch und Blut? Wieso hatten sie mir nichts gesagt?

Eigentlich hätte ich von selbst drauf kommen können..

Ich habe ganz andere Gesichtszüge, als meine Mutter oder meinen Vater. Es gibt auch keine Babyfotos von mir.. Also von meiner Geburt. Oder von meiner Mutter als sie mit mir schwanger war.

Aber der Gedanke, dass ich adoptiert wurde... Das wollte ich einfach nicht verstehen..

Wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr nach 18 Jahren heraus finden würdet, dass die Menschen, wo ihr geglaubt hattet, dass sie eure Eltern wären, nicht die leiblichen Eltern waren, sondern Adoptiveltern?

Wieso hatten sie mir nichts gesagt?

Hatte mein Bruder das gewusst?

War er ebenfalls adoptiert?

Wo werde ich hingebracht?

Ja, Irland.. Aber wie sieht mein Wohnort dort wohl aus?

Wie werden wohl meine richtigen Eltern sein?

Habe ich Geschwister?

Millionen Fragen schwirrten mir durch den Kopf.. Aber an eine Frage klammerte ich mich besonders fest:

Wieso?

Mit dieser Frage im Kopf fiel ich wieder in einen unruhigen Schlaf.

BrokenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt