Narbe

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Sie findet sich mitten in einem Kampf wieder. Flüche und Zauber schießen durch die Luft, Grabsteine explodieren und Brocken regnen herab.
Ein Duell tobt um sie herum.
Schwarze, vermummte Gestalten huschen hinter einem großen Mann, der in einen bodenlangen, ebenfalls schwarzen Umhäng gehüllt ist, umher.
Sie verzieht leicht das Gesicht, als sie den Mann näher mustert. Halloween ist doch bereits vorbei. Der Mann sieht aus wie ein zum Leben erwecktes Skelett. Lang, dürr und bleich, mit keinem einzigen Haar auf dem bleichen Schädel.
Hat er überhaupt Lippen? Sieht nicht danach aus!
Ihr rechtes Auge zuckt gefährlich. Das darf doch nicht wahr sein!
Rote Augen, eine schlangenartige Nase mit Nüstern als Nasenlöcher und eine dunkle Aura.
Sie zischt durch zusammen gebissene Zähne. Na wenn das mal nicht Lord Voldemort ist! Jedenfalls, wenn sie von der stinkenden Aura nach Tod ausgeht.
Sie macht einen schnellen Schritt aus dem Gefecht zwischen die kaputten Grabsteine und verfolgte das Geschehen, in das sie eh nicht eingreifen kann, aus sicherer Entfernung, sodass ihr nichts entgehen kann. Grüne, mächtige Blitze zucken umher und immer wieder auf nur eine Person zu, die sich tapfer gegen den Ansturm des schwarzen Magiers stellt.
Doch er wird das nicht lange durchhalten können.
Das wissen alle!
Deshalb ergreift er die Flucht.Impedimenta!" schreit er über die Schulter und trifft einen der vermummten Gestalten, die schmerzerfüllt aufschreit.
Beiseite!" schreit Voldemort und sie verzieht bei diesem Gekreische das Gesicht. Ich werde ihn töten! Er gehört mir!" Sein Schrei übertönt die Rufe der schwarzen Gestalten. Da geschieht es! Einer der Gestalten hält etwas in der Hand und plötzlich wirft er den silbrig schimmernden Gegenstand mit einer gewaltsamen Verzweiflung durch die Luft. Das schillernde Messer bohrt sich in den ungeschützten Rücken des Jungen. Er taumelt, stolpert und stürzt zu Boden.
Sie tritt näher heran.
Der Junge liegt neben einer anderen Leiche auf dem Bauch. Etwas dunkles breitet sich um ihn herum im Gras aus. Die schwarzen Gestalten, von dem schlangennasigen Voldemort angeführt, kommen näher. In den letzten Sekunden ist es still geworden.
Langsam geht sie neben dem Jungen in die Knie und betrachtet das ihr zugewandte, zerschundene Gesicht. Diesmal schreit sie nicht, stattdessen reibt sie sich über die Augen, die sie nie schließen kann.
Harry Potter!
Tod!

Shi riss die Augen auf. Ihr Atem raste heftig. Mit einem Ruck hob sie den Kopf und riss damit fast die Pergamentseite aus dem Buch, auf dem sie eingeschlafen war. Mit einem Knurren löste sie die Seite von ihrer zerknautschten Wange und sah sich einer finster drein blickenden Madam Irma Prince gegenüber. „Miss Mortem!"
„Ich weiß, ich weiß", murmelte Shi verschlafen, klappte das Buch zu und stand auf, um in die Große Halle zu gehen. Seit Tagen rannte sie zwischen den Unterrichtsräumen und der Bibliothek hin und her. Sie sammelte alle möglichen Zeitungsberichte, Nachrichten seit Anfang des Jahres und wälzte ein Buch nach dem anderen. Sie aß kaum, schlief nicht und sah grauenhaft aus. Dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen gebildet, ihre Haut war so blass wie die eines Slytherins und ihre Augen waren vor lauter Müdigkeit trüb, nur hinter dem Schleier leuchtete die kalte Intelligenz.
Sie nickte der Bibliothekarin ein letztes Mal freundlich zu, bevor sie mit einem Haufen Bücher unterm Arm, die sie noch lesen wollte, die Marmortreppe runter kam. Da hörte sie Geschrei. Gereizt sah sie zum Kerkereingang, aus dem in eben diesem Moment eine weinende Hermione herausrannte, eine Hand vor den Mund gepresst. Shi zog verwundert die Augenbrauen hoch, als die Gryffindor an ihr vorbeirannte. Wuchsen da etwa ihre Zähe unter ihrer Handkante hervor?
Kopfschüttelnd flitzte Shi weiter in die Kerker. Sie musste noch zu Snape und ihm eine ziemlich alte Ausgabe des Tagespropheten abnehmen.
Das Geschrei wurde immer lauter, je näher Shi kam und schließlich blieb sie in einer Gruppe Viertklässler stehen. Slytherins und Gryffindors. Dort erkannte Shi auch den Grund für den Lärm.
Harry und Ron schrien beide gleichzeitig ihren Zaubertrank-Lehrer nach Leibeskräften an und beschimpften ihn auf das Übelste.
„50 Punkte Abzug für Gryffindor und Nachsitzen für Potter und Weasley", knurrte Snape und machte Moody fast schon Konkurrenz. Doch er kam nicht zum Weiterreden, denn seine schwarzen Augen erfassten Shi, die schweigend und mit schief gelegtem Kopf da stand. „Miss Mortem", Alle im Kerker drehten sich zu ihr um.
„Was kann ich für Sie tun?"
„Meine Sammlung an Zeitungen erweitern, Sir. Ich bin sicher, Professor Dumbledore hat ihnen bereits davon berichtet."
Mit einem finsteren Blick zog Snape eine zusammen gefaltete, alte Version des Tagespropheten aus der Tasche und streckte sie in ihre Richtung. Mit einem schiefen Lächeln kam sie auf ihn zu und schnappte sich das Pergament. Doch der Professor ließ noch nicht los und Shi wollte sich nicht lächerlich machen, indem sie daran zog. Deshalb wartete sie ungeduldig auf das, was Snape ihr offenbar zu sagen hat.
„Sie sehen furchtbar aus, Miss Mortem."
„Wie liebenswürdig, Professor. Ich fühle mich gleich besser", spottete sie sarkastisch. Snape ließ los und Shi klemmte sich die Ausgabe zwischen die Zähne, um mit dem Stapel Bücher nicht umzufallen. Sie wagte einen kleinen Knicks und drehte sich dann schwankend um.
„Brauchen Sie Hilfe, Miss Mortem?" Kippelnd drehte sie sich zu Snape um und ließ die Zeitung auf den Bücherstapel in ihren Armen fallen. Jetzt konnte sie nichts mehr sehen, dafür aber sprechen. „Seh ich so aus?" fragte sie blind zurück.
„In der Tat."
„Dann brauche ich wohl Hilfe", kicherte sie hinter den Büchern und wandte sich in Malfoys Richtung. „Malfoy, mein süßes Frettchen, wärst du so liebt?" flötete sie und die zuvor wütenden Gryffindors verzogen die Lippen zu gemeinen Grinsen.
„Ich denke nicht..."
„Besten Dank, Professor", unterbrach Shi ihn und ging zielstrebig wenn auch blind auf Malfoy zu, der ihr mit weit aufgerissenen Augen entgegen sah. Sie lehnte sich leicht zur Seite und grinste Malfoy an. Zähneknirschend reichte dieser seine Schultasche an Crabbe weiter und nahm Shi ein knappes Drittel der Bücher ab. Shi knickste ein weiteres Mal kurz und schlenderte mit Malfoy im Schlepptau aus den Kerkern und die große Marmortreppe hoch. Malfoy folgte ihr wütend. Auf halben Weg taumelte Shi jedoch plötzlich. Blinzelnd und kopfschüttelnd versuchte sie sich zu fokussieren, doch ihre Sicht verschwamm zunehmend. Ihre Füße schwankten auf den Stufen. Sie blieb stehen, Malfoy direkt hinter ihr.
„Worauf wartest du?" knurrte er, in genau dem Moment, in dem Shi nach hinten kippte. Die Bücher fielen polternd aus ihren Armen auf den Boden und ihr Körper sackte in sich zusammen. Malfoy verdanke es seinen schnellen Sucherreflexen, dass er noch gerade rechtzeitig die Bücher fallenlassen konnte um Shi aufzufangen. Er hatte damit gerechnet, mit ihr gemeinsam dir Treppe hinabzustürzen, doch die Gryffindor war überraschend leicht, weshalb er sie mühelos auffangen konnte.
Die Bücher polterten laut krachend die Treppenstufen hinab. Der Kopf der Asiatin schlug gegen seine Schulter und kullerte zur Seite. Erst jetzt konnte Malfoy sehen, wie Recht sein Hauslehrer hatte.
Shi sah furchtbar aus.
Die dunklen Ringe unter ihren geschlossenen Augen bildeten einen krassen Kontrast zu ihrer bleichen Haut. Ihre Lippen waren ausgezerrt und rissig, die Wangen leicht eingefallen und ihre Stirn lag in tiefen Falten, selbst jetzt, wo sie nicht mehr bei Bewusstsein war.
Ratlos sah Malfoy sich um. Was sollte er jetzt tun? Sollte er sie irgendwo hinlegen? Oder in den Krankenflügel bringen? Das schien ihm am vernünftigsten.
Vorsichtig schob er die Arme unter ihren schlaffen Körper und hob sie hoch. Wie klein und zerbrechlich sie war. Ihre schwarze Haarmähne streifte die Stufen, als er sich mit dem Knie abstützte und mit ihr aufstand. Dabei kullerten die restlichen Bücher und Papiere die Treppe hinab und veranstalteten einen heftigen Radau.
„Jetzt reicht es aber, Peeves!" bellte in diesem Moment die Stimme von Professor McGonagall und kurz darauf tauchte ihre Gestalt oben an der Treppe auf. Ihre wütende Miene verschwand jedoch sofort, als sie die Lage erfasste. „Ach du meine Güte, Miss Mortem!" rief sie und kam eilig die Stufen herab geeilt. Vorsichtig strich die Lehrerin ihrer Schülerin das wirre Haar aus dem Gesicht, um einen Blick darauf werfen zu können. „Mr Malfoy, wären sie so freundlich und würden Miss Mortem in den Krankenflügel bringen?"
Malfoy nickte und rückte das Mädchen in seinen Armen zurecht. „Das hatte ich gerade vor, Professor."
Die Professorin nickte und sah sich das Durcheinander am Treppenansatz an. „Und sorgen Sie dafür, dass sie etwas zu sich nimmt. Keine Ahnung, wie lange sie schon nichts gegessen hat, so dünn wie sie ist."
Erneut stimmte Malfoy zu und machte sich daran Shi die Treppe hochzutragen, während McGonagall einmal mit dem Zauberstab schnipste und alle verstreuten Bücher, Pergamentblätter und Zeitungen einsammelte.
Auf dem Weg in den Krankenflügel kam Malfoy nicht einmal ansatzweise ins Schwitzen, so leicht war Shi in seinen Armen.
„Ach herrje", rief Madam Pomfrey hell auf entsetzt, als Malfoy mit seiner Fracht herein kam. „Was ist denn passier?"
„Sie ist zusammengebrochen", erklärte Malfoy und legte Shi auf eines der freien Betten. Verwirrt sah er auf seine Arme hinab. Warum fühlte es sich so falsch an, diese Gryffindor loszulassen? Seine Arme waren plötzlich so leer. Als wäre ihm etwas sehr wichtiges weggenommen worden.
Madam Pomfrey schob ihn eilig zur Seite und unterzog Shi einer schnellen Kontrolle. „Hat sie sich irgendwas getan? Gestürzt oder so?"
Malfoy schüttelte den Kopf. „Ich konnte sie noch rechtzeitig auffangen."
Die Krankenschwester nickte und tätschelte der bewusstlosen Shi die Wange. „Sie ist nur überarbeitet und braucht Schlaf und dringend etwas gutes zu Essen. Ich lass ihr etwas bringen." Murmelnd entfernte sie sich. „So ein dünnes Kind. Das kann nicht gesund sein..."
Malfoy wusste nicht so genau, was er tun sollte. Deshalb stand er nur neben dem Bett und sah auf Shis Gesicht hinab. Die Falten auf ihrer Stirn hatten sich geglättet und der harte Zug um ihren Mund war verschwunden.
Er neigte sich ein wenig näher zu ihr und betrachtete sie eingehend mit schief gelegtem Kopf.
Scharf geschwungene Augenbrauen. Schräg stehende Augen, wie die einer Elfe mit langen, tiefschwarzen Wimpern. Eine scharfe Nase, die an einer Stelle einen leichten Knick aufwies. Wurde ihr bereits einmal die Nase gebrochen?
Ihre Unterlippe war prall und verlieh ihr einen schmollenden Ausdruck. Messerscharfe Wangenknochen. Malfoy lehnte sich noch ein Stück weiter vor. Eine blasse Narbe verlief über ihre linke Wange von ihrem spitzen Kinn bis zu ihrem Ohr. Die Narbe war schon so alt, dass sie schon fast komplett mit dem Rest ihres Gesichts verschmolzen war und somit kaum auffiel. Nur wenn man sehr genau hin sah, konnte man sie erkennen und das tat Malfoy gerade.
Er sah ganz genau hin. Langsam hob er die Hand und streichelte mit einem Finger über die Narbe. Ihm war gar nicht bewusst, was er da tat. Seine Hand schien ein Eigenleben entwickelt zu haben.
Ihr Gesicht drehte sich leicht und sie schmiegte ihre Wange an seine Haut. Er erstarrte. Mit einem heftigen Ruck riss er seine Hand zurück und machte einen Schritt rückwärts. Was tat er da?
Zutiefst verwirrt wirbelte Malfoy herum und stürmte aus dem Krankenflügel.

Shi riss die Augen auf und fuhr hoch. Ihr Herz raste schmerzhaft in seinem Käfig aus Rippen.
Schnell presste sie ihre geballte Faust auf ihre Brust und versuchte den Schmerz zu dämpfen.
Alle beide tot. Cedric und Harry, beide ermordet.
Nach ein paar Mal tief durchatmen, hatte Shi sich wieder im Griff und sah sich einer besorgt dreinblickenden Madam Pomfrey gegenüber. Shi wagte ein kleines Lächeln. „Geht schon!"
Offenbar war sie im Krankenflügel.
Sie rieb sich über ihre müden Augen. „Was ist passiert, ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich die Treppe runter gefallen..." Sie verstummte und berührte ihre Wange.
„Der junge Mr Malfoy hat Sie aufgefangen, bevor sie stürzen konnten und Sie hier her gebracht. Er ist vor ein paar Minuten zurück in den Unterricht gegangen."
„Verstehe", lächelte Shi matt und ihre Augen richteten sich verwundert auf das Essenstablett, das Madam Pomfrey ihr vor die Nase hielt. „Sie werden jetzt etwas essen, Miss Mortem. Und ich werde ihnen nicht von der Seite weichen, bis sie alles davon gegessen haben."
Shi musste lächeln. „Aye, Madam!" Widerstandslos machte Shi sich über ihr kleines, persönliches Festessen her. Flüchtig strich sie sich über die schmale Narbe an ihre Wange. Selbst in ihrer Vision, die sie mal wieder vom Tod hatte, hatte sie es gespürt. Ein sanftes Kribbeln, ein Streicheln. Jemand hatte ihre Narbe angefasst...
„Ist sonst noch jemand hier?"
Die Krankenschwester schüttelte verwirrt den Kopf. „Nein! Wieso?"
„Es waren nur Mr Malfoy und ich hier?" ignorierte sie die Frage von Madame Pomfrey. Sie nickte.
Na sie mal an... Warum hatte Draco Malfoy ihre Narbe angefasst?

Times Das Mädchen, das den Tod siehtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt