Geflohen

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Etwas weckte Shi aus ihrem Dämmerzustand. Mühsam riss sie ihre blutverkrusteten Lider auseinander und lauschte erneut. Sie hatte sich nicht geirrt!
Jemand schrie unter furchtbaren Schmerzen und Shi musste es ja wissen. In den vergangenen Tagen und Wochen hatte sie diesen Schrei immer und immer wieder aus ihrem eigenen Mund gehört.
Langsam und mit zitternden Armen rappelte Shi sich in ihrer Zelle auf. Unter ihr auf dem kalten Boden lag eine zerrissene Decke. Die nahen Wände waren zerkratzt, als hätten die Malfoys hier Tiere gehalten. Nah am Boden, im Dunklen versteckt, reihte sich Shis Strichliste.
Ein Tag, ein Kratzer in der Wand.
Erneut dieser Schrei, doch er war nicht das einzige, was Shis scharfe Ohren vernahmen.
„HERMIONE! HERMIONE!"
Das war also Ron. Dann konnte Harry auch nicht weit sein. Offenbar war ihre Zeit hier vorbei!
Mit einem erschöpften Seufzer stemmte Shi sich auf die zitternden Beine. Sie war so schwach! So unendlich schwach!
Entschlossen atmete Shi tief ein und kramte in den dreckigen Falten der Decke. Ein alter, rostiger Nagel kam zum Vorschein. Während einer ziemlich heftigen Folterstunde hatte Shi das Ding aus ihrem Foltertisch gezogen und versteckt.
Wankend schritt Shi auf die Tür zu und tastete nach dem Schloss. Als sie es fand, ging sie leicht in die Knie und rammte das alte Ding in den Mechanismus. Hoch konzentriert drehte und stocherte sie mit dem Nagel darin herum. Sie wusste nicht, wie lange sie da auf dem Boden kniete. Sie ließ sich von den Schreien nicht aus der Ruhe bringen und schloss sogar die Augen, um sich ganz auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Es klickte! Für ein paar Sekunden regte Shi sich nicht, konnte fast nicht glauben, dass sie es geschafft hatte. Ein lauter Schrei riss sie aus ihrer Starre und trieb sie zur Eile an. Mit einem Ruck riss Shi die Tür zu ihrer Zelle auf und hinkte so schnell sie konnte durch die dunklen Gänge zur Treppe, die man sie vor langer Zeit hinabgezerrt hatte. Damals hatte sie sich bewusstlos gestellt und sich den Weg ganz genau eingeprägt. Denn das war ihre einzige Möglichkeit aus diesem Schlamassel wieder heraus zu kommen. Lebend!
Auf der Kellertreppe stolperte sie beinahe über einen am Boden liegenden Körper. Wurmschwanz, erwürgt von der silbernen Hand, die Voldemort ihm geschenkt hatte.
Achtlos sprang Shi über die Leiche hinweg, sie hatte von seinem Tod geträumt und er hatte sie vollkommen kalt gelassen. Er war nichts weiter als ein Feigling! Aber das war nicht die Vision, die sie her gelockt hatte.
Im Schatten, versteckt auf der Treppe hielt sie inne und analysierte die Situation, die sich vor ihr befand. Sie war waffenlos und furchtbar geschwächt.
Jemand berührte ihre zitternde Hand und Shi musste ein kleines bisschen lächeln. „Dobby!" hauchte sie und drehte sich zu dem Hauself um, der sie mit seinen großen Augen erschrocken musterte. „Shi Mortem!" quietschte er leise und Shi legte ihm schnell eine Hand über den Mund. Zum Glück ging seine Stimme in dem Kampf unter, der in der Halle tobte. Shi kniete sich nieder, um Dobby direkt in die Augen sehen zu können. Ohne Worte deutete Shi langsam mit einem Finger auf den Kronleuchter, der direkt über Hermione und Bellatrix von der Decke baumelte. Dobby riss überrascht die Augen auf und Shi nickte ihm aufmunternd zu. Mit einem leisen Plopp verschwand der Hauself und Shi hinkte um die Ecke.
„Nun", ertönte Bellatrix' hämische Stimme. „Der Dunkle Lord ist unterwegs, Harry Potter! Dein Tod naht!"
„Immer gleich so dramatisch, liebste Bellatrix!" Shis Stimme war zwar schwach, doch sie hallte von den Wänden, sodass sie jeder hören konnte. Alle in der Halle wirbelten herum. Shi sah mit Absicht nicht zu Draco hinüber. Es reichte ihr, seinen Blick wie Flammen über ihre vernarbte Haut tanzen zu spüren. Das Hemd, dass sie trug, schlackerte um sie herum und rutschte ihr von den abgemagerten, knochigen Schultern. Es war überall zerlöchert, zerrissen und blutverschmiert. Man konnte deutlich ihre Rippen darunter hervor blitzen sehen und die Wunden, die Bellatrix nicht geheilt oder mit Salz ausgestreut hatte.
Ron und Harry keuchten bei ihrem Anblick entsetzt auf und Shi vernahm auch Dracos Stimme, der bis gerade eben nichts von ihrer Anwesenheit in seinem Heim gewusst hatte.
„Kleine Mortem", knurrte Bellatrix und beleckte sich die Zähne. „Wie bist du aus deiner Zelle entkommen?"
„Mit meinem kleinen, rostigen Freund hier." Sie hob den Nagel hoch und grinste verzerrt, als sie Bellatrix' zornige Miene sah. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Man konnte beinahe ihre Knochen rasseln hören, so abgemagert war sie. Sie hinkte leicht und trat bei einem Fuß nur mit den Zehenspitzen auf. Ihr einer Arm schlackerte nutzlos neben ihr, die Schulter war ausgerenkt und eines ihrer blitzenden Augen war zugeschwollen. Ihre blutleeren, zerbissenen Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln.
Dann deutete sie mit einem knochigen Finger auf die Todesserin, die Hermione ein Messer an die Kehle hielt. „Ich würde an deiner Stelle ein paar Schritte zurück machen", kicherte sie irre. Wie um ihre Worte zu unterstreichen, erklang plötzlich ein knirschendes Geräusch von oben und als alle dem Geräusch mit den Augen folgten, rauschte der imposante Kronleuchter, unter dem Bellatrix zusammen mit Hermione stand, herab. Mit einem Schrei ließ Bellatrix von Hermione ab und sprang zurück, Shi machte einen Satz nach vorne und riss Hermione unter dem fallenden Kronleuchter hervor. Glas und Kristalle splitterten in alle Richtungen und regneten auf die Anwesenden nieder.
Shi taumelte zurück, Hermiones Körper schirmte sie vor den Scherben ab. Sie stolperte und stürzte Richtung Boden. Doch anstatt schmerzhaft auf dem Boden aufzuschlagen, schlang Ron die Arme um die beiden Frauen und zerrte sie mit sich zu Harry, der sich mittlerweile um Zauberstäbe und die anderen Todesser gekümmert hatte. Mit Genugtuung beobachtete Shi, wie Greyback gegen die Decke geschleudert wurde und dann wieder zu Boden krachte. Sie wagte einen schnellen Seitenblick zu Draco, dessen Gesicht aus unzähligen Schnittwunden blutete. Er war mit seiner Mutter an den Kamin zurückgewichen und schirmte sie mit seinem Körper vor weiterem Schaden ab. Shi verspürte Erleichterung, als sie sah, dass es ihm gut ging. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke und sofort riss Shi den Kopf herum. Wenn jemand eine emotionale Verbindung zwischen ihr und Malfoy herstellte, war er in großer Gefahr. Das würde sie nicht zu lassen. Niemals!
Lucius lag irgendwo geschockt im Saal und Bellatrix fuchtelte wild schreiend mit dem Messer herum. Ron umklammerte Hermione so fest, dass Shi, die zwischen den beiden gefangen war, kaum noch Luft bekam. Knurrend wand sie sich zwischen den beiden hervor und taumelte leicht.
„Dobby!" schrie plötzlich Narzissa, ihr Zauberstab deutete zu Treppe. Selbst Bellatrix erstarrte. „Du", keuchte sie. „Du hast den Kronleuchter herab stürzen lassen..."
„Das war meine Idee, wenn ich das bemerken darf", warf Shi krächzend und grinsend ein, während sie Dobby die Hand hin hielt. Bellatrix beachtete sie nicht. Fassungslos starrte sie Dobby an, der mit trotzig vorgerecktem Kinn auf Shi zu tapste und ihre Hand nahm. Mit einem Finger deutete er auf Narzissa und quickte: „Sie dürfen Harry Potter nicht weh tun!"
„Töte ihn, Zissy!" tobte Bellatrix, Shi beleckte drohend die Zähne, doch Dobby wusste sich zu helfen. Er schnipste mit den Fingern und in der nächsten Sekunde trudelte Narzissas Zauberstab durch die Luft und landete irgendwo auf der anderen Seite der Halle.
„Du dreckiger, kleiner Affe! du wagst es eine Hexe zu entwaffnen? Deinen Herren zu trotzen?" kreischte Bellatrix, komplett außer sich. Shi öffnete den Mund und stieß ein löwenartiges Brüllen aus, das die Fenster in ihren Rahmen klirren ließ. Jetzt lag die Aufmerksamkeit der Todesserin wieder auf ihr und Shi grinste sie an. „Dobby hat keinen Herren. Er ist ein freier Elf, unsere Mitfahrgelegenheit. Und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst, liebste Bellatrix!" Aus den Augenwinkeln sah Shi, wie Harry einen Kobold unter den Trümmern des Kronleuchters hervorzerrte und dann mit Ron, der Hermione festhielt, zu ihnen herüber stürzte.
„Dobby", flüsterte Shi leise, der Elf packte die ihm gereichten Hände und der Raum vor ihnen verschwamm. Shi sah einen roten Steifen. Rons Haare. Bleiche Schlieren, die Gesichter der Malfoys. Ein silberner Schimmer, der direkt auf sie zugeflogen kam.
Shi schloss ergeben die Augen. Ihre Finger krallten sich um Dobbys Hand und dann landeten sie auf fester Erde. Sie hörte Harry mit dem Kobold zusammen, Ron mit Hermione und Dobby landen. Es roch nach Meer und sie hörte die See weit entfernt rauschen. Hinter ihr erklang Gemurmel.
Gierig zog sie die frische Luft, die ihr so lange verwehrt geblieben war und ihr jetzt um die Nase wehte, tief in die Lungen. Ein stechender Schmerz, der ihr so schrecklich bekannt war, fuhr durch ihren Bauch und sie zuckte zusammen.
„Harry Potter Sire!" ertönte Dobbys quiekende Stimme und Shi schwankte gefährlich. Ihre schwachen Beine gaben nach und sie fiel auf die Knie. Keuchend sah sie auf und begegnete den entsetzten Blicken der anderen. Dobby sah sie mit großen Augen an, die sich plötzlich mit Tränen zu füllen schienen. Shi lächelte müde. Mit zitternden Fingern umschloss sie den Griff des Messers, mit dem Bellatrix noch vor Sekunden herumgefuchtelt hatte, das tief in ihrem Bauch steckte. Sie zog es nicht heraus, sondern keuchte nur leise. Harry stürzte zu ihr und packte sie an den Armen. Dobby flitzte ebenfalls an ihre Seite und umklammerte ihre Hand mit seinen. „Shi Mortem!" schluchzte er leise und Harry strich ihr das verfilzte Haar aus dem Gesicht.
„Hört auf mit dem Scheiß!" zischte Shi zwischen zusammengepressten Lippen hervor. „Noch bin ich nicht tot und ich habe auch nicht vor heute hier zu sterben, also helft mir hoch, dass wir uns um diese Angelegenheit kümmern können", presste Shi zusammen mit ein wenig Blut über ihre Lippen. Harry lachte leicht auf. Erleichterung blitzte in seinen Augen auf, dann hob er Shi hoch und zusammen mit dem Kobold, der ein Schwert umklammerte, Ron mit Hermione und Dobby im Schlepptau gingen sie auf eine nah gelegene Hütte zu. „Wenn du wieder reden kannst, ohne Blut zu spucken, kannst du uns ja erzählen, was du da bei den Malfoys gemacht hast."
„Die Geschichte würde ich ja auch zu gerne hören", knurrte Ron neben ihnen, ohne den Blick von Hermione abzuwenden. Shi lachte leise und hustete. „Da komm ich wohl nicht mehr drum herum", nuschele sie noch erschöpft, bevor sie zuließ, dass Dunkelheit sie einhüllte und von dem Schmerz in ihrem zerschlagenen Körper forttrug.

Times Das Mädchen, das den Tod siehtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt