Der Mortem-Fluch

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Shi blinzelte. Das erste, was ihr auffiel, war, dass ihre Lider nicht verklebt waren und sie nicht in der kalten Dunkelheit ihrer Zelle lag. Ihr Körper ruhte auf einer echten, weichen Matratze, ihr Kopf lag auf einem echten, weichen Kissen und eine echte, weiche Decke hielt ihren Körper warm.
Langsam bewegte sie ihre Zehen. Einen nach dem anderen. Und dann ihre Finger. Sie überprüfte ihren Körper. Es war alles noch da, wo es hingehörte und so gut es eben ging in Takt. Neben ihren Beinen war eine Kuhle, die Decke wurde dort zusammengedrückt. Langsam und mühsam hob Shi den Kopf und ein Lächeln umspielte ihre ausgezerrten Lippen, als sie Dobby neben sich auf dem Bett liegen sah. Zusammengerollt und schlafend wie ein Katze, wartete er darauf, dass sie aufwachte.
Shi ließ sich zurück in die Kissen sinken. Für ein paar weitere Minuten starrte sie an die unbekannte Zimmerdecke, doch jetzt war ihr Kopf wach und ihr Körper musste folgen.
Sie seufzte tief und so leise wie möglich. Immerhin wollte sie Dobby nicht wecken. Seine Augen waren verquollen und er hatte eine rote Nase. Offenbar hatte er geweint. Ihretwegen!
Sanft strich Shi ihm über die riesigen Flügelohren. Der Hauself murmelte nur leise und wachte nicht auf. Vorsichtig schlug Shi die Decke zur Seite und schob Stück für Stück ihre Beine aus dem Bett. Sie trug ein frisches, hellblaues Nachthemd, dass ihren jämmerlichen Körper nun nicht mehr betonte sondern versteckte. Ihre Augen wanderten zu ihrem Arm, der in einer Schlinge lag, ihre Schulter war einbandagiert und wieder eingerenkt. Auch der Rest ihres Körper war zum größten Teil verbunden. Shi war auf einem Auge blind, weil diese Gesichtshälfte komplett hinter Mullbinden verschwand.
Langsam stellte sie ihre nackten Füße auf den Teppich vor dem Bett. Sie hatte Schmerzen, doch es war erträglich, verglichen mit dem Schmerz, den sie bereits erlitten hatte, war das hier nicht sonderlich viel.
Vorsichtig strich Shi mit den Fingern über den Verband an ihrem Bauch über ihrer neusten Wunde.
„Shi Mortem!" Dobbys entsetzte Stimme ließ sie zusammenzucken. Mit einem sanften Lächeln drehte sie sich zu dem Hauself um. „Du bist wach?!" Ihre Stimme war rau und kehlig. Dobby schniefte und sie streckte ihm die Hände entgegen. „Hilfst du mir nach unten?"
„Sie sollten nicht aufstehen!" quickte Dobby und sprang vom Bett an ihre Seite.
„Ich weiß, Dobby, aber ich muss. Ich kann es mir nicht leisten, herumzuliegen. Ich muss mit Harry sprechen!"
Dobby legte den Kopf schief, wie eine Eule, die dünnen Ärmchen in die Hüften gestemmt. Schließlich schüttelte er ergeben den Kopf. „Shi Mortem ist ein dummes Mädchen!" Dann schlang er ihr einen Arm um die Hüfte und half ihr beim Laufen. Shi lachte leise. „Du bist das einzige Wesen, von dem ich mich als dumm beschimpfen lasse, Dobby."
Er warf ihr nur einen missmutigen Blick zu. Sie kicherte. Auf den Hauself gestützt hinkte Shi durchs Zimmer hinaus auf einen Flur und eine Treppe hinunter. Dobby hielt ihr Gewicht problemlos aus und Shi kam sich ziemlich klapprig vor. Stimmen erklangen und sie lenkten darauf zu, bis sie in dem Durchgang zu einem Wohnzimmer stehen blieben. In dem gemütlichen, wenn auch etwas kleinem Raum hatten sich einige Leute versammelt. Fleur, die Ehefrau von Bill, sein kleiner Bruder Ron, Hermione und Harry.
„Harry Potter!" rief Dobby und alle sprangen bei Shis Anblick auf.
„Hey, hey. Ich bin nicht die Queen. Kein Grund aufzustehen", scherzte Shi humorlos und ließ sich von Dobby zum Sofa bringen.
„Du sollst doch nicht aufstehen", murrte Harry und Shi sah spöttisch zu ihm hoch. „Und wer hätte mich daran hindern sollen? Außerdem stehe ich im Moment nicht mehr, als so reg dich ab!"
Der Auserwählte grummelte, erhob aber keinen Einwand mehr. Shi nickte zufrieden, bevor sie sich mit einem erschöpften Seufzer zurücklehnte. „Ich weiß, wo ihr weiter machen müsst", erklärte sie und die drei Zauberer, die wussten, um was es ging, spannten sich merklich an.
„Bill, Fleur!" meinte Harry, ohne Shi aus den Augen zu lassen. „könntet ihr uns kurz alleine lassen?"
Das Ehepaar tauschte Blicke aus, aber sie wussten, dass sie der Bitte lieber nach kommen sollten. Mit einem tiefen Seufzer stand Bill auf, zog Fleur mit sich und verließ gemeinsam mit ihr das Wohnzimmer.
„Bevor du uns von einer weiteren Mission erzählst, will ich erst wissen, was du da gemacht hast", verlange Harry zu wissen. Shi kniff leicht die Augen zusammen. „Ich komm da nicht drum herum, oder?" grummelte sie und seufzte angesichts der ernsten Gesichter. Sie rieb sich über das schmerzende Gesicht. „Okay", seufzte sie und sah die drei Zauberer erschreckend ernst an. „Mortem ist Latein und bedeutet Tod. Dieser Name steht nicht einfach nur für einer der alten, reinblütigen Familien, sondern auch für den Tod. Es begann vor sehr langer Zeit, da schlachteten meine Vorfahren sich gegenseitig ab, wie die Schweine. Sie brachten Tod und Verderben übereinander. Voller Mordlust und Blutdurst konnte niemand ihnen Einhalt gebieten, bis der Tod, so heißt es jedenfalls, diesem Krieg Einhalt gebot. Er war nicht erfreut über diese grausamen Taten der Menschen, die ihm am nähsten waren. Einst waren die Mortem Hüter der Pforten in sein Reich, bis sie von der Macht, die er ihnen gegeben hat, zu berauscht waren und jeder wollte nur noch mehr. Der Tod entriss ihnen all ihre Gaben und belegte stattdessen den Anführer des ganzen Kriegs mit einem Fluch. Dem Fluch, den Tod zu sehen. Als der Anführer schließlich starb ging der Fluch an sein erstgeborenes Kind weiter und immer weiter, bis er mich traf."
„Worin besteht dieser Fluch?" flüsterte Ron. Shi lächelte müde. „Ich bekomme Träume, Visionen, in denen ich den gewaltsamen Tod von Leuten sehen kann, denen ich einmal begegnet bin. Stell dir vor, dein Nachbar stirbt während einer Kneipenprügelei und du weißt es schon Tage vielleicht sogar Wochen oder Monate im Voraus. Das war auch der Grund, warum der Krieg zwischen meinen Vorfahren zum Stillstand kam. Nacht für Nacht wurde der Anführer von grausamen Visionen heimgesucht, in denen seine Familie, seine Freunde und seine Männer starben. So lange, bis er beschloss, dass er das nicht mehr konnte und den Weg des Friedens einschlug. Damals, im Ministerium, als ihr Sirius retten wolltet, habe ich seinen Tod vorhergesehen. Deshalb sind wir aufgetaucht und haben euch geholfen. Die Zukunft ist nichts Festes, man kann sie durch Entscheidungen und Taten beeinflussen. Allerdings müssen diese Taten immer von einem Mortem ausgeführt werden, denn nur wir wissen von dem Tod und können ihn entweder zulassen oder verhindern. Das ist auch der Grund, warum ich dort bei euch war. Vor knapp sechs Wochen hatte ich eine Vision von eurem Tod. Erst der von Hermione, als sie von Fenrir zerfleischt wurde, dann Ron, von Bellatrix zu Tode gefoltert und dann den von Harry durch den Dunklen Lord. Das konnte ich nicht zulassen. Also schmiedete ich mit meiner Tante einen Plan. Vor einigen Wochen, weil ich den genauen Zeitpunkt nicht wusste, habe ich mich oben im Norden von den Greifern erwischen und zu den Malfoys bringen lassen.
Immerhin bin ich von Dunklen Lord fast genauso begehrt wie du. Er will mein Wissen", sie tippte sich an die Schläfen. „meinen Kopf! Ihr ward noch nicht da, also harrte ich aus."
„Du wurdest gefoltert!" zischte Ron und umschlang Hermione fester. Shi betrachtete das Paar ein paar Sekunden schweigend. „Ich schätze mein Körper ist dafür Antwort genug." Ihr Blick glitt zu Hermione, die Shi mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, in denen Tränen schwammen. „Du hast wenige Minuten von Bellatrix' Folter ertragen müssen, Hermione und jetzt stell dir das Tag für Tag, Nacht für Nacht über viele Wochen vor. Es grenzt an ein Wunder, dass ich noch klar im Kopf bin."
Hermione schluckte und ihre Finger krallten sich in Rons Arm.
„Das ist ein Wunder!" murmelte Ron.
„Wegen uns?" flüsterte Harry und Shi wandte sich ihm zu. „Muss ich darauf wirklich etwas erwidern?"
Harry schüttelte schweigend den Kopf und Shi nickte knapp. Dobby tätschelte ihr das Knie.
„Waren diese Visionen auch der Grund, warum du nach Hogwarts gekommen bist?"
Bei dieser Frage wölben sich Shis Augenbrauen kurz. Sie wusste genau worauf die Hexe hinaus wollte.
„Ich bin beeindruckt, Hermione und ja, du hast recht. Damals träumte ich von dem Tod eines Mitschülers, ein tragischer Unfall. Ich wollte helfen, ihm das Leben retten, stattdessen habe ich es nur noch schlimmer gemacht, die falschen Entscheidungen getroffen und ihn am Ende selbst umgebracht. Keine schöne Angelegenheit!"
Schweigen senkte sich über den Raum. Schließlich rieb Shi sich erneut über das Gesicht. „Also gut, genug von mir." Ihr eines Auge richtete sich scharf auf die drei Freunde vor ihr. „Der nächste Gegenstand den ihr sucht, befindet sich in Gringotts. Im Verließ von Bellatrix Lestrange. Der Becher von Helga Hufflepuff! Findet ihn und zerstört ihn, dann sehen wir uns in Hogwarts wieder." Mit einem unterdrückten Stöhnen stand Shi zusammen mit Dobby auf, der die ganze Unterhaltung mit aufgerissenen Augen verfolgt hatte.
„Und wie sollen wir das bitte schön anstellen?" rief Ron ihr nach und Shi drehte sich im Türrahmen zu dem Weasley um. „Fragt einen Kobold", lächelte sie geheimnisvoll.
„Hast du Dumbledores Tod gesehen?"
Shi zuckte ruckartig zu Harry herum, der sie eindringlich anstarrte. Sie schwieg eisern mit verschlossener Miene.
„Warum hast du nichts unternommen?" zischte Harry, seine Hände ballten sich zu Fäusten, er sprang auf.
„Das wirst du noch früh genug erfahren, Harry."
Der Auserwählte fauchte wütend und Shi legte ihm leicht eine knorrige Hand auf die Schulter. „Vertrau mir Harry! Ich bin eine Mortem, ich weiß, was ich tue! Das weiß ich immer. Immerhin habe ich mich für euch foltern lassen und das ziemlich lange." Sie lächelte ein letztes Mal, bevor sie sich sich einfach abwandte und mit Dobby die Treppe hinaufhinkte.

Times Das Mädchen, das den Tod siehtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt