23rd Kiss

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23rd KISS

... oder als ich dem Schranktyp beinahe auf die Schliche komme

Eine gute halbe Stunde ist jetzt vergangen, in der ich im Biologie-Unterricht sitze und den verdammten Sehnerv meines Auges zeichne. Beziehungsweise des Auges eines toten Schweins. Die letzten fünfzehn Minuten habe ich erfolgreich verdrängt, dass ich ein echtes Auge vor meiner Nase liegen habe. Aber jetzt holt mich die Tatsache wieder ein und ich verziehe angewidert das Gesicht. Dazu ist es so zäh und einfach . . . nicht dafür gemacht, vor mir auf der Tischplatte herum zu kullern, während ich seelenruhig eine Abzeichnung davon machen soll.

»Sieh mal, wie das aussieht«, flüstert Olivia neben mir, weshalb ich einen Blick auf ihr Getue werfe und es sogleich  bereue. Sie hat das Auge einmal in der Mitte aufgeschnitten, sodass eine schwarze Flüssigkeit herausläuft.

»Lass das«, zische ich und wende den Blick zurück auf meine Zeichnung.

»Das ist doch nur die Pigmentschicht, du Memme«, kommt es zurück.

Ich schnaube. »Das ist trotzdem nichts, was ich mir ansehen will.«

»Das ist doch total interessant«, hält meine Cousine dagegen und schüttelt verständnislos den Kopf. »Du stellst dich vielleicht an.«

Ich verdrehe die Augen. Es scheint mir, als hätte sie eine Immunliste gegen alles und jeden. Na ja, bis auf gegen Levin. Olivia ist nie von etwas abgeneigt. Sie muss es wenigstens einmal ausprobieren, bevor sie darüber urteilt. Das rechne ich ihr auch hoch an. Denn eigentlich würde ich selbst gerne so eine Einstellung haben. Aber um ehrlich zu sein . . . die habe ich nicht.

»Wie soll ich das denn jetzt noch zeichnen, wenn das Teil einmal halbiert wurde?«, quengele ich und zeige mit meinem Bleistift auf die widerlich aussehenden Hälften.

»Ich dachte, du wärst schon fertig. Immerhin hatten wir genug Zeit dafür. Außerdem sind wir sowieso schon die Letzten«, erklärt sich meine Cousine und sieht mich vorwurfsvoll an.

Ja, ich gebe zu, dass ich bereits und womöglich etwas lange an der Zeichnung sitze. Was eigentlich keinen Sinn ergibt, weil ich mir das lose Auge nicht unnötig oft ansehen will. Aber ich habe gedacht, dass mir die weitere Arbeit dann erspart bleiben würde. Nur leider habe ich die Rechung ohne Olivia gemacht.

»Ich glaube, ich muss gleich kotzen«, presse ich heraus und verziehe das Gesicht. Kontrolliert atme ich ein und aus, lasse die Augen dabei geschlossen und versuche, die scheußlichen Gedanken fort zu wischen.

»Wirklich?«, fragt Liv erschrocken nach.

Ich nicke.

»Oh mein Gott! Was soll ich tun?«

Ich schüttele den Kopf. Für mich ist jede Rettung zu spät.

»Tate?«, flüstert sie.

Die Stimme des Lehrers ertönt. »Könnte bitte jemand von euch neue Kreide aus dem Sekretariat holen?«

Sofort schlittert mein Stuhl zurück, als ich aufstehe. »Ich mach das.«

Der Lehrer drückt mir noch eine kleine Dose in die Hand und schickt mich dann vor die Tür. Auf dem Flur atme ich erleichtert aus und bin glücklich über diese kleine Augäpfelpause. Zumindest habe ich nicht mehr das Gefühl, mich gleich auf den Fliesen zu übergeben. Und das ist doch schon einmal ein riesen Vorteil in einer Schule voller Teenager, deren Leben aktiver auf Instagram und Snapchat ist,als in der realen Welt. Ich bin mir sicher, dass ich heute Abend schon ein Video von mir kotzen gesehen hätte.

Und das, obwohl niemand auf diesem Flur herum lungert, außer mir.

Ich öffne die Tür des Sekretariats und begegne unübertrefflichen Launen. Die reizenden Empfangsdamen schenken mir nicht einmal einen Blick. Sie heben nurden Kopf und schielen durch ihre Brille auf den Bildschirm vor ihnen. Deren Konzentration fokussiert sich gewiss nicht auf mich.

Blind KissWo Geschichten leben. Entdecke jetzt