32nd Kiss

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32nd KISS

... oder als mir die Augenbinde vom Kopf genommen wurde

Die Tagen vergehen zäh. Ich wache morgens auf, gehe abends schlafen und schlurfe dazwischen durch den Schulflur. In der Mittagspause setze ich mich mit Olivia und David an einen Tisch fernab der anderen Jungs. Niemand hat bis jetzt laut ausgesprochen, was sich alle insgeheim fragen.

Was ist eigentlich passiert?

Ich bin froh, dass niemand fragt. Denn ich wüsste nicht, was ich antworten sollte. Ich glaube aber, David hat eine Vermutung, die er für sich behält. Jedenfalls vor Olivia und mir.

Es ist nicht so, dass ich gar nicht mehr mit Silly und den anderen rede – es ist eben nur weniger geworden. Und ich finde es schrecklich.

Immerhin geht das schon seit zwei Wochen so. Seit zwei Wochen haben Kian und ich nicht miteinander gesprochen. Das liegt vor allem daran, dass er – genau wie er sagte – Abstand von mir nimmt. Wenn wir uns im Flur begegnen, sieht er mich zwar für einen kurzen Augenblick an, doch dann schaut er wieder weg und mein Herz hört jedes verdammte Mal auf zu schlagen.

Genau wie jetzt.

Seine Augen liegen auf mir, ein unausgesprochener Satz liegt in ihnen, was mich schlucken lässt. Meine Finger umgreifen die Spindtür fester, als ich ihn mit dem Blick verfolge. Kians Schritte werden langsamer und kurz habe ich die Hoffnung, dass er anhält und mir wenigstens ein »Hey«, schenkt. Doch bevor es überhaupt so weit kommt, schüttelt er leicht den Kopf, strafft den Riemen an seinem Rucksack und schlängelt sich mit zunehmender Geschwindigkeit durch die Leute.

So ist das jedes Mal. Und jedes Mal liegt mein Herz danach auf dem Boden. Und wenn ich es nicht immer wieder aufheben und zurück in meine Brust stecken würde, läge es noch immer dort. Außerdem bekomme ich jedes Mal das verdammte Bedürfnis einfach zu heulen. Das Brennen in der Kehle ist schon einmal eine gute Voraussetzung dafür.

Seufzend reiße ich mich zusammen, schließe meinen Spind und schlurfe auf den Ausgang zu, um mit dem Bus nach Hause zu fahren. Heute ist ein beschissener Tag. Heute ist außerdem Freitag. Und heute ist auch das Lacrosse-Spiel gegen die Cinco Ranch. Ein Neuaufleger. Nur, dass der Spielstand heute tatsächlich zählt. Die Talentscouts sind vermutlich schon erpicht darauf, die großartigen Talente zu sehen.

Als ich an unserem Haus ankomme, überrascht es mich schon längst nicht mehr, Levins Auto in der Auffahrt zu sehen. Er ist ständig hier. Er wohnt praktisch hier. Ich schließe die Haustür auf und lasse meine Sachen einfach auf den Boden fallen. Ich kann nicht mehr.

Dads Stimme dringt zu mir durch. »Tate?«

Ich stöhne innerlich auf. »Ja, Dad. Dieses Mal bin ich wieder da – nicht du.«

Sein Kopf erscheint in der Küchentür. Ein Lappen in der Hand und ein Grinsen im Gesicht. »Das ist mein Mädchen.«

Augenrollend verkneife ich mir ein Schmunzeln und hebe meinen Rucksack vom Boden auf. Als ich in der ersten Etage ankomme, kommen Ben und Levin gerade die zweite herunter.

»Was geht ab, Kiddo?«, ruft Ben und strubbelt mir durch die Haare.

Fluchend bücke ich mich unter ihm weg und lege mir die Händen auf den Kopf. »Ich wusste schon immer, dass du pervers bist, aber lass deinen Berührungsfetisch bei Hailey aus – nicht bei mir.«

Levin grinst. Und Ben verzieht angewidert das Gesicht. »Ekelhaft!«

Ich lache auf und höre mich mal wieder fantastisch schrecklich an. »Was macht ihr eigentlich noch hier? Müsst ihr euch nicht auf das Spiel vorbereiten?«

Blind KissWo Geschichten leben. Entdecke jetzt