Tag 11 - verstorbene Person

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Liebste Lissy,

noch immer fällt es mir schwer damit klarzukommen, dass du nicht mehr unter uns weilst. Wenn ich daran denke, dass du jünger warst als ich und noch dein ganzes Leben vor dir hattest, dann empfinde ich es als sehr ungerecht, dass dir und auch uns so viel Zeit geraubt wurde. Immer und immer wieder mache ich mir Vorwürfe: Warum habe ich dich nicht früher besucht? Warum habe ich am Sonntag, einen Tag bevor du starbst, nicht noch einmal auf Facebook geguckt? Warum?

Wir haben uns damals in dem pädophilsten Chat kennengelernt, den es überhaupt gibt, nämlich Knuddels. Eigentlich hat man keine großartigen, geistigen Ergüsse dort zu erwarten, sondern eher perverse Anmachen, aber ab und zu passiert es auch mal, dass man echte Freundschaften dort schließt, auch wenn sie nicht so wahrscheinlich sind. Lissy, du bist die tollste Person, die ich jemals gekannt habe: aufgeschlossen, hilfsbereit, freundlich, lustig, temperamentvoll, hübsch und trotzdem bist du auf dem Boden der Tatsachen geblieben. Ich habe schnell in dir Jemanden gefunden, mit dem ich über Sachen sprechen konnte, wie sonst mit niemandem. Du hattest immer ein offenes Ohr für mich und ich immer eins für dich. Über dich habe ich einen meiner besten Freunde kennengelernt, der aber noch stärker als ich unter deinem Tod leidet. Es geht ihm nicht gut, du fehlst ihm sehr, denn dein Gesicht begleitet ihn ständig. Er versucht ins Leben zurückzufinden und ich hoffe er schafft es irgendwann. Ich weiß noch genau den Tag, als er mich angerufen hat, völlig in Tränen aufgelöst, weil er mich beibringen musste, dass du totkrank bist und dir nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich musste dich überreden, dass ich dich besuchen darf, denn du wolltest nicht, dass ich dich so sehe: von der Krankheit gezeichnet und völlig entkräftet. Aber ich wollte dir beistehen, als echte Freundin im richtigen Leben und nicht nur über Handy oder Chat. Es war alles geplant, alles abgemacht und wir freuten uns riesig auf das Treffen doch dann... Am Montag Abend, in der Woche, wo wir dich besuchen kommen wollten, erhielt ich die Nachricht, dass du von uns gegangen bist. Für immer. Ich war zerstört, bin es immer noch, aber ich will nicht in der Vergangenheit stecken bleiben. Ich werde mich deiner erinnern, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Nein, das Leben ist nicht fair. In keinem Moment wurde mir das so bewusst wie in diesem, aber ich kann es nicht ändern. Niemand kann das. Es zu wissen, macht es nicht besser, aber es hilft einem, wenn man zurückdenkt, sich Vorwürfe macht, nur um dann festzustellen, dass es doch nichts ändert.

Lissy... Ich vermisse dich. Du weißt wahrscheinlich nicht einmal wie sehr, aber vielleicht ist das auch besser so. Ich sage mir immer, dass du nicht gewollt hättest, dass wir nur um dich trauern. Deshalb... das Leben ist nicht fair, aber es geht weiter. Allerdings ohne dich...

Ich hab dich so lieb!

Deine Chatfreundin, die zu wenig Zeit mit dir verbringen durfte

30 Briefe an 30 TagenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt