Tag 2 - mein Freund

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Dear Darling,

über eineinhalb Jahre sind wir jetzt schon zusammen. Im Gegensatz zu verheirateten alten Ehepaaren wirkt das recht gering, aber ich denke, die Zeit hat ausgereicht, um uns gegenseitig zu zeigen, wie wir wirklich sind. "Als ich dich das erste Mal gesehen habe, habe ich gedacht: Sie könnte auch in einem Raum voller Leichen stehen und niemand würde glauben, dass sie es war." Wenn du jetzt darüber nachdenkst, musst du wohl schmunzeln. Ich bin alles andere als harmlos, aber das ist ja nichts Neues. Du weißt, wie ich bin: zickig, emotional, stolz, manchmal auch abgehoben und äußerst schwierig. Ich bin ein Mensch, ein Wesen voller Fehler, aber ich bin trotzdem froh, dass ich die Person bin, die ich bin. Viel zu oft gab es Leute in meinem Leben, die versucht haben mich nach ihren Wünschen zu verändern, die mich nicht akzeptieren konnten, wie ich bin, aber diese Zeiten sind jetzt vorbei. Wir hatten einen schwierigen Start. Ich mochte damals einen anderen Jungen aus meiner Klasse und ich habe dir das auch recht schnell gesagt, weil ich gemerkt habe, dass du keine freundschaftliche Beziehung eigentlich haben wolltest. Doch du hast nicht aufgegeben, hast immer und immer wieder den Kontakt gesucht, bis ich den anderen vergessen hatte und dann eine Beziehung mit dir wollte. Es gibt viele Dinge, die nicht richtig in unserer Beziehung laufen, das wissen wir beide, und es gab auch schon viele Momente, wo ich gerne den Schlussstrich gezogen hätte, es aber doch nicht gemacht habe. Ich habe mich schon so sehr an deine Nähe gewöhnt, dass ich mittlerweile es schon als komisch empfinde, wenn du einen Tag lang nicht in der Schule neben mir sitzt. Doch das viel größere Problem ist, dass ich mir mittlerweile nicht einmal mehr sicher bin, ob ich überhaupt noch Gefühle für dich habe. Wir haben uns schon so oft so sehr wehgetan, sodass momentan irgendwie nichts mehr da ist. Ich hoffe immernoch, dass sich das gibt, das alles so wieder wird wie früher, aber wie lange soll ich noch warten? Wie lange kann man auf etwas hoffen, bis man feststellt, dass hoffen nicht reicht? Ich bin kein Mensch, der nebenbei irgendwelche Affären hat und das weißt du auch, aber sollte ich Jemanden kennenlernen, bei dem ich das Gefühl habe, dass es besser passt, dann kann ich dir nicht versprechen, dass ich bei dir bleiben werde. Eine Beziehung, die nur noch auf Gewohnheit basiert, ist von vorneherein schon zum Scheitern verurteilt, oder? Und du weißt, dass es nicht nur an mir liegt. Ich behaupte aber auch nicht, dass du die alleinige Schuld daran trägst. Ich will auch nicht im Schlechten mit dir auseinander gehen, aber ich habe Angst, dass du mich hassen wirst, wenn ich doch meine Sachen packe und gehe. Nein, ich weiß es: Du wirst mich hassen. Weil ich dich gekränkt habe, weil du vielleicht auch das Gefühl hast benutzt worden zu sein, auch wenn das nicht stimmt. Mir liegt etwas an dir, aber nicht mehr auf diese Art und Weise, wie wir angefangen haben. Vielleicht ändert sich noch alles, vielleicht auch nicht, das wird sich zeigen. Ich hoffe noch... nur wie lange?

L.

30 Briefe an 30 TagenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt