Trauer

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~Die Sehnsucht nach dir reißt mich entzwei. Ich würde bis ans Ende der Welt gehen, um dich noch einmal zu sehen.~

,,Annika, möchtest du uns vielleicht erzählen, wieso du hier bist?''
Durch seine dicke Hornbrille schaute er zu der 15 jährigen auf.
Kaum merklich schüttelte die Blonde mit den Kopf.
Sie konnte nicht. Der Schmerz war zu stark, um ihn auszusprechen. Sie müsste weinen und das wollte sie nicht, nicht hier, vor 9 anderen Jugendlichen, die ebenfalls etwas schreckliches erlebt haben mussten.
Annika wusste bei keinen einzigen den Grund, denn sie hörte nie zu. Immer ist sie in ihrer Gedankenwelt versunken und hat ihr Gesicht vor Augen. Warme brauen Augen, die sie mit einem aussichtslosen Blick anschauen. Ihr verzweifelter Blick. Er hat sich in ihr Gehirn gebrannt.
Es waren ihre letzten Minuten, bevor sie starb, für immer weg war und Annika ihre Mutter verlor.

,,Bitte verspreche mir weiter zu leben!'', hatte sie immer wieder gesagt. Mal geschrien, mal geflüstert.
Und jedes Mal hatte sie genickt. Doch sie hatte den letzten Wunsch ihrer Mutter nicht erfüllt.

,,Annika, möchtest du vielleicht noch etwas erzählen?'', riss sie ihr Psychater aus den Gedanken.
,,Nein.'', sagte sie mit leiser, rauer Stimme, ihr Blick immer noch auf den Boden gerichtet.
Er nickt, wendet sich den anderen schweigsamen Kindern wieder zu und lässt Annika wieder alleine mit ihren trübseligen Gedanken.

Tief zog sie sich die Kapuze ihres Hoodis über den Kopf. Erstens war es kalt und zweitens war ihr nicht danach lauter erschrockene und mitleidige Blicke auf ihr liegen zu haben.
Sie sah ein, dass sie furchtbar aussah. Dunkle Tiefe Ringe zeichneten sich in ihrem Gesicht ab, sie war dünn, zu dünn und ihre Augen waren leer und hatten jegliche Glanz verloren. Doch das ist immer noch kein Grund sie regelrecht anzustarren, fand Annika.
Als es auch noch anfing zu regnen, beschleunigte sie ihre Schritte noch einmal mehr.
In letzter Zeit regnete es viel, vielleicht weil der Regen ihr sein mitgefühlt aussprechen wollte.
Wahrscheinlich lag es aber einfach an der Jahreszeit und daran, dass sie in Kiel lebte.

Stumm schloss sie die Haustür auf und schlüpfte in das Haus, welches eigentlich viel zu groß für 3 Personen war.

,,Annikaaaaa!'', mit kleinen schnellen Schritten kommt ihre 7 jährige Schwester um die Ecke gerannt, direkt auf sie zu.
Annikas Mund verzieht sich schwerfällig zu einem kleinem Lächeln.
Seit den Tod ihrer Mutter konnte sie nicht mehr Lächeln. Sie fand es falsch zu Lächeln, wenn einer ihrer bedeutsamsten Menschen gegangen ist. Es kam ihr einfach respektlos vor.
Annika setzte sich auf die Knie und schloss ihre Schwester in die Arme.
,,Papa und ich machen Spaghetti!'', schreite sie, als sie sich wieder gelöst haben.
,,Das ist toll.'', sagte Annika und presste ihre Lippen fest aufeinander, den Tränen unterdrückend.
Sie wünschte, sie könnte ebenfalls so sein wie ihre Schwester. Gelöst und unbekümmert, frei von Sorgen.
Ella verstand das noch nicht. Klar, sie vermisste ihre Mutter genauso wie Annika und ihr Vater, doch sie ist noch zu klein, um zu verstehen, dass es für immer ist.
,,Ich komm gleich zum Essen, geh ruhig schon mal.'', bat Annika, bevor sie die Treppen hoch sprintet, um ins Bad zu verschwinden.

Mehrmals spritzte sie sich Wasser ins Gesicht, um wieder klar denken zu können. Die Fassade herzurichten, die sie sich Tag für Tag errichtete. Das jemand es schaffte diese Mauer zu brechen, damit hatte Annika zu diesem Zeitpunkt noch nicht gerechnet.
Sie musste für ihre Familie da sein.
Ihr Vater hatte schließlich seine Frau verloren, ihre beste Freundin und große Liebe. Über 20 Jahre haben sie sich gekannt, sie gingen zusammen zur Schule.
Und Ella verstand das ganze vielleicht noch nicht, doch trotzdem vermisste sie ihre Mutter. Sie hatte ihr bei den Hausaufgaben geholfen, sie abends ins Bett gebracht und sich all ihre kindlichen Sorgen angehört. Eben die mütterlichen Aufgaben.
Noch einmal schaute sie in blaue Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, ehe sie das Badezimmer wieder verließ, um mit ihrem Vater und Schwester zu Mittag essen.
,,Und wie war dein Tag?'', fragte ihr Vater sie.
Er sah erschöpft aus. Wie immer seit dem ihrer Mutter nicht mehr da war. Kein Wunder, er musste arbeiten, sich um Ella kümmern und den Haushalt schmeißen. Und dies war unmöglich, fand Annika.
Sie machte sich Sorgen um ihn. Immer wieder hatte sie Angst auch ihn zu verlieren, dass er es einfach nicht mehr schaffte sich dem Leben zu stellen und dann Ella und Annika alleine ließ.
,,Gut.'', lächelt Annika leicht, ehe sie sich, ebenfalls wie ihr Vater und ihre Schwester, an den Tisch setzte.
Ihr Blick gleitet zu den gegenüber frei stehenden Stuhl. Was würde sie dafür geben, jetzt ihre Mutter vor sich sitzen zu haben und ihr Lächeln zu sehen, was so viel Wärme ausstrahlte.
Ihr Vater entging Annikas sehnsüchtiger Blick zum Stuhl nicht.
Sanft legte er seine Hand in ihre.
Annika richtete ihren Blick wieder auf ihren Teller und begann zu essen. Sie aß seit dem Tod weniger. Warum, das wusste sie nicht. Ihr Vater hatte sie mehrmals dazu überreden wollen, zum Psychiater zu gehen, doch da war Annika strickt gegen. Auf keinen Fall wollte sie all den Schmerz, den sie spürte vor einem Fremden Preis geben! Die Gruppentherapie reichte ihr vollkommen!
Ella redete ununterbrochen von ihren Freunden und den Schultag, was dafür sorgte, dass keine trauernde Stille herrschte.
,,Ich muss um 15 Uhr wieder zur Arbeit. Könntest du Ella zu Mette bringen? Und vielleicht auch noch einkaufen gehen?'', richtete ihr Vater das Wort an Annika.
,,Klar, kann ich machen. Was brauchen wir denn?'', fragte Annika und war froh über die Ablenkung. Ansonsten würde sie sich wohl in ihrem Zimmer verkriechen und rum heulen.
Ihr Vater reichte ihr stumm eine Liste, die sie kurz überflog.

,,Denkst du nicht eine Jacke wäre angebracht?'', skeptisch musterte Annika ihre Schwester, die jegliche ein dünnen Pullover trug.
,,Man Anni! Ich will los, also komm!'', pampt ihre Schwester sie zickig an. Eigentlich würde sie ihr sagen, dass ein anderer Ton angebracht wäre, doch dazu hatte sie weder die Kraft, noch Lust.
Annika seufzte, ehe sie ihrer Schwester stumm die kleine Daunenjacke auf den Kopf schmiss und die Tür aufschloss.
Draußen schlang ihre Schwester wie von allein ihre kleine zierliche Hand in ihre. Sofort verspürte Annika den Drang sie einfach zu umarmen, die Wärme zu spüren, die einst ihre Mutter ihr vermittelt hatte.
,,Aua! Du erdrückst meine Hand!'', sagte Ella auf einmal.
Erschrocken lockert sie ihre Hand. Sie hatte es gar nicht bemerkt!

,,Wir sehen uns dann heute Abend. Papa holt dich ab.'', verabschiedete Annika sich.
Annika drückte ihre Schwester noch mal ganz fest. Ella tat es ihr gleich. Seit ihre Mutter gestorben ist, wurde ihre Beziehung noch inniger und vertrauter, als es üblich bei Geschwistern der Fall war.
Annika winkte ihrer Schwester noch ein letztes Mal, ehe ihre Schwester mit Mette in den Garten verschwand.
Auf den Weg zum Einkaufsladen musste sie sofort wieder an ihre Mutter denken. Sie dachte immer an sie.

Machtlos gegen das Schicksal Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt