Kapitel 3

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»Sie hat sich am Montag mit einem anderen Mädchen auf dem Schulhof geprügelt. Ich weiß nicht, warum sie es getan haben. Aber ich denke, es steckt mehr als nur eine kleine Rauferei dahinter. Auf meine Nachfragen hin, sagte niemand mehr ein Wort. Ich dachte, Sie wüssten vielleicht etwas.« Geschockt starrte ich sie. »Sie hat sich mit einem Mädchen... geprügelt?« Ich konnte es nicht fassen. Warum tat sie so etwas? Ich hatte sie gewaltfrei erzogen, das war für uns nie ein Thema. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin gerade fassungslos. Damit hätte ich nicht gerechnet.« Regungslos saß ich auf meinem Stuhl. »Ich glaube, man kann mit Jette reden. Ich komme nur nicht an sie heran. Sie hat ihren eigenen Kopf, aber vielleicht hilft es, wenn Sie mit ihr sprechen in einer ruhigen Minute. Irgendetwas belastet sie. Ich habe sie zwar erst einige Wochen im Unterricht, aber ich merke, dass etwas nicht in Ordnung ist.« Stimmte das? »Ist denn zu Hause alles ok?« Was sollte diese Frage denn jetzt? Wollte sie darauf hinaus, dass ich sie schlug? »Wenn Sie wissen wollen, ob ich sie schlage, dann kann ich Ihnen versichern, dass es nicht so ist. Auch mein Ex-Freund, also ihr Vater, schlägt sie nicht. Auch wenn wir schon länger nicht mehr zusammen sind, ist er ein guter Mann.« Entsetzt sah sie mich an. »Oh, Gott. Nein, das wollte ich Ihnen natürlich nicht unterstellen. Ich dachte nur, dass Kinder in dem Alter ja oft Ärger zu Hause haben, weil sie sich gegen die Eltern stellen.« Hatte ich etwas überreagiert? »Entschuldigung, natürlich wollten Sie das nicht. Ich bin nur gerade etwas überfordert mit der Situation.« Ich schämte mich für meine Antwort.

»Nein, alles in Ordnung. Wirklich. Kommt sie denn mit der Trennung gut zurecht?« Ich wollte antworten, aber dann schaute ich sie einfach nur an. Sie errötete. »Oh, tut mir leid. Das geht mich natürlich nichts an.« Es war süß, dass sie nun peinlich berührt war. »Ich weiß nicht«, antwortete ich ehrlich. »Wir haben nie wirklich darüber gesprochen. Ihr Vater und ich haben eine gute Beziehung zueinander, wir haben uns im Guten getrennt und es gab nie Probleme bei den Absprachen. Sie sehen sich regelmäßig, aber ich werde sie auf jeden Fall darauf ansprechen. Danke, dass Sie sich sofort bei mir gemeldet haben.« Sie lächelte.

Ich versprach ihr, mich bei ihr zu melden, wenn ich etwas in Erfahrung gebracht hatte und andersrum war es auch so. Wir redeten noch eine Weile und sie erzählte mir, dass sie neu hergezogen war. Ich fand alles, was sie erzählte, unglaublich interessant. Unser Gespräch fand auf einer vertrauten Ebene statt. Als würden wir uns schon zehn Jahre kennen. Dann klingelte plötzlich mein Handy. Ich sah auf das Display. Jette. »Oh, kleinen Moment«, sagte ich und nahm das Gespräch an. »Wo steckst du?«, fragte sie auf der anderen Seite und ich merkte, dass sie leicht aufgebracht war. »Wie meinst du das? Ich bin beim Elterngespräch.« Ich verstand ihre Frage nicht. Sie wusste doch davon. Ich hatte es ihr gestern Abend erzählt. »Du hast doch gesagt, dass es um 16 Uhr ist. Hat es sich nach hinten verschoben, oder was?« Ich war völlig irritiert und sah auf. Im Klassenzimmer hing eine Uhr. Es war bereits 18:10 Uhr. »Ja, ich komme gleich nach Hause.« Dann legte ich auf und stellte fest: »Es ist spät geworden. Wir haben uns wohl mächtig verquatscht.« Auch sie sah auf die Uhr und ich sah das Erstaunen in ihrem Gesicht. »Ich wollte Sie nicht so lange aufhalten...«, fing sie an, sich zu entschuldigen, aber ich unterbrach sie: »Ach, nein. Bis auf die Sache mit der Prügelei haben wir uns doch gut unterhalten.« Sie stimmte mir zu, dann erhob ich mich und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hätte ich noch zwei weitere Stunden hier sitzen können. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie auch gern noch etwas mit mir erzählt hätte.

Wir verabschiedeten uns und sie gab mir ihre Hand. Wir standen gefühlt eine Ewigkeit so da. Dann tauschten wir noch einen letzten Blick aus und ich drehte mich um und verließ den Raum. Durch meinen gesamten Körper schossen Glücksgefühle und ich konnte nicht beschreiben, woran es lag. Ich wusste nur, dass ich heute einen sehr netten Menschen kennengelernt hatte. Ich setzte mich ins Auto und atmete tief ein und aus. Verrückt, dachte ich nur, bevor ich den Motor startete und nach Hause fuhr.

Als ich dort ankam, war Jette in ihrem Zimmer. Ich klopfte an und betrat den Raum. Schnell flüsterte sie ins Telefon: »Ich rufe dich gleich zurück.« Dann setzte sie sich auf und sah mich aufmerksam an. Ich setzte mich auf ihre Bettkante. »Warum hast du dich geprügelt?« Sie sah an mir vorbei und senkte den Blick. Ihre sonst so starke Fassade brach zusammen und sie fiel mir in die Arme. Dann fing sie bitterlich an zu weinen. Ich sagte nichts, hielt sie nur im Arm und streichelte liebevoll ihren Kopf. Nach einer Weile hatte sie sich beruhigt. Mit rot geschwollenen Augen erklärte sie: »Es tut mir wirklich leid. Ich wollte das nicht. Aber es ging nicht anders in diesem Moment.« Ich hielt ihre Hand. »Aber warum habt ihr euch denn geprügelt?«, hakte ich vorsichtig nach. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Doch dann wurde es mir klar. Warum hatte ich nicht früher daran gedacht? »Ging es um einen Jungen?« Erschrocken riss sie die Augen auf und wieder fing sie an zu weinen. Da hatte ich meine Antwort.

»Möchtest du darüber reden? Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?« Sie nickte. »Ja, weiß ich.« Sie räusperte sich und ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Aber nicht mehr heute, ok? Ich wäre jetzt lieber etwas alleine, wenn das in Ordnung ist.« Ich streichelte ihr über die Wange. »Natürlich ist das in Ordnung. Wenn du etwas brauchst, sage mir Bescheid, ja?« Sie nickte und ich ging in die Küche. Sie hatte noch kein Abendbrot gegessen, also bereitete ich ihr Schnittchen vor, etwas Gemüse und machte ihr eine heiße Schokolade. Das brachte ich ihr ins Zimmer und entlockte ihr damit sogar ein Lächeln. »Danke, Mama. Ich bin froh, dass du da bist.«

Ich sah am Abend noch einmal nach ihr, aber sie schlief tief und fest. Auch als ich eine Stunde in ihr Zimmer schlich, um das Licht auszuschalten, schlief sie. Aber plötzlich regte sie sich und fing an zu sprechen: »Ach, Mama? Ich wollte dir noch sagen, dass Frau Sturm schon in Ordnung ist. Es tut mir leid, was ich über sie gesagt habe. Ich war nur so sauer, dass sie dich direkt treffen wollte. Diese Prügelei war ein Fehler.« Ich ging noch einmal einen Schritt auf sie zu und gab ihr einen Kuss. »Also ich finde Frau Sturm auch wirklich sehr nett. Sie hat ein gutes Herz. Und wenn du jetzt deinen Fehler einsiehst, hast du deine Lektion doch gelernt.« Jette nickte. »Gute Nacht«, murmelte sie mir noch zu, dann ging ich in mein Zimmer. Dort legte ich mich ins Bett und automatisch breitete sich ein Lächeln in meinem Gesicht aus. Seit langer Zeit schlief ich mal wieder zufrieden ein.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt