Kapitel 15

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Aber ich musste mich zusammenreißen. Immerhin hatte sie absolut kein Interesse an ihm und war lesbisch, aber mir gefiel trotzdem nicht, wie er um Helene herumschwirrte. Einige Mütter kamen zu uns und auch Jette und eine Freundin von ihr kamen dazu. »Gut, dann sind wir ja jetzt vollständig.« Wir stiegen in den Bus ein. Verstohlen sah ich mich um. War es möglich, dass Jettes Schwarm hier war? Sie strahlte heute so. Ich musste sie etwas im Blick behalten. Sie unterhielt sich gerade mit einem Jungen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es mehr bedeutete. »Ist hier noch frei?« Verschmitzt grinste Helene mich an und deutete auf den Platz neben mir. »Immer doch«, flüsterte ich zurück und sie setzte sich. Die Fahrt dauerte insgesamt genau 37 Minuten. Ich wusste es so genau, weil ich auf die Uhr gesehen hatte. 37 Minuten lang berührten sich unsere Oberschenkel und ich hatte die ganze Zeit wildes Herzklopfen.

Dann stiegen wir aus. Ich hätte noch bis Moskau fahren können, es wäre nicht langweilig geworden. Wir betraten die Eishalle und es dauerte eine ganze Weile, bis jeder seine eigenen Schlittschuhe ausgeliehen hatte. Nach und nach versammelten wir uns bei den Bänken, um sie anzuziehen. Die Eishalle war zum Glück leer. Es waren nur wenige Menschen auf dem Eis, man konnte sie fast an einer Hand abzählen. Ich hörte lautes Lachen und viele Stimmen, doch trotzdem achtete ich nur auf das, was Helene sagte. Den Rest blendete ich aus. Wir gingen alle gemeinschaftlich auf das Eis. Ich war gut im Laufen und Helene sah mich erstaunt an. »Jahrelange Übung«, erklärte ich ihr lachend und sie fuhr etwas unsicher los. Ich zog einige Runden und überholte sie mehrere Male. Irgendwann gewann sie auch an Geschwindigkeit und fuhr etwas schneller. Ich wurde langsamer. So fuhren wir eine Weile schweigend nebeneinander her.

Bis Herr Meyer auftauchte und vor ihren Augen einige kleine Kunststücke vorführte. Hinter uns brachen die Mädchen in Jubel aus und ich wünschte mir, er würde fallen und sich die Nase brechen. Er strahlte Helene wieder an und sie lächelte zurückhaltend zurück. Es war eine unangenehme Situation. »Und? Hast du Spaß?«, fragte er und lief neben uns her. »Ja. Du anscheinend auch«, antwortete sie und er lachte. Seine Gesichtsmuskeln mussten doch schmerzen bei dem breiten Grinsen, dachte ich. Die Konversation verlief irgendwie ins Leere und etwas enttäuscht legte er an Geschwindigkeit zu und war verschwunden. Wir fuhren eine ganze Weile. Dann machten wir eine Pause. Man musste das Feld für etwa 40 Minuten räumen, damit das Eis erneuert wurde. So konnte man wieder besser laufen.

Wir verließen die Eisfläche und zogen uns die Schlittschuhe aus. Einige kauften sich Essen, andere hatten ihr eigenes mit. Ich hatte keinen Hunger, aber zwang mich dazu, einen Apfel zu essen. Es war laut um uns herum und wir blieben nebeneinander stehen. Die meisten saßen auf den Bänken und erzählten fröhlich. »Kennst du Harry Potter?«, fragte ich sie und starrte Herrn Meyer an, der einige Meter von uns entfernt stand. Weit genug entfernt, um uns nicht hören zu können. Verblüfft guckte sie mich an und runzelte die Stirn. »Ja, klar. Ich liebe die Bücher und Filme. Wieso fragst du?« Noch immer sah ich in seine Richtung, drehte meinen Kopf aber langsam zu Helene. »Er«, ich nickte in die Richtung, in der Herr Meyer stand und sich gerade mit Paula unterhielt, und redete weiter: »... erinnert mich an Gilderoy Lockart.« In ihrem Gesicht tauchten immer mehr Fragezeichen auf. Paula entfernte sich nun von ihm und er suchte das Gespräch mit einer Mutter.

Ich erklärte: »Der ist auch so ein Schönling und von sich selbst überzeugt, die Frauen liegen ihm zu Füßen und er grinst auch die ganze Zeit so dämlich.« Gott, warum sagte ich so etwas? Empfand ich das wirklich so oder störte mich nur, dass er Helene auch mochte? »Weißt du, er ist eigentlich sehr nett«, bemerkte sie vorsichtig und sofort taten mir meine Worte leid und ich wünschte mir, sie nie ausgesprochen zu haben. Ich seufzte. Sie berührte kurz meine Hand und warf mir einen »ich verstehe dich trotzdem« Blick zu. »Das war unfair von mir. Ich bin nur sehr empfindlich, wenn es um dich geht«, gab ich zu.

»Ist schon in Ordnung. Und ich kann es gewissermaßen auch verstehen. Mir würde es wohl auch so gehen.« Sie lachte auf und ich nickte. Plötzlich rief jemand Helenes Namen. Es ging alles so wahnsinnig schnell. »Frau Sturm, bitte kommen Sie! Paula und Jette schon wieder.« Meine Alarmglocken läuteten. Jette? Was hatte das zu bedeuten? Ich lief Helene hinterher und wir verließen die eigentliche Eishalle und befanden uns nun wieder in einem Vorraum. Da fand man die Toiletten, konnte sich Speisen und Getränke kaufen und sich Schlittschuhe ausleihen. Jette und Paula rauften sich schon wieder und beide Gesichter waren wutverzerrt. Herr Meyer ging dazwischen. »Hey, jetzt ist gut hier. Was soll der Quatsch?«, rief er den beiden Mädels zu und sofort hörten sie auf. Beide waren feuerrot im Gesicht. Aber niemand antwortete. Ich ging auf sie zu. »Jette, was soll das? Was ist denn nur los mit euch?« Ich machte mir ernsthafte Sorgen.

»Oh, kannst du endlich mit deinen Fragen aufhören? Es nervt«, motzte sie mich an. Aber sie antwortete dann schließlich: »Einige Menschen wissen eine Freundschaft eben nicht zu schätzen.« Paula schnaubte. »Du spinnst doch. Weißt du, ich konnte das doch nicht wissen, dass du...«, schrie sie und Jette fauchte dazwischen: »Lass es. Wehe du sprichst es aus.« Ich erkannte meine Tochter nicht wieder. In der Zwischenzeit hatten sich alle um uns herum versammelt. Herr Meyer schickte alle zurück in die Eishalle. Ich wusste, dass es um einen Jungen ging. Ich wollte mich als Mediator versuchen. Vielleicht konnten wir den Konflikt so lösen. Nun waren Jette, Paula, Helene, Paulas Mutter, Herr Meyer und ich alleine.

»Wisst ihr, ihr solltet euch vielleicht mal aussprechen. Ihr seid doch immer gute Freundinnen gewesen. Wollt ihr das einfach wegwerfen?«, versuchte ich es, aber beide starrten mich nur an. »Das stimmt. Ganz egal, was es ist, das sollte keiner Freundschaft im Wege stehen«, mischte Herr Meyer sich ein. »Man kann doch über alles reden.« In ihren Gesichtern veränderte sich der Ausdruck und beide guckten ihn mit großen Augen an. In Jettes Blick war etwas, was ich kannte. Aber es fiel mir nicht ein. Sie blieben stumm. Er ging auf die Mädels zu und legte jedem eine Hand auf die Schulter. Wieder dieser Blick von Jette. Ihre Augen funkelten. Und plötzlich fiel es mir auf. Die Art, wie sie ihn ansah. Sie war in Herrn Meyer verliebt. Diese Erkenntnis nahm mir die Luft zum Atmen. Das konnte doch nicht wahr sein, oder?

Er schaffte es, dass Jette und Paula sich wieder beruhigten. Helene erzählte ich nichts von meiner Ahnung. Ich wusste es nicht hundertprozentig. Aber ich würde es herausfinden. Nach einiger Zeit gingen wir zurück in die Eishalle und die beiden gingen sich die restliche Zeit aus dem Weg, doch trotzdem war alles sehr angespannt. »Ich werde später mit ihr reden«, vertraute ich Helene an und sie nickte. Dann gaben wir die Schlittschuhe wieder ab und fuhren zurück zur Schule. Die allgemeine Stimmung hatte sich nicht davon runterziehen lassen. Man hatte das Gefühl, dass man auf einer Party mit 10000 anderen Menschen war, so laut war es. Doch nicht alle waren laut. Jette sagte kein Wort. Und Paula auch nicht. Sie schwiegen die ganze Fahrt über. Als wir in der Schule ankamen, verabschiedete ich mich von Helene. »Ich melde mich«, flüsterte ich ihr zu und sie lächelte mich an. »Bis dann«, wisperte sie zurück und Jette und ich gingen zum Auto. Zu Hause verbarrikadierte sie sich in ihrem Zimmer und ich ließ sie in Ruhe. Erst am frühen Abend klopfte ich und sie rief mich ins Zimmer. Ihre Augen waren total rot vom vielen Weinen. Ich setzte mich zu ihr.

»Jette, bitte sage mir die Wahrheit. Ich mache mir doch auch nur Sorgen.« Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Heute Morgen sah sie noch so glücklich aus und jetzt strahlte sie das komplette Gegenteil aus. »Ich kann nicht, Mama« flüsterte sie mir kaum hörbar zu. Sie schluckte. »Es geht wirklich nicht. Du würdest es nicht verstehen.« Aber ich konnte es nicht für mich behalten, ich brauchte Gewissheit. Deshalb fragte ich sie: »Es ist Herr Meyer, oder?« In ihrem Gesicht zeichnete sich gleichzeitig Staunen, Entsetzen und Verletzlichkeit ab. »Was meinst du?« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Du bist in Herrn Meyer verliebt, richtig? Genau wie Paula.« Plötzlich fing sie an zu weinen und ließ sich in meine Arme fallen. Ich lag mit meiner Vermutung richtig, dachte ich traurig. Das war doch alles nur ein böser Traum. Das konnte nicht wahr sein. Ich hoffte, dass sie unerwartet doch noch verneinte, aber sie tat genau das Gegenteil. »Ja«, brachte sie noch hervor, dann weinte sie noch heftiger als zuvor und ich fühlte viele Dinge gleichzeitig.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt