Kapitel 12

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»Ok, wow.« Mehr konnte ich nicht sagen. Ich war noch immer überwältigt von diesem Kuss. Es war passiert. Helene und ich hatten uns geküsst. »Willst du nicht doch mit nach oben kommen?«, versuchte sie es scherzend noch einmal und ich musste schmunzeln. »Nein, es ist gut so, wie es gerade ist«, ergänzte sie lachend. Die Versuchung war groß, aber ich musste mich beherrschen. »Ja, das ist es. Sag mal, wie alt bist du eigentlich?« Das hatte ich mich schon die ganze Zeit gefragt. »Na rate doch mal«, verlangte sie auffordernd. »Ich hätte dich auf Anfang 30 geschätzt. Vielleicht so 32 oder 33 Jahre alt?« Ich wog meinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück. »Fast. Ich bin 34 Jahre alt. Und du?« Ich erwiderte: »Ich bin 36 Jahre alt.« Sie nahm meine Hand.

»Wir sehen uns dann.« Unschlüssig blieben wir wieder voreinander stehen und hielten unsere Hände fest. »Komm gut nach Hause«, flüsterte sie mir zu und gab mir noch einen letzten Kuss. Dann ging sie ins Haus und ich wartete, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann drehte ich mich um und hüpfte die Straße entlang. Ich hätte in diesem Moment Bäume ausreißen und die ganze Welt umarmen können. Wenn mich jetzt jemand sah, dachte er, ich wäre verrückt, dabei war ich einfach nur glücklich.

Der Weg nach Hause verging wie im Flug. Sie wohnte sogar nur einige Straßen entfernt von uns. Ich schloss auf und die Wärme der Wohnung schlug mir entgegen. Ich hatte anscheinend doch ganz schön gefroren, denn mein ganzer Körper kribbelte, als die Wärme mich erreichte und in meinen Körper drang. Ich zog meinen Mantel und meine Schuhe aus und schlüpfte noch unter die Dusche. Dort ließ ich das heiße Wasser über meinen Körper laufen und dachte nach. Nur der Gedanke an Helene verursachte Schmetterlinge im Bauch. Wenn man davon sprechen konnte. Es ging alles so schnell. Aber ich wollte mich nicht beschweren, es fühlte sich richtig an. Ich war natürlich (noch) nicht in sie verliebt, doch trotzdem verursachte sie Herzklopfen in mir. Ich blieb eine ganze Weile unter der Dusche stehen und ließ mich richtig aufwärmen, dann kuschelte ich mich ins Bett und schlief zufrieden ein.

Am nächsten Morgen wachte ich mal wieder richtig schön erholt auf. Was so ein Abend anrichten konnte, dachte ich leicht geschockt. Ich sah auf mein Handy und eine Nachricht von Helene leuchtete auf. »Ich musste gestern Abend noch die ganze Zeit an dich denken.« Mehr nicht. Es war so surreal für mich. Ich konnte nicht begreifen oder verstehen, dass diese Frau mich ernsthaft auch kennenlernen wollte. Ich war völliger Durchschnitt und sie? Sie war eine echte Traumfrau in meinen Augen. »Mir ging es auch so. Ich muss es auch heute noch.« Noch immer fühlte ich mich wie ein Teenager und nicht wie eine erwachsene Frau, fand es aber nicht schlimm. Ihre Nachricht bedeutete mir fiel.

Wir schrieben uns noch weitere Nachrichten. Dann drehte sich der Schlüssel in der Haustür und Jette kam in die Wohnung. »Hey Mama«, begrüßte sie mich und umarmte mich. »Hey, hattest du eine schöne Zeit bei Papa?« Sie nickte. »Ja, wir waren gestern den ganzen Tag in dem Erlebnisbad. Ich hatte noch Karla mitgenommen.« Karla war eine Freundin von ihr aus der Schule. Ich sprach das Thema Paula erst gar nicht an. Sie würden sich schon wieder vertragen. Irgendwann. Vielleicht brauchte es nur etwas Zeit.

»Das klingt doch gut», sagte ich stattdessen. »Und was hast du gemacht?«, fragte sie nach und mir rutschte das Herz in die Kniekehlen. »Nichts. Ich habe gelesen und entspannt.« Sie seufzte. »Du solltest mal wieder ausgehen.« Irritiert sah ich sie an. »Wie meinst du das?« Sie kicherte nun. »Man, Mama. Spaß haben, tanzen gehen, einen Mann treffen. Sowas eben. Papa hat doch auch eine neue Freundin.« Sie hatte kein Problem damit, wenn es einen neuen Mann in meinem Leben geben würde? Wäre sie auch so verständnisvoll, wenn es eine Frau wäre? Noch dazu ihre Lehrerin? Aber davon würde ich ihr erst einmal nichts erzählen. Wir standen noch ganz am Anfang. »Ja, vielleicht«, murmelte ich nur.

Sie räumte ihre getragenen Sachen in die Wäsche und dann machten wir uns einen gemütlichen Abend und sahen unsere Serie weiter. »Kann ich dich mal was fragen?« Ihre Augen waren wachsam auf mich gerichtet und ich fühlte mich komischerweise ertappt. »Na klar. Was denn?« Sie überlegte. »Du bist irgendwie anders heute. Viel fröhlicher. Ist irgendetwas passiert?« Ich schluckte. »Nein, ich habe nur einen guten Tag«, log ich sie an, aber sie glaubte mir. »Dann solltest du des Öfteren einen guten Tag haben.« Dann sahen wir weiter und ich dachte an ihre Worte. Wie viel eine einzige Person ändern konnte von heute auf morgen. Ich fühlte mich tatsächlich anders. Irgendwie lebendiger.

Die Tage vergingen und Helene und ich hatten nur Kontakt über WhatsApp. Ich musste lange im Büro bleiben und bei ihr hatte es nur an den Abenden gepasst, an denen ich nicht konnte. Es war frustrierend. Ich hätte sie gern gesehen. Acht Tage später war der 30. Oktober. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich verspürte so eine Sehnsucht nach ihr. Deshalb beschloss ich, meine Mittagspause auf ihre Freistunde zu legen. Mittlerweile kannte ich ihren Stundenplan etwas. Ich fuhr zu ihr in die Schule. Ich wusste nicht, was sie davon halten würde, aber ich konnte es nicht länger unterdrücken. Ich schlich durch die Schule. Ich wollte nicht, dass Jette mich sah.

Als eine Tür aufging, blieb mir fast das Herz stehen. Herr Meyer kam aus einem leeren Klassenzimmer. Erst sah er mich nicht, doch dann blickte er in meine Richtung und blieb stehen. »Ah, Frau... Rabsch. Richtig?« Ich antwortete: »Ja, genau. Die bin ich.« Ich betrachtete ihn. Er verdrehte Frauen gern den Kopf und ließ nichts anbrennen, vermutete ich. Und ich glaubte auch, dass es bisher immer gut funktioniert hatte. Bis er Helene kennengelernt hatte, denn die hatte kein Interesse an ihm. Ich war schadenfroh. »Wollen Sie zu Jette?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, zu Frau Sturm.« Sofort leuchteten seine Augen. »Ich bringe sie gern hin. Sie hat gerade eine Freistunde und sitzt wahrscheinlich in Raum 203. Sie hat gern ihre Ruhe und im Lehrerzimmer geht es manchmal drunter und drüber.« Er wusste sehr gut Bescheid und das fiel ihm anscheinend selbst auf. Er räusperte sich und wir gingen los.

»Ja, nun. Da sind wir.« Er klopfte und sie rief: »Ja?« Er ging vor und ich konnte mir vorstellen, dass er jede Gelegenheit nutzte, um einen Blick auf sie zu werfen. Was ich ihm nicht verübeln konnte. Überrascht sagte sie: »Oh, Frau Rabsch!« Herr Meyer mischte sich ein und erklärte: »Ich habe sie unterwegs im Flur aufgelesen. Sie wollte mit dir sprechen, deshalb dachte ich, ich führe sie zu dir.« Er grinste sie an und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er auf eine Art Belohnung wartete. »Danke dir«, erwiderte sie etwas kühl und er kratzte sich verlegen am Kopf. »Ich bin dann auch mal wieder weg«, antwortete er, drehte sich um und ging in den Flur. Als er die Tür schloss, sah er sie noch einmal hoffnungsvoll an.

»Du kannst mir erzählen, was du willst, aber der steht total auf dich.« Darauf antwortete sie nicht. Stattdessen fuhr sie mich an: »Was machst du denn hier?« Erstarrt stand ich da. Es war doch keine gute Idee gewesen, sie hier zu besuchen. »Ich... ich wollte dich sehen.« Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Es tut mir leid, ich wollte dich gerade nicht so anfahren. Ich freue mich sehr, dich zu sehen.« Erleichtert atmete ich aus. »Aber?« Sie rollte mit den Augen. »Du hast recht. Herr Meyer lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Ständig schwirrt er um mich herum und ehrlich gesagt... es nervt mich ziemlich. Aber da kannst du nichts für.« Sie stand auf und kam direkt auf mich zu. »Du rettest meinen Tag«, hauchte sie mir zu und ich war wie benebelt. Vorsichtig berührte ich sie an der Schulter mit meiner Hand und spielte mit ihren Haarspitzen umher. Dann nahm sie plötzlich mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich zärtlich. »Genau das habe ich jetzt gebraucht«, flüsterte sie mir zu. Durch ein Klopfen an der Tür fuhren wir auseinander. Dann steckte Jette den Kopf durch die Tür und sah uns beide verwundert an.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt