Kapitel 30

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»Er hat was?!«, brachte Jette geschockt über die Lippen. Paula sah betreten zu Boden. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Was hatten die Mädchen sich dabei nur gedacht? Paula sackte zusammen und fing bitterlich an zu weinen. »Er fand es toll«, flüsterte sie. »Aber dann meinte er, dass er es auch gern auf diversen Seiten im Internet hochladen kann, wenn ich jemandem davon erzähle. Er wollte noch mehr haben.« Das durfte doch nicht wahr sein. Dieses Schwein. Paulas Schluchzer wurden immer größer. Ich stand auf und kniete mich zu ihr nieder. Dann schloss ich sie in meine Arme und versuchte, sie zu beruhigen. »Wir bekommen das alles wieder hin. Mache dir keine Sorgen.« Sie jammerte: »Wenn meine Eltern das erfahren. Oh, Gott.« Natürlich war es für Eltern ein Schock, wenn sie so etwas erfuhren. Aber was brachte es, wenn man dem Kind Vorwürfe machte? Die Kunst bestand darin, dem Kind zuzuhören und beizustehen. Ganz egal, welche Fehler es machte. Beide würden aus diesem Fehler lernen.

»Setze dich doch erst einmal. Herr Steiner wollte gerade die Polizei anrufen.« Sie riss die Augen auf. »Nein, nicht die Polizei. Dann wird er mein Bild veröffentlichen!« Paula hatte so fürchterliche Angst und ich verstand das. Mir würde es wahrscheinlich auch so gehen in ihrer Situation. Aber wir konnten nichts machen. »Es ist notwendig«, erklärte ich ihr und streichelte sanft ihre Hand, die sie nun fest umklammerte. Jette meinte: »Paula, wir waren beide dumm und verliebt. Aber er darf damit auf keinen Fall durchkommen. Was ist, wenn er noch mehr Mädchen erpresst?« Zaghaft nickte Paula. »Ja, du hast ja recht.« Sie schloss die Augen. Sie konnte mit niemandem reden. Jetzt sprach sie es aus und ihre Welt brach zusammen. Es war vollkommen in Ordnung. Es musste raus.

»Wo ist Herr Meyer denn jetzt?«, wollte Helene plötzlich wissen. »Im Unterricht«, antwortete Herr Steiner. »Dann rufen Sie jetzt bitte die Polizei.« Er tat, was sie sagte. Kurze Zeit später kamen ein Polizist und eine Polizistin. Zum Glück nicht die von gestern, dachte ich erleichtert. Wir schilderten ihnen die Lage und sie nahmen das Problem sofort ernst. Immerhin gab es nun nicht nur mehr Jettes Bild, sondern auch Paulas. Und Helenes Aussage hatten wir auch noch. »Wo finden wir ihn denn?«, fragte der Polizist, der eine viel zu tiefe Stimme für sein Äußeres hatte. »Ich führe Sie gern zum Klassenzimmer.« Helene ging ebenfalls mit. »Passe auf dich auf«, raunte ich ihr zu, dann fiel die Tür ins Schloss.

»Er wird jetzt befragt und die Beweislage ist eindeutig. Er hat dein Bild sicherlich noch abgespeichert«, meinte ich und sie fragte Jette: »Und deins doch auch, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, meins nicht mehr. Ich habe es gelöscht. Lange Geschichte.« Sie winkte ab. »Er wird gar keine Chance haben, um dein Bild zu veröffentlichen.« Ich wollte meinen Worten so gern Glauben schenken und hoffte, dass alles gut verlief. Plötzlich hörten wir Schritte auf dem Gang. Schnelle Schritte. Sie wurden immer lauter. Dann sprang die Tür auf und Helene sah uns entsetzt an. Sie war völlig außer Atem.

»Was ist passiert?«, fragte ich und man hörte die Panik in meiner schrillen Stimme. Sie schnaufte. »Er ist... Er ist nicht zum Unterricht gekommen. Die Polizei fahndet nun nach ihm.« Neben mir fing Paula an zu schreien: »Nein, das darf nicht wahr sein!« Ich sackte im Stuhl zusammen. »Er muss den Braten gerochen haben«, meinte Helene, die noch immer schwer atmete. »Paula, wir müssen mit deinen Eltern reden. Auch wenn es schwer ist, sie müssen davon wissen.« Traurig und niedergeschlagen nickte sie. »Was heißt das jetzt?«, fragte Jette leise. »Die Polizei sucht nach ihm. Sie werden ihn finden. Und dann wird die Polizei ihn festnehmen. Hoffe ich. Ich weiß doch auch nicht, wie so ein Verfahren abläuft«, antwortete ich und schluckte schwer.

Wir informierten Paulas Eltern, die sofort ihre Arbeit verließen und zur Schule kamen. In Paulas Augen sah man große Angst. Und Scham. Sie traute sich nicht, ihre Eltern anzuschauen. Aber ihre Sorge war unbegründet. Sie reagierten toll. Nahmen ihr Kind in die Arme und man sah Paula an, wie eine tonnenschwere Last von ihr abfiel. Dann klopfte es an der Tür. Der Polizist steckte erst seinen Kopf durch und betrat dann das Zimmer. »Tut mir leid für die Störung, aber wir müssen Ihre Aussagen aufnehmen. In der Dienststelle.« Ich nickte und erwiderte: »Geben Sie uns noch fünf Minuten. Wir werden dann sofort aufbrechen.« Wir teilten uns auf die Autos auf, dann fuhren wir los.

Jeder machte seine Aussage und am Ende stand zum Glück fest, dass er sich auf jeden Fall mehrfach strafbar gemacht hatte. Er würde nie wieder als Lehrer arbeiten können. Dass er nun anscheinend geflüchtet war, wirkte sich unterstützend auf unsere Aussagen aus. Man sagte uns nichts Genaues, aber er konnte wohl mit einer Geldstrafe und einer Freiheitsstrafe rechnen. Sein Handy hatte man in seinem Fach in der Schule gefunden. So konnten wir Paulas Bild ebenfalls löschen. Nur stand noch immer die Frage im Raum, ob es Kopien gab. Das wusste nur Herr Meyer alleine.

Als wir die Dienststelle verließen, waren wir alle ausgelaugt. Die Aussagen hatten uns zugesetzt. Eine Weile standen wir alle einfach nur da. Niemand sagte ein Wort. »Gut, es ist wohl besser, wenn wir alle nach Hause fahren. Wir können nichts machen. Ihn zu suchen bringt uns nichts. Die Polizei wird sich darum schon kümmern«, sagte Paulas Papa. Scheiße. Ich hatte Philipp von all dem noch nichts erzählt. Aber er musste es doch wissen, oder? Ich nahm Jette zur Seite. »Ich weiß, es ist gerade alles total schwer. Aber wir müssen es Papa sagen.« Sie nickte. »Ja, das müssen wir wohl. Kannst du das für mich machen?«, fragte sie flehend. »Natürlich kann ich das machen.« Ich wusste, dass es ihr unendlich peinlich und unangenehm war.

Wir fuhren zu uns nach Hause. Jette, Helene und ich. Ich ließ die beiden in der Küche zurück und ging ins Wohnzimmer. Er war gerade arbeiten, aber ich musste es ihm jetzt sagen. Ich wählte seine Nummer und es klingelte. Mehrere Male. Er nahm nicht ab. »Ja?«, fragte er plötzlich. »Hey Philipp, ich muss mit dir reden. Hast du gerade Zeit?« Er räusperte sich. »Ich stecke gerade in einem Meeting. Ist es etwas Wichtiges?«, wollte er wissen. »Es geht um Jette.« Einen Moment war es ruhig in der Leitung. »Warte kurz.« Er hatte den Anruf auf stumm gestellt und kurze Zeit später war er wieder da. »So, ich habe den Meetingraum verlassen. Ist etwas passiert?« Ich hörte die Sorge in seiner Stimme. Dann erklärte ich ihm alles. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit.

»Geht es ihr denn gut? Geht es dir gut? Soll ich vorbeikommen?« Gott, dieser Mann würde alles für seine Tochter tun. »Uns geht es den Umständen entsprechend gut. Wir werden uns jetzt alle etwas ausruhen. Ich melde mich, wenn es Neuigkeiten gibt.« Er erwiderte: »In Ordnung.« Gerade als ich auflegen wollte, hielt er mich zurück: »Ach, Hanna? Ich wusste doch, dass Jette das mit dir und Helene gut aufnehmen würde.« Dann war die Leitung tot. Den restlichen Tag verbrachten wir zu Hause und ich kümmerte mich um Jette. Mehr als abwarten konnten wir nicht. Dann klingelte plötzlich mein Handy. Es war Paulas Mutter. »Ist Paula bei euch?« Ihre Stimme war alarmierend. »Nein, warum sollte sie? Sie ist doch mit euch nach Hause gefahren?« Ich hörte sie schluchzen. »Ja, aber sie ist verschwunden. Ich weiß nicht, wann es passiert ist. Oh, Gott. Ich wollte gerade nach ihr sehen, aber sie war nicht mehr da.« Ich wollte gerade antworten, doch dann erhielt Helene wieder eine Nachricht von der unbekannten Nummer, die Herrn Meyer gehörte. Sie klickte sie an.

Wir konnten lesen: »Du hast mich verarscht. Nun wirst du es bereuen.« Ein Bild wurde mitgeschickt. Sie klickte auf den Anhang und mein Herz blieb stehen. Auf dem Bild war Paula zu sehen. Sie lag auf einer Matratze. Es sah aus, als würde sie schlafen. Aber wir wussten: Sie war bewusstlos. Und ihre Stirn blutete.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt