Kapitel 24

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»Was macht DIE denn hier?«, fauchte Jette in einem knurrenden Ton, den ich so von ihr nicht kannte. Ich war so geschockt, dass ich nichts sagen konnte. Auch Helene sah mich entgeistert an, fand aber schnell ihre Fassung wieder. Herr Meyer drehte sich um. Wahrscheinlich wollte er wissen, wen Helene anstarrte. Sie kamen auf uns zu. »Oh, hallo Jette«, flötete Herr Meyer munter in Jettes Richtung. »Hallo«, flüsterte sie leise. Er nickte mir kurz zu. Ich wollte Helene fragen, was sie mit ihm hier machte. Aber was sollte ich sagen? Es ging mich rein theoretisch nichts an. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit vor anderen Menschen.

»Macht ihr auch einen Spaziergang?«, fragte er Jette und die nickte nur. Ihr Gesicht war rot. Ich wusste, dass es nicht an der Temperatur lag, sondern an Herrn Meyer. Helene öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Dann sagte sie schließlich doch: »Wir haben uns hier zufällig getroffen. Witzig, oder?« Ihre Stimme klang nervös und etwas hysterisch. Konnte ich ihr das glauben? Sie hatten sich »zufällig« hier getroffen? Er räusperte sich. »Gut, wir werden dann mal weiter. Wir sehen uns in der Schule.« Mit diesen Worten verabschiedete er sich und sie folgte ihm. Mir war richtig übel. Es gab eigentlich keinen Grund für mich, eifersüchtig zu sein. Sie liebte mich doch, oder? Ich war mir sicher. Aber trotzdem ertrug ich es nicht, sie mit ihm zu sehen. Jedes Mal versetzte es mir einen heftigen Stich. Einen Moment blieb ich angewurzelt stehen, dann forderte ich Jette auf, sich zu setzen.

Ihr Blick war finster. Von ihrer guten Laune war nichts mehr zu spüren. Sollte ich das Treffen ansprechen? Ich entschied mich dafür. Aber als ich etwas sagen wollte, fiel sie mir schon ins Wort: »Was findet er nur an Frau Sturm? Wie er sie anschaut... Also ja, sie ist hübsch. Aber so hübsch, dass er völlig verrückt nach ihr ist?« Ich wollte ihr sagen, dass Helene die schönste Frau der Welt war, aber im letzten Moment hielt ich mich zurück. »Weißt du, man sucht sich nicht aus, in wen man sich verliebt. Sowas passiert einfach.« Sie seufzte. »Mir ist der Appetit vergangen«, erklärte sie und gedanklich stimmte ich ihr zu. Ja, mir auch. Wir bestellten beide eine heiße Schokolade und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Dann brach sie plötzlich die Stille: »Was soll ich nur machen?« Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und ihre Hände zitterten. »Ich kann diese blöden Gefühle einfach nicht abstellen. Das macht mich verrückt.« Ich nahm ihre Hand, sprach ihr gut zu. Ich konnte nachempfinden, wie sie sich fühlte. »Es tut mir leid, Jette. Ich habe es schon einmal gesagt, aber glaube mir, irgendwann kommt ein Junge, der vielleicht auch in deinem Alter ist. Und der haut dich um.« Sie sah mir in die Augen. »So wie bei dir? Willst du überhaupt irgendwann einen neuen Mann?« Es klang etwas vorwurfsvoll. Ich schnappte nach Luft. Der plötzliche Themenwechsel überrumpelte mich. Sollte ich es ihr jetzt sagen? Nein, das ging nicht. Das war der wohl schlechteste Moment, den ich mir dafür hätte aussuchen können. »Alles zu seiner Zeit.«

»Können wir nach Hause fahren? Ich fühle mich nicht so gut«, bat sie und ich bezahlte unsere Getränke. Im Auto murmelte sie: »Wären wir doch bloß nicht gefahren.« Ich antwortete: »Du konntest doch nicht wissen, dass er auch da...« Ich stockte und sie sah zu mir auf. »Wusstest du, dass er da sein würde?« Sie riss die Augen auf und ein seltsamer Ausdruck machte sich in ihrem Gesicht breit. »Vielleicht«, gab sie zu und ich schloss für einen Moment die Augen. Na super. Ich dachte, sie würde mal wieder einen schönen Tag mit mir verbringen wollen, dabei wollte sie nur Herrn Meyer sehen. Ich atmete tief ein und aus. »Ja, ok. Ich wusste es. Ich wusste, er würde am Nachmittag am Strand sein. Er hatte es die Woche im Unterricht erzählt, aber ich wusste nicht, dass er mit Frau Sturm fahren würde.« Ich räusperte mich. »Die sind auch nicht zusammen gefahren. Sie hat doch gesagt, sie haben sich dort zufällig getroffen.« Sie lachte bitter auf. »Natürlich hat sie das gesagt. Zwischen den beiden läuft doch was, ich bin nicht blind. Sie wollen es nur verheimlichen. Ich wünschte, sie wäre nie hergezogen.«

Mir fehlten die Worte. Ihre Aussage traf mich und gab mir nicht gerade Mut, ihr von unserer Beziehung zu erzählen. Ich fand es heftig, wie unterschiedlich wir es empfanden. Für mich bedeutete ihr Umzug sehr viel. Im positiven Sinne. Würde es ihr besser gehen, wenn ich ihr anvertrauen würde, dass Helene lesbisch war? Dann würde sie aber fragen, woher ich das wusste und wie sollte ich das erklären? War das alles kompliziert. »Verdammt«, schimpfte ich und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Sie wurde sofort feuerrot. Geschockt sah Jette mich an. »Alles in Ordnung?«, fragte sie irritiert. Ich schämte mich für meinen kurzen Gefühlsausbruch. »Ja. Ja, alles gut.« Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter dazu. Normalerweise outeten sich die Kinder immer bei den Eltern. In diesem Fall war es andersrum und ich merkte, wie schwer es tatsächlich war. Man fragte sich stets und ständig, wie der andere es aufnehmen würde. Konnte sie es wirklich akzeptieren?

Als wir zu Hause ankamen, war ich innerlich total unruhig. Ich bereitete das Abendessen vor, aber wir aßen beide nur eine Kleinigkeit. Ich hielt es nicht länger aus. Ich musste unbedingt mit Helene sprechen. Nachdem ich die Spülmaschine eingeräumt hatte, fasste ich den Entschluss. Ich klopfte bei Jette an der Tür. »Jette? Ich bin noch einmal kurz unterwegs.« Sie stellte keine Fragen, sondern erwiderte einfach nur: »Gut.« Ich schnappte mir meinen Autoschlüssel und fuhr los. Ich hatte keine Lust mehr auf Laufen. Der Spaziergang hatte mir für heute gereicht. Als ich das Auto etwas abseits parkte, fragte ich mich zum ersten Mal, ob sie überhaupt alleine war. Hätte ich anrufen sollen? Aber als ich zur Tür sah, hatte ich meine Antwort.

Helene wollte gerade die Tür aufschließen, da sprang Herr Meyer aus seinem Auto. Ich konnte ihren überraschten Gesichtsausdruck erkennen. Er sprach mit ihr und sie runzelte die Stirn. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Dazu war ich zu weit entfernt. Er fuchtelte mit seinen Händen in der Luft umher und nahm ihre Hand. Ich krallte meine Finger um das Lenkrad. Warum fasste er sie an? Warum erlaubte sie ihm das? Ich war stinksauer. Doch dann passierte etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte. Erst dachte ich, ich hätte mich verguckt. Aber nein, er küsste sie tatsächlich. Auf den Mund. Und... Sie wehrte sich nicht!

Meine Welt brach zusammen. Ich hatte wirklich gedacht, dass sie die Frau an meiner Seite war. Für immer. Und nach zwei Tagen Beziehung ging sie mir fremd? Als ich das nächste Mal hinsah, war sie im Hausflur verschwunden und er stieg gerade ins Auto. Er ließ die Reifen quietschen und fuhr los. Ich konnte es nicht glauben. Das war ein schlechter Traum. Hatte Jette doch recht behalten? Fuhr sie etwa zweitgleisig? Ich konnte es mir absolut nicht vorstellen, aber ich hatte es doch mit meinen eigenen Augen gesehen. Tränen liefen an meinen Wangen hinunter. Ich konnte es nicht zurückhalten. Es ergab alles keinen Sinn. War ich nur ihre Eroberung gewesen? Ihre Trophäe? Hatte das alles nichts zu bedeuten?

Ich musste mit ihr sprechen. Ich schnaubte meine Nase und wischte mir das Gesicht trocken. Dann stieg ich aus und ging mit wackeligen Beinen auf ihr Haus zu. Mein Herz klopfte wild. Aber ich musste sie konfrontieren. Ich drückte auf die Klingel und sie meldete sich mit: »Hallo?« Ich hatte das Gefühl, sofort weinen zu müssen, wenn ich zu viele Worte nutzen würde. »Ich bin es, Hanna.« Sie drückte sofort auf. Ich ging nach oben und der Weg kam mir endlos lang vor. Als sie die Tür öffnete, sah sie mich entgeistert an. »Was ist passiert? Warum hast du geweint?« Ich starrte sie nur an. »Du hast es gesehen?«, flüsterte sie leise. Ich nickte stumm. Dann brach Helene in Tränen aus. »Es tut mir so leid, Hanna.«

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt