An diesem Tag verließ ich das Büro etwas früher als sonst. Ich musste noch einige Besorgungen machen und Lebensmittel einkaufen. Ich hasste es. Aber wer sonst sollte für mich einkaufen fahren? Welche Option blieb mir? Ich beeilte mich dabei. Dann war es erträglicher. Jette konnte immer stundenlang durch den Laden schlendern, deshalb fragte ich sie schon gar nicht mehr, ob sie mitkommen wollte.
Etwas verschwitzt schleppte ich die Einkaufstüten nach oben. Wir wohnten zwar nur in der zweiten Etage, aber draußen war es sehr warm und langsam reichten mir diese Temperaturen. Jette war schon zu Hause. Ich rief nach ihr, aber sie hörte nicht. »Jette!«, rief ich lauter. »Hilf mir mal bitte mit dem Einkauf!« Aber sie ignorierte mich. Ich hörte sie reden. Telefonierte sie? Ich ging den Flur entlang und blieb vor ihrem Zimmer stehen. Die Tür war einen Spalt breit offen. »Aber sie hat doch angefangen«, hörte ich sie sagen. Ich wollte sie nicht belauschen. Deshalb drehte ich mich um und wollte gehen, doch dann hörte ich sie sagen: »Das hat sie doch verdient und es ist mir egal, was Frau Sturm sagt.« Ich blieb stehen. Sie hatte nun meine volle Aufmerksamkeit. »Wer weiß, was sie meiner Mutter erzählt. Die spinnt doch.« Kurze Pause. »Nein, keine Ahnung, wann die den Termin haben.«
Dann entfernte ich mich doch von ihrer Tür. Was war nur mit mir los? Warum belauschte ich meine eigene Tochter? Ich schüttelte den Kopf. Als ich den Einkauf ausräumte, kam Jette ins Zimmer. »Hast du mit Frau Sturm gesprochen?«, fragte sie neugierig. Ich antwortete nicht. »Hallo?« Eigentlich wollte ich es nicht sagen, aber ich tat es trotzdem: »Warum sollte ich dir antworten? Du tust es doch auch nicht, wenn ich dich etwas frage.« Sofort bereute ich meine Worte und fügte hinzu: »Ja, ich habe mit ihr telefoniert. Sie scheint sehr nett zu sein.« Sie zog die Augenbrauen nach oben.
»Dann musst du sie mal kennenlernen. Die spinnt total und nervt nur rum. Sie denkt, sie kann die Welt verbessern und alles ist toll und schön.« Jetzt sah ich sie an. »Und das ist schlimm?«, wollte ich wissen. Sie zuckte mit den Schultern. »Schon. Irgendwie. Ich wollte dich übrigens noch etwas fragen.« Ich unterbrach das Ausräumen und blickte sie fragend an. »Kann ich das Wochenende über zu Papa fahren? Das letzte ist ja ausgefallen und ich würde ihn gern mal wieder besuchen. Es läuft ein neuer Film im Kino, den wollen wir zusammen anschauen. Also er, Marie und ich.« Ich antwortete: »Natürlich kannst du das. Er und Marie machen aber viel zusammen. Sind sie jetzt ein Paar?« Sie betrachtete mich mit einer unergründlichen Miene. »Ich glaube schon«, meinte sie. »Stört es dich etwa?« Ich schnappte kurz nach Luft. »Mich stören? Nein, wie kommst du darauf? Wir sind schon seit fast zwei Jahren getrennt. Ich freue mich für ihn, wenn er wieder glücklich ist und eine neue Partnerin gefunden hat. Wirklich.« Sie nickte nur und ging dann in ihr Zimmer zurück.
Am Abend las ich einfach mal wieder ein Buch. Das hatte ich schon ewig nicht mehr getan. Zeit für mich. Das war es, was ich in diesem Moment brauchte. Es klopfte an meiner Schlafzimmertür und Jette steckte den Kopf ins Zimmer. »Ich gehe jetzt ins Bett.« Ich winkte sie zu mir und gab ihr einen Stirnkuss. »Dann schlaf gut.« Kurz streichelte ich ihr über den Arm, dann drehte sie sich um und wollte gehen. Doch plötzlich stockte sie. »Wann triffst du dich eigentlich mit Frau Sturm?«, fragte sie nach und ich erwiderte: »Ich treffe mich morgen um 16 Uhr mit ihr. Wieso?« Sie drehte sich wieder um und nuschelte: »Ach, nur so.« Dann war sie verschwunden und kurze Zeit später schlief ich ein.
Als ich am nächsten Morgen im Büro ankam, ging alles schief, was schief gehen konnte. Erst klemmte ich mir den Daumen zwischen Tisch und Stuhl ein, dann blieb ich an der Türklinke hängen und als wäre das nicht schon schlimm genug, kippte ich mir kurz vor Feierabend meinen Kaffee über die Bluse. Und nicht zu vergessen: Das Vorstellungsgespräch lief nicht gut. Ich brauchte ganz dringend Verstärkung in meiner eigenen Abteilung, aber es gab keine passenden Bewerber. Unter Fluchen fiel mir ein, dass ich gleich noch den Termin mit Frau Sturm hatte. Also packte ich schnell meine Sachen zusammen, um mich zu Hause noch umzuziehen.
Als das erledigt war, fuhr ich zur Schule. Keine Ahnung, warum ich mich so... anders fühlte. Es war doch nur ein Elterngespräch. Keine große Sache. Ich stellte das Auto auf dem Parkplatz ab und betrat das Gebäude. Es war leer. Niemand war zu sehen. Ich ging den Gang entlang und hörte meine eigenen Schritte. Das war unheimlich. Fast lief ich am Raum vorbei, bekam aber noch rechtzeitig die Kurve. Ich atmete tief durch, dann klopfte ich an der Tür und ihre sanfte Stimme rief: »Ja, kommen Sie rein!«
Als ich den Raum betrat, stand Frau Sturm gerade auf und kam auf mich zu. Ihre blonden Haare waren schulterlang und ihre Augen waren smaragdgrün. Sie hatte ein strahlendes und offenes Lächeln. Ich schätzte sie auf Anfang 30. Vielleicht war sie 32 oder 33 Jahre alt. Ich selbst war 36 Jahre alt. Sie trug ein Kleid, was ihr ausgezeichnet gut stand. Das war mein erster Eindruck von ihr. Durch meinen Beruf hatte ich ein gutes Gespür für Menschen und konnte Jettes Worte nur bestätigen. Sie wirkte sehr lieb und sympathisch und ich konnte mir vorstellen, dass sie immer alles richtig machen und die Welt verbessern wollte. Aber ich glaubte auch, dass sie eine andere Seite hatte. Eine geheimnisvolle, leidenschaftliche und rebellische Seite. Ihre Art empfand ich als sehr erfrischend.
»Hallo Frau Rabsch. Schön, dass Sie gekommen sind.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen und ich griff nach ihr. »Ich habe doch keine Wahl, oder?«, antwortete ich verschmitzt. »Wenn das alle Eltern nur so sehen würden«, warf sie seufzend in den Raum und wir setzten uns. Ich fühlte mich an meine Schulzeit zurückerinnert und sah mich um. »Ist ein komisches Gefühl, was?« Sie sah mir tief in die Augen und ich fühlte mich irgendwie ertappt. »Ja, ich weiß auch nicht. Wenn ich bedenke, wie viele Jahre ich hier selbst die Schulbank gedrückt habe, wie man so schön sagt.« Sie nickte wissend. Dann stimmte sie mir zu: »Ja, ich selbst kenne das auch. Manchmal ist es für mich auch seltsam, dass ich nun die andere Seite bin. Nicht mehr die Schülerin aus der letzten Reihe, sondern die Lehrerin.« Aus der letzten Reihe? Interessant.
»Nun ja, weshalb ich Sie eigentlich zu einem Gespräch eingeladen habe, wissen Sie ja. Hat Jette schon etwas erzählt zu Hause?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe nachgefragt, aber sie hat mir nichts verraten. Gar nichts. Was hat sie angestellt?« Erstaunt sah sie mich an. »Warum denken Sie, sie hat etwas angestellt?« Ich antwortete: »Sie werden mich doch nicht zu einem Gespräch einladen, wenn alles super wäre, oder? Außerdem kenne ich meine Tochter, im letzten Schuljahr gab es schon einige Probleme mit ihr. Eigentlich dachte ich, wir haben diese Phase überwunden, aber anscheinend nicht.« Ich atmete aus. Sah ihr dabei direkt in die Augen, die wunderschön leuchteten, wenn sie redete. Dann sprach sie aus, was ich niemals von Jette erwartet hatte und in mir türmten sich viele Fragen gleichzeitig auf.
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Herzgeflüster || gxg
RomanceHanna ist eine alleinerziehende Mutter. Ihre Tochter Jette steckt mit ihren 14 Jahren mitten in der Pubertät und ständig gibt es Ärger in der Schule. Am Anfang des Schuljahres prügelt sie sich auf dem Pausenhof und ihre Lehrerin, die Hanna noch nich...