Kapitel 9

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»Oh, Frau Sturm. Mit Ihnen habe ich jetzt nicht gerechnet.« Ich war total erstarrt und konnte nichts sagen. Helene fand schnell ihre Fassung wieder und dafür bewunderte ich sie. »Ja, ich habe nur kurz mit deiner Mutter gesprochen.« Sie sah mich an und ich musste schlucken. »Gut, ich werde dann mal gehen. Wir sehen uns in der Schule, Jette.« Dann streckte sie mir die Hand entgegen. Ich nahm sie und sie drückte leicht zu: »Bis bald.« Dann war sie verschwunden und ließ mich mit meinen Gefühlen alleine zurück. Was wäre passiert, wenn Jette nicht gekommen wäre? Hätten wir uns dann geküsst? Wollte sie es überhaupt oder hatte ich in die Situation zu viel hineininterpretiert?

»Worüber habt ihr gesprochen?«, wollte Jette neugierig wissen. Ich winkte ab. »Nur kurz über die Eishalle. Ich hatte sie zufällig vor der Tür getroffen.« Sie zuckte mit den Schultern und meinte: »Hm, ok. Ich bin in meinem Zimmer.« Als Jette die Tür hinter sich schloss, blieb ich noch eine Weile regungslos im Flur stehen. Ich schloss die Augen und dachte an den Moment zurück. Ich war mir sicher. Sie wollte mich auch küssen. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich mir schon nicht mehr so sicher. Verdammt. Alles, was ich wusste, war, dass ich nichts lieber getan hätte. Ich hätte sie so gern geküsst.

Aber seit wann stand ich auf Frauen? Stand ich überhaupt auf Frauen? Oder war sie mir einfach nur sehr sympathisch? Aber warum sah ich ihr dann nach und wollte ihre Lippen auf meinen spüren? Immer wieder sah ich sie und ihre perfekt geformten Lippen. Aber konnte es sein? Interessierte sie sich für mich? Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber wenn ich ehrlich zu mir war, dann wünschte ich es mir. Ich brauchte Ablenkung. Deshalb kümmerte ich mich um das Abendessen. »Jette, kommst du?«, rief ich durch die Wohnung und kurze Zeit später saßen wir am Tisch und aßen.

»Ich freue mich schon auf die Eishalle«, begann Jette das Gespräch und sie ahnte gar nicht, wie sehr auch ich mich freute. Aber nur, weil ich Helene dann nah sein konnte. Der Name passte irgendwie zu ihr. In Gedanken wiederholte ich ihn mehrere Male. »Ja, ich bin schon ewig nicht mehr gelaufen, aber das wird schon.« Sie musste lachen. »Herr Meyer und Frau Sturm sind übrigens kein Paar.« Mit aufgerissenen Augen sah Jette mich an. Warum hatte ich das gesagt? Es war ihr doch egal. Oh, Gott. Erst überlegen, dann sprechen, dachte ich. »Woher weißt du das?«, fragte sie nach und ich antwortete: »Ich habe mit ihr gesprochen. Und sie meinte, sie wären nur Kollegen.« Jette wollte etwas antworten, aber schloss dann wieder den Mund. Erwartungsvoll sah ich sie an, aber sie wechselte das Thema. »Wollen wir vielleicht endlich mal die Serie »Die Brücke« anfangen? Das haben wir bisher immer noch nicht geschafft.« Das stimmte. Wir hatten es uns immer vorgenommen, aber nie angesehen.

Deshalb räumten wir nach dem Essen alles auf und gingen mit einer Kanne Tee ins Wohnzimmer. Wir fingen an zu schauen und sofort fand ich die Serie sehr fesselnd. Es ging um die berühmte Öresund-Brücke. Ein Stromausfall hatte die Verbindung zwischen Dänemark und Schweden in Dunkelheit gehüllt. Kurz darauf wurde eine tote Frau mitten auf der Brücke gefunden. Bei näherer Untersuchung ergab sich, dass die Leiche in der Mitte zusammengenäht wurde, und eigentlich von zwei Frauen stammte. Da Staatsbürger aus beiden Ländern betroffen waren, ermittelten die schwedische Kommissarin Saga Norén und ihr dänischer Kollege Martin Rohde gemeinsam.

Im Vorfeld informierte ich mich gern über Serien. So auch in diesem Fall. Was man vielleicht nicht sofort wusste, war, dass Saga vom Asperger-Syndrom betroffen war, was die Serie noch spannender machte und ich hatte gelesen, dass sie eine Narbe auf der Oberlippe hatte und das ausgerechnet von einem Fahrradunfall auf einer Brücke. Deshalb musste ich einfach einschalten, aber genug davon.

Irgendwann musste Jette eingeschlafen sein. Es war schon relativ spät. Ich weckte sie sanft und verschlafen öffnete sie die Augen. »Hast du ohne mich weitergeguckt?«, murmelte sie mir zu und ich antwortete: »Nein, natürlich nicht. Ich schaue doch nicht alleine weiter.« Beruhigt nickte sie und die Augen fielen ihr fast schon wieder zu. »Los, komm. Wir gehen Zähne putzen und dann ab ins Bett. Nur noch morgen, dann ist Wochenende.« Langsam setzte sie sich auf und gähnte. Dann rieb sie sich die Augen und stand auf. Wir putzten beide zusammen Zähne und ich musste daran denken, dass wir es früher auch immer getan hatten. Als sie noch klein war. Nun war sie schon 14 Jahre alt und steckte mitten in der Pubertät, was manchmal gar nicht so einfach war für mich.

Ich ging noch kurz mit in ihr Zimmer. Sie legte sich ins Bett und ich deckte sie liebevoll zu, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter ihr Ohr. Ihre Haare waren aber auch lang geworden und so langsam wurde sie immer fraulicher. Immer erwachsener. »Was hast du?« Ihr Blick war forschend. »Ich habe nur gerade daran gedacht, wie groß du geworden bist. Du warst gerade noch mein kleines Mädchen und jetzt?« Verschmitzt grinste sie mich an. »Jetzt bin ich eben dein großes Mädchen.« Ich nickte und in diesem Moment war ich so voller Liebe und Glück, dass ich hätte weinen können. »Gute Nacht, schlaf schön.« Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte sanft: »Ich liebe dich.« Flüsternd antwortete sie: »Ich dich doch auch, Mama.« Dann verließ ich das Zimmer und schaltete das Licht aus.

Als ich in meinem Bett lag, war es 23:22 Uhr. Und ich konnte mal wieder nur an Helene denken und wie moralisch verwerflich es von mir war, oder? Immerhin unterrichtete sie meine Tochter. Das bereitete mir Bauchschmerzen, aber wenn ich an diesen Fast-Kuss dachte, spürte ich förmlich die Schmetterlinge in meinem Bauch, wie man so schön sagte. Sollte ich ihr schreiben? Aber was genau wollte ich damit bezwecken? Am Ende würde sie noch denken, ich sei anhänglich. Das wollte ich doch auch nicht. Warum war das nur so kompliziert? Wie verhielt man sich in dieser Situation? War es nicht eigentlich schon zu spät?

Ich öffnete WhatsApp und klickte auf ihren Chat. Sie war das letzte Mal nach unserem Treffen online gewesen. Ich fing an zu tippen: »Hallo Helene, der Nachmittag mit dir war sehr schön.« Ich schüttelte den Kopf und schloss den Chat. Aber auch das ließ mir keine Ruhe. Ich konnte mich nicht entscheiden. Wieder öffnete ich den Chat und fing neu an: »Hallo Helene! Ich wollte dir nur sagen, dass ich die Zeit mit dir schön fand.« Ich verdrehte die Augen. Was war nur mit mir los? Ich wurde wütend auf mich selbst und tippte ein: »Und außerdem hätte ich dich gern geküsst. Verdammt. Warum machst du es mir so schwer? Warum kommst du nicht einfach online und schreibst mir?« Natürlich schickte ich die Worte nicht ab, aber als ich sie eintippte, kam sie tatsächlich online und vor Schreck ließ ich mein Handy fallen. Auf mein Gesicht. Ich achtete nicht auf die Schmerzen. Ich ignorierte sie. Nein, dachte ich panisch und hob es sofort wieder auf. Hatte ich den Text jetzt abgeschickt? Puh, nein. Zum Glück nicht. Ich entfernte ihn schnell und mein Herz machte einen Aussetzer. In unserem Chat stand nun »Helene schreibt...«. Ich klickte den Home-Button meines IPhones, sperrte das Handy und warf es auf die andere Bettseite. Wollte ich wissen, was sie schrieb? Dann vibrierte es plötzlich und regungslos lag ich da und starrte in die Dunkelheit.

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt