Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Mein Atem ging stoßweise und ich schwitzte am ganzen Körper. Na super, dachte ich genervt. Ich versuchte, mich zu bewegen, aber mein Körper war wie gelähmt. Krampfhaft dachte ich an den Traum, aber ich konnte mich nicht erinnern. Er war einfach weg. Eine Weile blieb ich noch flach im Bett liegen, bis meine Muskeln sich entspannten und ich aufstehen konnte. Mehr oder weniger. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Sie wollten mir nicht gehorchen. Ich schlich langsam in die Küche und trank ein ganzes Glas Wasser mit schnellen Zügen. Mir war noch immer heiß und deshalb stellte ich mich an das offene Küchenfenster und sah in die Nacht hinaus.
Sofort kamen die Erinnerungen an gestern Abend zurück. Ich verstand es nicht, ich verstand mich nicht. Ich musste unbedingt Abstand gewinnen. Diese ganze Sache tat mir nicht gut. Sie brachte alles nur durcheinander. Ich verbannte sie aus meinen Gedanken. Wenigstens für den Moment. Ich blieb noch eine Weile stehen und genoss die kühle Brise, die mich erreichte. Dann schloss ich das Fenster und ging zurück ins Schlafzimmer und legte mich ins Bett. Ich konnte noch etwas schlafen. Kurze Zeit später war ich auch schon wieder eingeschlafen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wieder einmal ausgelaugt. Warum hatte ich das momentan nur so oft? Zum Glück kam heute Frau Lutz zum Probetag vorbei und ich hoffte, dass alles klappte. Ich frühstückte mit Jette und sie fragte: »Kannst du mich zur Schule fahren?« Sonst fragte sie mich nie. Sonst war sie immer froh, wenn ich es nicht tat. »Ja, natürlich kann ich das machen.« Als ich alles in die Spüle stellte, holte Jette ihren Rucksack und dann fuhren wir los. Unterwegs dachte ich schon wieder an Frau Sturm. Hoffentlich begegneten wir uns nicht. Aber als ich Jette absetzte, war meine Sorge unbegründet. Von ihr war weit und breit nichts zu sehen. Obwohl ich sie nicht sehen wollte, war ich enttäuscht. Irgendwie hätte ich ihr bezauberndes Lächeln doch gern gesehen. Ich seufzte. Jette sah mich von der Seite an. Ich konnte ihren Blick förmlich auf meiner Haut spüren.
»Ich wollte dir noch sagen, dass ich froh bin, dich zu haben. Danke für alles. Ich könnte mir keine bessere Mama vorstellen.« Dann verließ sie das Auto und knallte die Tür zu. Normalerweise würde ich ihr jetzt eine Predigt halten, dass es kein Trabbi war, aber ihre Worte hatten mich sprachlos gemacht. Ich musste mir die Tränen verkneifen und fuhr weiter ins Büro. Ich stellte das Auto ab und ging in das Gebäude. Meine Tasche stellte ich ab und fuhr gerade den PC hoch, da klopfte es. »Ja?« Frau Lutz trat ein. »Ach, guten Morgen.« Ich sprang auf und begrüßte sie. Sie lächelte mich zaghaft an. »Guten Morgen.« Ich zog einen weiteren Stuhl an den Schreibtisch und wir setzten uns. Wir gingen einige Dinge durch und am Ende des Tages hatte ich ein gutes Gefühl. Sie passte gut in meine Abteilung.
»Ich würde sagen, wir telefonieren die Woche noch einmal. Dann können Sie sich überlegen, ob es Ihnen hier zusagt oder nicht, in Ordnung?« Sie nickte glücklich und ich wurde das Gefühl nicht los, bald eine zuverlässige Mitarbeiterin zu haben. Auf dem Parkplatz trennten sich unsere Wege. Sie stieg in ihr Auto und ich in mein Auto. Wir winkten uns noch einmal zu und dann fuhr ich los. Jetzt auf dem Rückweg hatte ich wieder Zeit nachzudenken und meine Gedanken machten sich selbstständig und ich dachte an Frau Sturm. Ich schüttelte den Kopf, um sie dort rauszuschütteln, was natürlich völliger Quatsch war.
In den nächsten drei Wochen passierte nichts. Ich hatte Frau Sturm nicht gesehen seit der Sache im Club und gesprochen hatten wir auch nicht mehr. Doch trotzdem konnte ich die Gedanken nicht abstellen. Das war verrückt. Jette verhielt sich anscheinend normal in der Schule, was gut war. Wir hatten nicht weiter über den Jungen gesprochen, aber ich wusste, dass sie sich abends oft in den Schlaf weinte, was mir das Herz zerbrach. Mittlerweile hatte es sich draußen ziemlich abgekühlt. Das kam sehr plötzlich, wie ich feststellte. Heute war Mittwoch. Wir hatten den 18. Oktober und ich kam am frühen Abend relativ gut gelaunt nach Hause. Frau Lutz hatte sich für den Job entschieden und machte sich wirklich gut.
Als ich in die Küche kam, war Jette ebenfalls da und stand am Herd. »Was machst du denn da?«, wollte ich irritiert von ihr wissen. Sie kochte sonst nie. »Ich habe mich um das Abendessen gekümmert.« Argwöhnisch betrachtete ich sie. Was hatte sie ausgefressen? »Nun gucke doch nicht so«, meinte sie lachend und füllte gerade Nudeln auf. »Ich wollte dir nur auch mal etwas Gutes tun.« Sie füllte noch Tomatensoße auf und wir setzten uns. Sie erzählte mir von ihrem Tag und sah seit Langem mal wieder zufrieden aus. »Warum strahlst du denn heute so? Also verstehe mich nicht falsch, ich finde das gut und das Lächeln steht dir auch super, aber gibt es einen Grund dafür?« Ich sah, wie sich rote Flecke an ihrem Hals abzeichneten.
»Eigentlich nichts. Ich habe nur eine sehr gute Note in Bio bekommen und hatte allgemein einen guten Tag.« Sie verheimlichte mir doch etwas. Das merkte ich. »Sag mal, hast du eigentlich mal wieder mit Paula geredet?«, wollte ich wissen und sie schüttelte resigniert den Kopf. »Nein, das will ich auch gar nicht.« Sie klang gleichgültig, aber das konnte doch nicht sein. »Sicher, dass du das nicht willst? Ihr seid doch beste Freundinnen. Das wollt ihr doch nicht einfach so wegschmeißen.« Sie schnaubte. »Sag das nicht mir.« Ich wollte das Thema jetzt nicht weiter vertiefen und ihr doch noch den Tag vermiesen. Deshalb sprachen wir über andere Dinge. Sie half mir sogar beim Einräumen des Geschirrspülers.
Ich betrachtete sie stumm und musste dann schmunzeln. »Also du kannst unmöglich Jette sein. Du sagst mir jetzt sofort, wo meine Tochter ist und was du mit ihr gemacht hast.« Sie lachte. Es tat mir gut, mein Kind lachen zu sehen. »Hast du vielleicht noch Lust auf eine Runde Skip-Bo?« Überrascht hielt ich inne. Eigentlich war ich ziemlich müde und wollte nur noch schlafen, aber wie oft fragte sie mich so etwas schon? Also stimmte ich zu und sie organisierte noch ein paar kleine Snacks und ich kramte das Spiel aus dem Schrank.
Nach einigen Runden mussten wir beide immer wieder herzhaft gähnen. »Ich glaube, ich habe genug für heute«, erklärte ich und packte die Karten zurück in den Karton. »Ja«, stimmte sie mir murmelnd zu. »Ich auch.« Ich verstaute das Spiel und wir räumten auch den Rest auf. Dann ging sie Zähne putzen und ich sprang danach unter die Dusche. Das heiße Wasser tat gut. Ich schäumte mich ausgiebig ein und zog Kreise über meine Haut. Danach schlüpfte ich noch einmal bei Jette ins Zimmer, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Ich klopfte und sie rief: »Komm rein.«
Ich ging auf sie zu und beugte mich zu ihr hinunter. »Schlaf schön«, raunte ich ihr leise zu. »Du auch, Mama.« Dann gab ich ihr einen Kuss und wollte gerade das Zimmer verlassen, da rief sie ziemlich aufgeregt: »Oh, Mist. Ich habe etwas vergessen.« Sie sprang auf und lief zu ihrem Rucksack. »Hm, wo habe ich den denn nur gelassen?«, überlegte sie laut und legte die Stirn in Falten. »Ach, hier.« Sie zog einen Zettel aus einem Hefter, der nun leicht zerknittert war. »Wie wäre es denn, wenn du mal ein wenig mehr Ordnung hältst?«, neckte ich sie und sie streckte mir die Zunge entgegen.
»Hier, der ist für dich. Den sollen wir am besten morgen schon wieder mitbringen.« Ich nahm ihn stirnrunzelnd in die Hand und las. Es war ein kleiner Zettel an die Eltern. Kein Elternteil wurde in diesem kurzen Schreiben persönlich angesprochen, es war allgemein gehalten. Ich überflog den Zettel und mein Blick blieb an der Unterschrift hängen. Dort stand »Helene Sturm« in einer feinen sauberen Schrift. Zärtlich strich in mit meinem Finger darüber und Jette riss mich aus meinen Gedanken. »Und? Hast du Lust?« Irritiert sah ich sie an. »Was meinst du?«, wollte ich wissen. Sie rollte mit den Augen. »Na auf die Eishalle. Schlittschuhlaufen.« Schnell las ich den Text nun gründlicher. Frau Sturm suchte Begleitung für die Eishalle. »Also meinetwegen kannst du gern mitkommen. Mir ist das nicht peinlich oder so.«
Ich hatte die Möglichkeit, einen Tag mit Frau Sturm zu verbringen. Ob das so eine gute Idee war? Innerlich kämpfte ich mit mir. Was sollte ich tun? »Es ist relativ kurzfristig. Wir wollen am 14. November fahren. Du musst nur deine Erlaubnis geben und wenn du selbst mitkommen willst, dann dort unten ankreuzen. Vorausgesetzt du hast da Zeit.« Sie zeigte mit ihrem Finger auf das Kästchen und ich war hin- und hergerissen. Ich dachte nicht weiter nach. Ich hatte genug Überstunden, ich konnte auch mal einen Tag zu Hause bleiben. Und schon war mein Kreuz gesetzt. Als sie den Zettel wieder einpackte, fragte ich mich, was ich getan hatte. Nun würde ich ihr einige Stunden nah sein können. Und nur der Gedanke daran raubte mir den Atem.
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Herzgeflüster || gxg
RomanceHanna ist eine alleinerziehende Mutter. Ihre Tochter Jette steckt mit ihren 14 Jahren mitten in der Pubertät und ständig gibt es Ärger in der Schule. Am Anfang des Schuljahres prügelt sie sich auf dem Pausenhof und ihre Lehrerin, die Hanna noch nich...