Kapitel 29

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Der nächste Morgen war unbeschreiblich. Trotz der Umstände fühlte ich mich in diesem Moment angekommen, als ich in Helenes schlafendes Gesicht sah. Sie sah selbst beim Schlafen wunderschön aus. Ich konnte noch gar nicht realisieren, dass wir nun des Öfteren zusammen einschlafen konnten, denn Jette hatte mein Outing sehr gut aufgenommen. Ich blieb noch eine Weile liegen, der Wecker hatte noch nicht geklingelt. Dann regte sie sich. Langsam öffnete sie die Augen und lächelte. »Guten Morgen«, hauchte sie mir zu. »Guten Morgen«, entgegnete ich. Sie rieb sich die Augen, dann küsste sie mich und schlang ihre Arme um meinen warmen Körper. »Wie lange haben wir noch?«, wollte sie wissen und schloss wieder die Augen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass wir noch neun Minuten hatten, bis der Wecker klingelte. »Besser als nichts.« Die nächsten neun Minuten sprachen wir kein Wort, wir genossen einfach nur diese Vertrautheit zwischen uns. Bis der Wecker klingelte, dann quälten wir uns aus dem Bett.

Wir frühstückten, machten uns fertig und fuhren dann los. Als wir die Schule betraten, sahen uns alle an. Und sie tuschelten. »Ob sie von dem Bild wissen? Hatte er doch eine Kopie und hat sie jetzt veröffentlicht?«, fragte Jette und wurde ganz blass. »Nein, das würde er nicht tun. Damit würde er sich nur ein Eigentor schießen und die Schlinge um seinen Hals würde sich noch mehr zuschnüren.« Wir gingen einfach weiter. Zu Jettes Spind. Und dann sahen wir, warum alle so gestarrt hatten. An ihrem Spind klebte ein Zettel. Sie riss ihn ab und drehte sich wütend um. »Was steht auf dem Zettel?«, wollte ich wissen, aber sie marschierte an uns vorbei. Mitten auf dem Schulhof blieb sie stehen und brüllte: »Um eines klarzustellen. Ja, es stimmt, was auf dem Zettel steht. Meine Mutter ist lesbisch. Na und? Da müsst ihr gar nicht so blöd gucken. Es ist heutzutage keine große Sache mehr. Wenn ihr mir etwas zu sagen habt, sagt es mir persönlich. Ach, ja. Frau Sturm ist die Freundin meiner Mutter. Auch das stimmt. Und ich habe damit absolut kein Problem, denn sie ist eine tolle Frau.« Ihr Gesicht war ganz rot angelaufen und der Schulhof verstummte. So still war es hier noch nie gewesen.

Plötzlich klatschte jemand in die Hände und trat aus der Masse heraus. Es war Paula. Jettes ehemals beste Freundin. Nach und nach klatschten auch die anderen Jugendlichen. Paula kam auf uns zu und sagte: »Jette, es tut mir alles so leid. Wir haben unsere Freundschaft kaputt gemacht nur wegen... Na, du weißt schon warum. Ich finde, dass deine Ansprache klasse war. Wollen wir uns nicht wieder vertragen?« Jette sagte nichts, sie umarmte Paula einfach. Alle klatschten nur noch lauter. »Kein Mann wird mehr zwischen uns stehen, ok?« Glücklich nickte Jette und auch einige Tränen liefen an ihrer Wange hinunter. Plötzlich schrie Paula laut in die Masse: »Für Homophobie ist an dieser Schule kein Platz. LOVE IS LOVE, LOVE IS LOVE!«

Die anderen Schüler brüllten zustimmend: »LOVE IS LOVE, LOVE IS LOVE!« Ich war total überwältigt. Er hatte mit seiner Aktion genau das Gegenteil bewirkt. Ein Mädchen kam auf uns zu und vertraute Jette an: »Ich habe auch zwei Mamas. Das ist ganz cool.« Einige kamen an und entschuldigten sich für das Tuscheln. Sie hatten es nicht böse gemeint, konnten nur den Gerüchten nicht glauben. Plötzlich stieß der Direktor dazu. Erstaunt sah er sich um. »Was ist denn hier los?« wollte er wissen. Alle wurden wieder ruhig und starrten uns erwartungsvoll an. Dann sagte er: »Ach, Frau Rabsch. Das ist ja gut, dass Sie hier sind. Ich wollte sie sowieso anrufen.« Etwas verlegen kratzte er sich am Kinn. »Wir waren gerade auf dem Weg zu Ihnen, Herr Steiner«, erklärte Helene. Verdutzt sah er uns an. »Ok, dann kommen Sie bitte mit in mein Büro. Und hier auf dem Schulhof ist wieder Ruhe.« Paula griff nach meiner Hand und fragte: »Was ist los?« Ich winkte ab und flüsterte ihr zu: »Es geht um Herrn Meyer. Ich habe große Scheiße gebaut. Ich erzähle es dir später.« Sie sah mich entgeistert an. Wir folgten Herrn Steiner und setzten uns dann.

»Warum wollen Sie mit mir sprechen?« Er blickte uns an. Alle nacheinander. »Es geht um Herrn Meyer«, fing Helene das Gespräch an. Und dann erzählte sie ihm die Story ausführlich. Das mit dem Handy klauen ließ sie außen vor. Er musste nichts von unserer strafbaren Handlung wissen. Niemand unterbrach sie. Dann kam sie zum Ende. »Dann steht Aussage gegen Aussage«, meinte Herr Steiner. »Wie meinen Sie das?«, fragte ich irritiert. »Er war bei mir. Und er hat mir gesagt, dass Jette ihm das Bild geschickt hat, er es aber natürlich sofort gelöscht hat. Er hat gesagt, dass er Jette gesagt hat, dass das nicht geht. Dass er ihr Lehrer ist und sie seine Schülerin. Er hätte wohl keine falschen Signale gesendet. Er hätte sich davon distanziert und kam deshalb zu mir.« In mir brodelte es. Hatte er das wirklich getan? Wenn ich den in die Finger bekam, konnte der sich auf etwas gefasst machen.

»Das ist doch absurd«, meinte Helene fassungslos. Nun meldete sich Jette zum ersten Mal zu Wort: »Nein, so war es nicht. Er hat mir gesagt, dass es ihm gefällt. Hier in der Schule. Ich schwöre. Er versucht jetzt nur, es alles anders aussehen zu lassen.« Sie fing an zu weinen. Man merkte ihr ihre Verzweiflung an. »Ich weiß doch, dass es ein Fehler war. Das sehe ich ein, ich hätte es nie tun dürfen. Aber er hat es wirklich gesagt.« Helene appellierte an ihn: »Herr Steiner, das ist eine ernstzunehmende Sache. Ich würde Sie in diesem Fall ganz sicher nicht belügen. Was hätte ich davon? Er ist in mich verliebt und würde alles dafür geben, dass ich an seiner Seite bin. Er ist krank. Das ist kein normales Verhalten. Er hat mich erpresst. Und anscheinend hat er sich noch an Jettes Bild erfreut.« Hinter seiner Stirn arbeitete es. Dann sagte er schließlich: »Ich glaube Ihnen das, aber was soll ich tun? Wir müssen die Polizei hinzuziehen. Ohne Beweise kann ich ihn nicht einfach der Schule verweisen. Das ist nicht böse gemeint, Jette. Aber es gibt nur dich als Zeugen. Ich bin auf deiner Seite und ich werde alles tun, um dich zu unterstützen.« Kurz war es still im Raum. Ja, wir mussten die Polizei rufen. Ihn nur von der Schule zu verweisen, würde nicht reichen. Er sollte seine gerechte Strafe erhalten.

»Am besten rufe ich jetzt die Polizei. Mir sind die Hände gebunden. Die werden die Sache aufklären und wir haben ja auch noch Ihre Aussage, Frau Sturm.« Er wollte gerade zum Telefon greifen, da klopfte es. Paula steckte nervös den Kopf durch die Tür. Wir alle sahen sie an und sie betrat den Raum. »Ich... Also ich bin mir nicht sicher, ob es gerade angebracht ist. Aber das Gespräch hier geht doch um Herrn Meyer, oder?« Ich nickte mit dem Kopf. Was hatte sie hier zu suchen? Wahrscheinlich war sie noch immer in ihn verliebt, aber sie wusste ja auch noch nichts von seinem Verhalten. »Hat es etwas mit einem Bild zu tun?«, wollte sie wissen und trat mit dem einen Fuß auf den anderen. Ihr setzte die Situation sichtlich zu. »Woher weißt du das?«, flüsterte Jette entsetzt. Dann antwortete Paula leise: »Weil er von mir auch eins hat.«

Herzgeflüster || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt